Gabriels Europastrategie

Wer wissen will, welch reaktionäres Programm sich hinter dem sogenannten „Gerechtigkeitswahlkampf“ des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz und einer möglichen rot-rot-grünen Bundesregierung verbirgt, sollte den Gastbeitrag von Sigmar Gabriel zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge in der Rheinischen Post lesen. Unter dem Titel „Für ein stärkeres Europa kämpfen“ plädiert der sozialdemokratische Außenminister und frühere SPD-Chef für die innere und äußere Aufrüstung des Kontinents, die Stärkung der „Festung Europa“ und die Fortsetzung der Austeritätspolitik.

Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sei es an der Zeit, „sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass wir in Europa nicht selbst die Verantwortung für unsere Sicherheit tragen. Der Satz ist richtig, dass Europa endlich erwachsen werden muss“, schreibt Gabriel. Die Partnerschaft mit den USA und die Nato seien „zwar die Grundpfeiler der transatlantischen Gemeinschaft“. Aber die Europäische Union müsse „in der Lage sein, Krisen und Konflikte in ihrer Nachbarschaft eigenständig zu bewältigen. Erste Schritte sind getan, weitere müssen folgen.“

Gabriel weiß, dass eine unabhängigere und aggressivere europäische Kriegspolitik unter deutscher Führung auch die innere Militarisierung des Kontinents erfordert. Europa müsse „bei der inneren Sicherheit besser werden“, fordert er deshalb. Als Begründung für die Errichtung eines europaweiten Polizeistaats bemüht er zynisch den angeblichen „Kampf gegen den Terrorismus“: „Hier können, hier müssen wir besser werden, durch bessere Zusammenarbeit und mehr Austausch. Die Menschen in Europa sollen keine Angst haben müssen. Sei es in Brüssel, Paris, Berlin oder anderswo – Freiheit und Sicherheit gehen Hand in Hand.“

Dass es Gabriel in Wirklichkeit weder um „Freiheit“ noch um „Sicherheit“ geht, unterstreicht sein Plädoyer für den Ausbau der Festung Europa. Wir brauchen „einen Schutz europäischer Außengrenzen, der diesen Namen wirklich verdient“. Innerhalb Europas hätten „Grenzen viel von ihrer Bedeutung verloren“, und das sei „eine großartige Errungenschaft. Aber starke Außengrenzen sind es auch.“ Der Außenminister spricht dabei offen aus, gegen wen diese gerichtet sind: „Wir sehen, inmitten der Krisen in unserer Nachbarschaft und der Flüchtlingsströme, wie wichtig ein effektiver Schutz unserer Grenzen ist.“

Gabriel wäre ein schlechter Sozialdemokrat, wenn er die brutale Abwehr der verzweifelten Menschen, die aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens und Nordafrikas fliehen und zu tausenden im Mittelmeer ertrinken, nicht mit heftigen Angriffen auf die europäische Arbeiterklasse verbinden würde. Alle EU-Mitglieder müssten bereit sein, „die notwendigen Reformen zur Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit anzugehen“, fordert er.

Seine Forderung nach „europäischer Einigung“ begründet Gabriel folgendermaßen: „In dieser krisengeschüttelten Welt, in der so viele Gewissheiten abhanden gekommen sind, können die Staaten Europas ihre Interessen und Werte nur erfolgreich verteidigen, wenn sie mit einer Stimme sprechen. Kein Land Europas, auch nicht Deutschland, kann das mehr alleine. Wir sind zusammen ungleich mehr und ungleich stärker als die Summe aller einzelnen Staaten. Dafür müssen wir enger zusammenrücken.“

Um es auf den Punkt zu bringen: nur wenn Deutschland den Kontinent als „Hegemon“ und „Zuchtmeister“ (Herfried Münkler) zusammenhält, kann es weltpolitisch eine Rolle spielen.

Gabriel verfolgt damit die alten deutschen Großmachtstrategien, die bereits unter seinem Vorgänger Frank-Walter Steinmeier (SPD) wieder Einzug ins Außenministerium fanden. Auch das Kaiserreich und das Dritte Reich hatten versucht, Europa unter ihrer Vorherrschaft zu einen, um ihre geopolitischen Interessen zu verfolgen.

So hatte Walter Rathenau, der damalige Chef der deutschen „Kriegsrohstoffbehörde“, zu Beginn des ersten Weltkriegs erklärt: „Die endgültige Führerschaft Europas [ist] unentbehrlich, weil eine aufstrebende Zentralmacht wie Deutschland immer wieder unter der Eifersucht der Nachbarn zu leiden haben wird, sofern sie nicht die Kraft hat, diese Nachbarn organisch anzugliedern. […] Es ist die deutsche Aufgabe, den alt-europäischen Körper zu verwalten und zu stärken.“

Und Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop schrieb in den Richtlinien für einen im April 1943 geschaffenen „Europa-Ausschuss“: „Feststehend ist […] schon heute, dass das künftige Europa nur bei der voll durchgesetzten Vormachtstellung des Großdeutschen Reiches Bestand haben kann. Die Sicherung dieser Vormachtstellung ist demnach als der Kern der künftigen Neuordnung anzusehen.“

Kurze Zeit später stellte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch fest: „Es muss das Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. Europa kann aber eine klare Organisation nur durch die Deutschen erfahren. Eine andere Führungsmacht ist praktisch nicht vorhanden.“

Um den Kontinent erneut unter deutsche Führung zu bringen, bereitet sich die herrschende Klasse darauf vor, mit allen demokratischen Einschränkungen aufzuräumen, zu denen sie sich nach zwei verlorenen Weltkriegen zähneknirschend bekennen musste. Laut einem Bericht der Rheinischen Post hat Gabriel auf einer verteidigungspolitischen Tagung der SPD-Fraktion dafür plädiert, den im Grundgesetz festgeschriebenen Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr aufzuweichen. So dürfe etwa die Beteiligung der EU an einem Militäreinsatz nicht am Einspruch des Bundestags scheitern, „weil es vielleicht kurz vor einer Wahl ist“. Dies sei ein Thema, „das die Politik in unserem Land herausfordern wird“, fügte der Außenminister hinzu.

Ein Papier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) mit dem Titel „Europa – wo sind deine Legionen“ fordert eine von Deutschland aufgestellte „Europa-Division“ von 20.000 Soldaten als Ausgangspunkt für eine von Berlin kontrollierte europäische Armee. Schließlich zähle „beim Thema Verteidigung hauptsächlich eines: die tatsächlich vorhandenen militärischen Fähigkeiten. Worte über Stärke und Verantwortung beeindrucken weder Moskau noch Washington.“

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