Perspektive

Großbritannien leitet offiziell EU-Austritt ein

Die britische Premierministerin Theresa May hat Artikel 50 des EU-Vertrags in Kraft gesetzt und damit offiziell den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (Brexit) eingeleitet. Dieses Ereignis stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der EU dar: Großbritannien ist bisher der erste EU-Mitgliedsstaat, der ein Austrittsverfahren einleitet.

Der Brexit ist Ausdruck der zentrifugalen Kräfte, die die Europäische Union zerreißen. Er offenbart, dass alle Versuche, im Rahmen des kapitalistischen Systems die nationalen Gegensätze zu überwinden, die bereits zu zwei Weltkriegen geführt haben, gescheitert sind.

Durch die Folgen des Brexit drohen nicht nur der britischen Arbeiterklasse große Gefahren, sondern auch den Arbeitern und Jugendlichen in ganz Europa. May behauptet, sie handle „im Einklang mit den Wünschen der britischen Bevölkerung“, doch hinter dieser Rhetorik bereiten die Tories eine Offensive gegen Arbeitsplätze, Löhne, Arbeitsbedingungen und grundlegende Sozialleistungen vor. Ihr Ziel ist es, „Thatchers Revolution“ zu beenden, wie sie es nennen, und damit alle Einschränkungen für die Unternehmen abzuschaffen. Die britische Tageszeitung Daily Telegraph sprach in diesem Zusammenhang von einem „Freudenfeuer der gesamten EU-Bürokratie“.

Die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis von Hunderttausenden EU-Bürgern in Großbritannien und britischen Staatsbürgern in Europa ist bedroht. Zynisch wird sie als Druckmittel in Verhandlungen über die „Scheidungsvereinbarung“ benutzt, bei der es um Milliarden Euro geht.

Der Brexit hat die rechten Kräfte, wie den Front National in Frankreich, in ganz Europa gestärkt. Europa droht in konkurrierende Nationalismen zu zerfallen. Die fremdenfeindlichen und xenophoben Stimmungen, die einen EU-Austritt befeuern, können sogar zum Auseinanderbrechen Großbritanniens führen. Die Scottish National Party fordert ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, während Sinn Fein und die anderen großen Parteien der Republik Irland ein Referendum über die Vereinigung Irlands erwägen.

Die Welle nationalistischer Reaktion, die sich im Brexit zeigt und durch ihn angeheizt wird, fand ihren bisherigen Höhepunkt im Wahlsieg von Donald Trump in den USA. Seine eigene protektionistische „America First“-Politik bezeichnete er als „Brexit plus, plus, plus“. Trump strebt ein Bündnis mit Mays Regierung und den rechtsextremen Parteien Europas an, um den Zerfall der EU zu befördern und Deutschland als wirtschaftlichem Rivalen der USA zu schwächen.

Diese nationalen und inner-imperialistischen Gegensätze, die angeblich durch die Vereinigung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg der dunklen Vergangenheit angehörten, bringen einmal mehr die Gefahr eines großen Kriegs zurück. Der Journalist Martin Wolf warnte in der Financial Times vor den Folgen des Brexit für die britische Bourgeoisie: „Dass Europa wohlhabender stabiler, einflussreicher, demokratischer und liberaler wäre, wenn die EU in 28 Nationalstaaten zerfallen würde, kann nur jemand glauben, der keine Ahnung von Geschichte hat. Das System der Nationalstaaten hat sich immer wieder als instabil erwiesen. Angesichts des zunehmenden Rückzugs der USA könnte der Zusammenbruch der EU zu einem Kampf zwischen Deutschland und Russland um die Hegemonie führen, oder noch schlimmer, zu einem Pakt zwischen den beiden Staaten auf Kosten ihrer schwächeren Nachbarstaaten.“

Diese Ereignisse sind ein Armutszeugnis für pseudolinke Gruppen wie die Socialist Party oder die Socialist Workers Party. Sie haben dazu aufgerufen, für einen „linken Austritt“ („Left Leave“) zu stimmen und fahren fort, die europafeindliche Botschaft der Tory-Rechten mit „linken“ Phrasen zu bemänteln. Allerdings sind auch diejenigen für das jetzige Ergebnis verantwortlich, die mit dem Argument, der Rechtsentwicklung entgegenzutreten, für einen Verbleib in der EU geworben haben.

Unter den britischen Brexit-Gegnern ist es mittlerweile üblich geworden, die Millionen Arbeiter, die für den Brexit gestimmt haben, für ihre angebliche Ignoranz und Dummheit zu attackieren. Angeblich hätten sie alle mit der fremden- und immigrantenfeindlichen Haltung der UK Independence Party übereingestimmt. Daraus ergibt sich unausweichlich der Schluss, dass die Arbeiterklasse auch für den Aufstieg von rechten Demagogen wie Le Pen oder Trump verantwortlich ist.

Diese Behauptung stellt die Realität auf den Kopf. Es war gerade die Verteidigung der EU durch die Austrittsgegner, die viele Arbeiter in die Arme der nationalistischen Rechten getrieben hat.

Sie vermieden jede Kritik an der EU, abgesehen von ein paar symbolischen Forderungen nach „Reformen“. Ihre Kampagne appellierte fast ausschließlich an das Großkapital und die sozialen Sorgen eines Teils der kleinbürgerlichen Eliten. Für die Wut der Arbeiterklasse über Austerität, Armut und soziales Elend hatten sie nichts übrig. Im Gegenteil: Sie waren immer bereit, die Rolle der EU bei ebenso verheerenden Angriffen in ganz Europa zu entschuldigen.

Daneben propagierten sie ein Bündnis zwischen den Tories unter Premierminister David Cameron und der Labour Party zusammen mit dem Trade Union Congress. Die Labour Party hat jedoch jahrzehntelang eine Spar- und Kriegspolitik betrieben, während die Gewerkschaften jeden Kampf der arbeitenden Bevölkerung verrieten.

Der Brexit zeigt vor allem, dass es die verkommene pro-kapitalistische Politik von Labour, den Gewerkschaften und ihren internationalen Partnern war, die den Rechten die politische Initiative überlassen haben. Die schärfste Anklage gegen die Politik der pro-europäischen Remain-Kampagne sind die Verhältnisse in Griechenland. Dort hat Brüssel ein Spardiktat nach dem anderen durchgesetzt und so die griechische Wirtschaft zerstört und Massen von Arbeitern in die Armut gestürzt.

Nur ein Jahr vor dem Brexit-Referendum stimmte die griechische Arbeiterklasse in einem Referendum eindeutig gegen das Spardiktat der EU. Doch der Ministerpräsident der pseudolinken Syriza-Regierung Alexis Tsipras widersetzte sich diesem Mandat nur wenige Tage später, um Griechenland weiterhin in der EU zu halten.

Noch grundlegender ist jedoch, dass die Parteien, die früher behaupteten, sie würden für die Arbeiterklasse sprechen, durch ihre jahrzehntelange Zurückweisung des Sozialismus den politischen Rahmen geschaffen haben, in dem das Referendum stattfand.

Die Austrittsgegner behaupteten, die EU sei weiterhin ein Garant der europäischen Einheit und eine Bastion des Fortschritts gegen Nationalismus und Krieg.

Trotzkis Einschätzung, solche Behauptungen seien „Utopien“, hat sich vollauf bestätigt. Er erklärte 1917: „Die demokratisch-republikanische Vereinigung von Europa, eine Vereinigung, die wirklich die freie nationale Entwicklung garantieren kann, ist nur auf dem Weg des revolutionären Kampfes gegen den Militarismus, Imperialismus, dynastischen Zentralismus mit dem Mittel der Aufstände in einzelnen Ländern und dem darauf folgenden Zusammenfließen aller Erhebungen zu einer allgemeinen europäischen Revolution möglich.“

Der derzeitige Zustand der EU hat diese Einschätzung bestätigt.

Die Socialist Equality Party erklärte in ihrer Stellungnahme „Für einen aktiven Boykott des Brexit-Referendums!“: „Die EU bricht auseinander und kann nicht wieder auferstehen. [...] Doch im Rahmen des Kapitalismus konnte diese Einheit nie etwas anderes sein als die Vorherrschaft der stärksten Nationen und Konzerne über den Kontinent und seine Bevölkerung. Die nationalen und sozialen Gegensätze wurden auf diese Weise nicht abgeschwächt, sondern nahmen am Ende bösartige Formen an.“

Sowohl die Kampagne der Befürworter als auch die der Gegner des Austritts wurde von Teilen der herrschenden Klasse angeführt, die „für mehr Kürzungen, rabiate Maßnahmen gegen Einwanderer und die Zerstörung von Arbeiterrechten eintreten.“ Daher rief die SEP Arbeiter und Jugendliche zu einem aktiven Boykott des Referendums auf.

Wir erklärten, die Arbeiterklasse müsse „ihr eigenes internationalistisches Programm vertreten, um sich in ganz Europa zur Verteidigung von Lebensstandard und demokratischen Rechten zusammenzuschließen. Die Alternative der Arbeiter zum Europa der transnationalen Konzerne sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“.

Durch ihre klare politische Ablehnung gegenüber allen Fraktionen der herrschenden Klasse ebnet die SEP der Entwicklung eines unabhängigen politischen Kampfs der britischen Arbeiterklasse den Weg, der nur als „Teil einer europaweiten Gegenoffensive der Arbeiterklasse“ erfolgreich sein kann.

Die sozialistische und internationale Perspektive, für welche die SEP und ihre europäischen und internationalen Schwesterparteien kämpfen, ist heute das einzige Gegenmittel gegen das nationalistische Gift, das in Europas Poren eindringt.

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