Vortragsreihe zur Russischen Revolution

Weltkrieg und Weltrevolution: 1914–1917

Wir veröffentlichen hier drei Vorträge im Rahmen der Online-Vortragsreihe des Internationale Komitees der Vierten Internationale (IKVI) zur Russischen Revolution.  Die ersten fünf Vorträge dieser Reihe sind unter dem Titel „Warum die Russische Revolution studieren“ im Mehring Verlag erschienen. Der Band kann hier für 10 EUR bestellt werden.

Nick Beams spricht über seinen bevorstehenden Vortrag „Weltkrieg und Weltrevolution: 1914–1917“

Ursache des Ersten Weltkriegs im August 1914 waren die grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Nationalstaatensystems. Die opportunistischen Anführer der Zweiten Internationale brachen mit dem Grundsatz der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse und unterstützten den Krieg. Während Millionen auf den Schlachtfeldern starben, führte Lenin den Kampf gegen den Verrat der Zweiten Internationale. Er war davon überzeugt, dass mit der Katastrophe des imperialistischen Krieges auch die Voraussetzungen für die sozialistische Weltrevolution geschaffen wurden.

Krieg und Revolution: 1914-1917

Dieser Vortrag wird von Nick Beams gehalten, ein Gründungsmitglied der australischen Sektion des Internationalen Komitees und anerkannter Experte für die marxistische Theorie des Imperialismus.

Mein Vortrag zu Krieg und Revolution 1914-1917 dreht sich um einen sehr wichtigen Punkt, den David North bei der Eröffnung dieser Vortragsserie aufbrachte.

Im siebten von seinen zehn Gründen, warum die Russische Revolution studiert werden muss, heißt es:

Die Russische Revolution verdient ein gründliches Studium als entscheidendes Stadium in der Entwicklung der wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie. Mit der historischen Leistung der Bolschewiki von 1917 wurde der innere Zusammenhang zwischen der Philosophie des wissenschaftlichen Materialismus und der revolutionären Praxis sowohl bewiesen als auch auf eine neue Stufe gehoben.

Diese Herangehensweise ist aus drei zusammenhängenden Gründen äußerst wichtig.

Zunächst ist eine materialistische Herangehensweise der Schlüssel, um das Wesen des Ersten Weltkriegs zu verstehen, seine Wurzeln und Ursachen wie auch seine anhaltende Bedeutung für unsere heutige Zeit.

Zweitens können wir hierdurch die objektiven Ursachen der Russischen Revolution ausmachen, die denselben Veränderungen im globalen Kapitalismus entsprangen, die auch den Krieg hervorgebracht hatten.

Drittens können wir somit den wesentlichen Inhalt der revolutionären Strategie begreifen, die vor allem auf Lenin zurückging und die erfolgreiche Machteroberung durch die Arbeiterklasse unter Führung der Bolschewiki im November 1917 zum Ergebnis hatte.

Diese zunächst möglicherweise noch etwas abstrakt erscheinenden Punkte werden hoffentlich klarer, wenn wir uns auf die Spur der Ereignisse selbst begeben und Lenins politischer Analyse folgen.

Krieg und Revolution: 1914-1917

Die objektiven Ursachen des Ersten Weltkriegs

Wenden wir uns zunächst der Frage des Ersten Weltkriegs zu. Mehr als 100 Jahre nach seinem Ausbruch am 4. August 1914 bleibt die Frage nach den Ursachen weiterhin umstritten. Der Grund dafür ist die Bedeutung dieser Analyse für heutige Ereignisse.

Es gibt, grob gesagt, zwei gegensätzliche Positionen – die des Marxismus und verschiedene Formen der bürgerlich-liberalen Geschichtsschreibung.

Die marxistische Analyse lautet im Kern, dass der Krieg das Ergebnis von Konflikten war, die ihre Wurzeln im objektiven und unversöhnlichen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise haben. Dieser Widerspruch ist der zwischen dem globalen Charakter der Wirtschaft und dem Nationalstaatensystem, auf dem das Profitsystem aufbaut.

Alle entgegengesetzten Theorien gehen letztlich davon aus, dass der Krieg aus politischen Fehlern, Fehleinschätzungen und Fehlurteilen verschiedener bürgerlicher Politiker hervorging. Man hätte ihn demnach verhindern können, wenn sich nur klügere Köpfe durchgesetzt hätten.

Mit diesen gegensätzlichen Einschätzungen sind direkt politische Fragen verbunden. Wenn die marxistische Analyse richtig ist, dann folgt daraus unmittelbar, dass Krieg und die Gefahr der Massenvernichtung nur zu beenden sind, indem das kapitalistische System – das auf Profit und Nationalstaaten beruht – durch eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ersetzt wird.

Darum haben bürgerliche Politiker, nachdem sie über vier Kriegsjahre hinweg die größte Zerstörung in der Menschheitsgeschichte organisiert hatten, von Anfang an versucht, sich und das kapitalistische System, das sie vertraten, von jeder Verantwortung freizusprechen. Der Krieg entstand beinah unvermeidlich, folgt man dem damaligen britischen Premierminister Lloyd George. Ihm zufolge war der Krieg etwas, in das die Großmächte „hineinschlitterten oder, besser gesagt, hineinstolperten und -fielen“. „Die Nationen schlitterten über den Rand in den brodelnden Hexenkessel des Krieges, ohne eine Spur von Besorgnis oder Bestürzung.“ [1]

Im Gefolge der kapitalistischen Politiker gaben sich auch bürgerliche Historiker große Mühe, die marxistische Analyse zu widerlegen, dass mit dem Ersten Weltkrieg die Widersprüche des Weltkapitalismus gewaltsam aufgebrochen waren. Laut dem britischen Historiker Niall Ferguson zum Beispiel gibt es kaum Beweise dafür, dass die Unternehmer Krieg wollten, vielmehr hätten sie ihn sogar wegen seiner Folgen gefürchtet. Daher, meint er, kann die marxistische Interpretation von den Ursprüngen des Krieges „gemeinsam mit den politischen Regimes, die sie am eifrigsten hegten und pflegten, auf den Müllhaufen der Geschichte“. [2] Darauf könnte man erwidern, dass Unternehmer auch keine Rezessionen und Wirtschaftskrisen möchten, was sie aber nicht verhindert.

Wenn es aber alles ein Ergebnis von Fehleinschätzungen und Fehlurteilen war, warum ereignete sich dann kaum zwei Jahrzehnte nach dem „Krieg, der alle Kriege beendet“ eine noch größere Katastrophe mit dem Ausbruch der Zweiten Weltkriegs 1939? Und warum befindet sich die Welt heute in einer Situation, die fatal der Lage ähnelt, die beiden Weltkriegen vorausging – zahllose Konfliktherde (in Osteuropa, dem Südchinesischen Meer, in Nahost, um nur einige zu nennen) und wachsende Spannungen zwischen den kapitalistischen Großmächten?

Der Marxismus beruft sich in seiner Analyse auf das Diktum des preußischen Militärwissenschaftlers von Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.

Wie also waren die politischen Beziehungen in der Periode beschaffen, die dem Ersten Weltkrieg vorausging und diesen hervorbrachte?

Das kann nur durch eine wissenschaftliche, d.h. materialistische Analyse erfasst werden, nach der die politischen Beziehungen letztlich Ausdruck der wirtschaftlichen Entwicklung in der kapitalistischen Ökonomie sind.

Natürlich treffen kapitalistische Politiker Entscheidungen, so auch in den Krieg zu ziehen. Es gibt kein ökonomisches Gesetz, nach dem an einem bestimmten Datum ein Krieg ausbrechen muss.

Aber ihre Entscheidungen finden innerhalb des politischen und wirtschaftlichen Rahmens statt, in dem sie sich bewegen und durch den sie die Interessen des kapitalistischen Nationalstaats, den sie führen, wahren wollen. An einem bestimmten Punkt, ob herbeigesehnt oder nicht, stellt sich die Entscheidung zum Krieg für sie als das geringere Übel dar.

Wenn wir die breiteren Zusammenhänge betrachten, so zerfällt die Periode vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in zwei Teile.

Die Französische Revolution 1789-1793 war der Anbruch einer neuen historischen Epoche: Mit ihr begann der Umsturz der überkommenen feudalistischen Regimes, sie machte den Weg frei für die Entwicklung kapitalistischer Nationalstaaten.

In der Zeit von 1789 bis 1871 wurde durch eine Reihe von nationalen Kriegen und Revolutionen der Rahmen für die modernen kapitalistischen Nationalstaaten geschaffen. Die Entwicklung kulminierte in der Gründung des deutschen Nationalstaats durch Bismarck am Ende des deutsch-französischen Kriegs.

Zusammen mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, der mit dem Sieg des industriellen Nordens endete, boten diese Nationalstaaten ein mächtiges Sprungbrett für die Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus. Dieser Prozess leitete wiederum eine neue Epoche ein.

Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und das erste Jahrzehnt im 20. Jahrhundert waren nicht von nationalen Kriegen gegen die Überreste des Absolutismus geprägt, sondern vom Kampf der aufstrebenden kapitalistischen Großmächte um die Kolonien. Afrika war beispielsweise im Jahre 1875 noch kaum kolonialisiert. In den 25 Jahren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Kontinent dann fast vollständig unter Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Belgien aufgeteilt.

Die politische Struktur der Welt wurde von diesen wirtschaftlichen Entwicklungen verändert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Großbritannien die vorherrschende kapitalistische Macht auf der Weltbühne gewesen. Großbritannien war führend in der Warenproduktion und beherrschte die Meere.

Doch neue Rivalen wuchsen heran: In Europa war dies Deutschland, das einen gewaltigen Industrialisierungsprozess durchlebte, im Osten Japan und im Westen waren es die Vereinigten Staaten, die in den Kampf um Kolonien mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 eintraten und nachfolgend die Philippinen unterwarfen.

Jede einzelne unter den kapitalistischen Großmächten suchte, um es mit dem damaligen deutschen Wahlspruch zu sagen, ihren „Platz an der Sonne“. Doch dabei gerieten sie aneinander.

Einmal fragte ein deutscher Diplomat sein britisches Gegenüber, ob die Regierung Ihrer Majestät Einwände gegen die Errichtung deutscher Kolonien habe. Der britische Diplomat erwiderte, dass Whitehall mit dem Aufbau deutscher Kolonien vollkommen einverstanden sei, wenn diese nicht an britische Kolonien angrenzten oder zwischen ihnen lägen. Mit anderen Worten, schloss der deutsche Diplomat: „Nirgendwo.“

Die Spannungen zwischen den kapitalistischen Großmächten verschärften sich. Ein Höhepunkt der innerimperialistischen Rivalitäten war die so genannten Faschoda-Krise 1898, als sich britische und französische Truppen am oberen Nil gegenüberstanden und es beinahe zum Krieg zwischen den Großmächten gekommen wäre.

Ein anderer Streit brach aus, als der deutsche Kaiser seine Unterstützung für die Buren in Südafrika erklärte. Der Balkan wurde unter zum Pulverfass, da nationale Bestrebungen der Herrschaft des Kaisers von Österreich-Ungarn entgegenstanden. An dem Konflikt unmittelbar beteiligt war auch Russland, das seine eigenen Interessen gegenüber dem Westen stärken wollte.

In den Regierungssitzen bemühte man sich, die neue Periode und ihre Folgen einzuschätzen.

Im Jahre 1907 formulierte der Beamte im britischen Außenministerium Eyre Crowe ein längeres Memorandum für den damaligen Außenminister Lord Grey. Crowe sollte einschätzen, ob Deutschland in der gegebenen Situation, in der die deutsche Wirtschaft und der deutsche Einfluss insgesamt stark expandierten, eher friedliche oder kriegerische Absichten habe.

Er kam zu dem Schluss, dass dies letztendlich unerheblich sei, da die Entwicklung selbst und die zunehmenden Interessen Deutschlands weltweit die Interessen des britischen Empire gefährdeten. Daher müsse sich Großbritannien unabhängig von den deutschen Absichten auf einen Krieg vorbereiten. Dieser Krieg brach nur sieben Jahre später aus.

Das unmittelbare Ereignis, das den Ersten Weltkrieg 1914 auslöste – die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand durch einen serbischen Nationalisten im bosnischen Sarajevo am 28. Juni – war eher zufällig. Was darauf folgte, hatte mit Zufall nichts zu tun.

Die Regierung Österreichs fürchtete ein Auseinanderbrechen ihres Landes in Zentral- und Südosteuropa. Wien war entschlossen, die wachsende nationalistische Opposition zu zerschlagen, die vor allem von Serbien ausging, aber – und hier lag eine noch größere Bedrohung – von Russland unterstützt wurde. In Zusammenhang mit der Untersuchung des Mordanschlags wurde eine Reihe von unerfüllbaren Forderungen gegenüber Serbien formuliert, um einen Krieg zu provozieren.

Der Krieg hätte ein lokales Scharmützel bleiben können, wenn nicht die Lage in Österreich mit den wirtschaftlichen und strategischen Interessen aller europäischen Großmächte verbunden gewesen wäre.

In Berlin stellte das Hohenzollern-Regime dem österreichischen Verbündeten einen Blankoscheck aus, alle notwendigen Schritte gegen Serbien zu unternehmen, selbst wenn dies zum Krieg mit Russland führen würde. Nach einer offiziellen Verlautbarung würde es die deutsche Position schwächen, wenn man den Serben erlaubte, mit russischer und französischer Unterstützung die Stabilität der österreichischen Monarchie zu untergraben. Außerdem standen wesentliche wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel.

Rückblickend aus dem Jahre 1917 fasste der deutsche Politiker Gustav Stresemann die Ansicht der mächtigen Industriellenkreise zusammen, für die er sprach: Deutschland habe „gesehen, wie die anderen Welten eroberten, während wir, deren ganze wirtschaftliche und Volkslage darauf hindrängte, größer zu werden, wir, die wir ein wachsendes Volk mit wachsender Weltwirtschaft, wachsendem Welthandel waren, die Welt immer mehr in Interessensphären geteilt sahen, die Welt unter dem Zepter anderer sahen, so dass für uns der Wettbewerb, den wir zum wirtschaftlichen Ausatmen brauchten, sich verengte.” [3]

Doch auch für Frankreich, das im Konflikt mit Deutschland Russland unterstützte, standen vitale Interessen auf dem Spiel. Die Annexion von Elsaß-Lothringen durch Deutschland 1871 führte, wie Marx bereits vorhergesehen hatte, zu einer Allianz zwischen Frankreich und Russland, in der beide Länder gegen Deutschland rüsteten.

Im Konflikt zwischen Deutschland und Russland konnte Frankreich nicht neutral bleiben, denn – wie der französische Präsident Poincaré später erläuterte – das Ausscheiden aus einer Allianz, die über ein Vierteljahrhundert Bestand hatte, „hätte uns in die Isolation geführt und uns der Gnade unserer Rivalen ausgeliefert“. [4]

Auch für Großbritannien ging es um höchstwichtige strategische und wirtschaftliche Interessen. Die britische Politik beruhte auf einem ausgeglichenen Kräfteverhältnis in Europa, damit keine einzelne Macht oder Mächtekonstellation die britische Weltherrschaft in Fragen stellen konnte, die auf dem Empire und vor allem auf der Ausplünderung Indiens fußte.

In einer bemerkenswert offenen Stellungnahme erläuterte der damalige Erste Lord der Admiralität Winston Churchill seine Position während einer Debatte um die Ausgaben für die Marine 1913/1914:

„Wir haben so viele Gebiete, wie wir möchten, und unser Anspruch auf ungehinderten Genuss unserer ausgedehnten und herrlichen Besitzungen, die wir hauptsächlich mit Gewalt erobert und durch Stärke behalten haben, erscheint anderen oft weniger vernünftig als uns.“ [5]

Nach einigen Schwankungen entschied sich Großbritannien dann folgerichtig, Frankreich zu unterstützen und gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen.

Die wahren Kriegsziele wurden selbstverständlich nie erklärt. Wie kann eine Regierung der Bevölkerung erklären, dass sie die Blüte der Jugend in den Tod und die Verstümmelung auf dem Schlachtfeld schickt, um Profitinteressen zu wahren und den Zugang zu Rohstoffen, Kolonien und Märkten zu sichern? Die Großmächte verbargen ihre tatsächlichen Beweggründe unter einem unaufhörlichen Strom von Lügen, der sich aus den Massenmedien ergoss.

In Deutschland wurde der Krieg zur „Verteidigung des Vaterlandes“ geführt, um die deutsche Kultur und Wirtschaft angesichts der russischen Barbarei zu bewahren.

Frankreich erklärte, man verteidige die Ideale der französischen Politik, das Erbe der Französischen Revolution – Freiheit und Gleichheit – gegen die preußische Selbstherrschaft, auch wenn man dies in Allianz mit dem despotischen Zarenregime tat.

Großbritannien erklärte, es trete in den Krieg ein, um die Neutralität des „kleinen Belgiens“ zu verteidigen, die so grausam von den „Hunnen“ verletzt wurde, auch wenn sich die Briten natürlich nicht anders verhalten hätten.

Und als die Vereinigten Staaten im April 1917 in den Krieg eintraten, um ihre eigenen strategischen und finanziellen Interessen zu vertreten, so trugen auch sie zu diesem Berg an Lügen bei, als sie erklärten, man wolle im Krieg „die Welt für die Demokratie sicher machen“.

Der Verrat der Zweiten Internationale

Der Ausbruch des Krieges kam für die marxistische Bewegung nicht überraschend. Tatsächlich hatte Friedrich Engels ihn schon im Jahre 1887 vorhergesagt.

Der einzige Krieg, der dem preußischen Deutschland noch übrig bliebe, schrieb er, wäre ein Weltkrieg, eine Gewalt von bislang ungesehenem Ausmaß.

„Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt”.

Es war unmöglich, vorherzusehen, schreib Engels, „wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat [ist] absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. - Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt.” [6]

Die Zweite Internationale bestand aus sozialdemokratischen Parteien, die sich auf den Marxismus beriefen. Sie hatte die wachsenden Rivalitäten zwischen den Großmächten beschrieben und auf die Kriegsgefahr hingewiesen, die aus dem Kampf um Märkte und Profite erwuchs.

Aber wenn der Kriegsausbruch selbst auch keine Überraschung war, so war die Reaktion der führenden Parteien in der Zweiten Internationale darauf doch ein Schock.

Am 4. August 1914, als deutsche Truppen in Belgien einmarschierten mit dem Ziel, Frankreich zu erobern, stimmten die Parlamentsabgeordneten der deutsche SPD – der führenden Partei in der Zweiten Internationalen – einstimmig für die Kriegskredite. 14 von den 92 Abgeordneten waren dagegen, aber sie unterwarfen sich bei der Abstimmung im Reichstag der Fraktionsdisziplin. Die französischen Sozialisten folgten diesem Beispiel und erklärten ihre Unterstützung für die eigene Nation.

Diese Entscheidungen standen in krassem Gegensatz zu den Resolutionen, die auf den Kongressen der Zweiten Internationale verabschiedet worden waren. 1907 hatte die Internationale auf einem Kongress in Stuttgart erklärt, dass es die Pflicht aller Parteien sei „alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern“.

Die Resolution legte sodann fest:

„Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ [7]

Der Basler Kongress 1912 fand statt, als sich die Kriegswolken bereits auftürmten, und bestätigte dieselbe Resolution nochmals. Man hielt am Wortlaut der Stuttgarter Erklärung fest und bezog sich zudem auf die Pariser Kommune und die Russische Revolution von 1905, um noch deutlicher zu machen, was gemeint war.

Lenins Reaktion auf den Krieg stützte sich auf die Analyse, die in den Jahren vor dem Ausbruch entwickelt worden war: Es handelte sich um einen imperialistischen Krieg um Kolonien und Profite.

Von Beginn an bestand Lenin darauf, dass der Verrat der Zweiten Internationale ihren Tod bedeute. Es war notwendig, politisch, ideologisch und organisatorisch mit ihr zu brechen.

Gegen alle Versuch, die Bedeutung der Ereignisse herunterzuspielen, so Lenin, musste man den Zusammenbruch der Internationale in seinen Ursachen begreifen, damit man einen neuen, festeren sozialistischen Zusammenschluss der Arbeiter aller Länder herbei führen konnte.

Lenins revolutionärer Defätismus

Lenins strategischer Plan für den Aufbau einer neuen Dritten Internationale ist zusammengefasst in der Perspektive, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, die nach Kriegsausbruch formuliert wurde.

„Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung. Das zeigt die Erfahrung der Kommune, das ist im Basler Manifest (1912) vorgesehen, und das ergibt sich aus den ganzen Bedingungen des imperialistischen Krieges zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern.“ [8]

Lenins gesamte Arbeit in der darauffolgenden Periode bis zur und im Zuge der Russischen Revolution, die ihren Höhepunkt in der Eroberung der politischen Macht im Oktober 1917 fand, war dieser Perspektive verpflichtet, und zwar nicht nur, wie man betonen muss, in Bezug auf Russland, sondern mit Blick auf die internationale Ebene.

Das Wesen des Krieges selbst, eines Weltkrieges, der die Arbeiter aller Länder in Tod und Verderben riss, bedeutete, dass die Strategie und Taktik des Proletariats nur auf internationaler Ebene und auf Grundlage einer gemeinsamen Perspektive entwickelt werden konnte. Wie Trotzki später formulierte, läutete im August 1914 die Totenglocke für alle nationalen Programme.

Bevor wir uns mit den verschiedenen Aspekten von Lenins Werk beschäftigen, möchte ich mögliche Missverständnisse ausräumen, was die Parole von der „Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg” bedeutet.

Es handelt sich nicht um einen radikalen Spruch. Lenin war ein konsequenter Gegner jener kleinbürgerlichen Politik, die typisch ist für anarchistische, halbanarchistische und syndikalistische Tendenzen: die lautstarke Verkündung von radikalen Aktionen.

Es bedeutet also nicht, auf die Straße zu gehen und zum Bürgerkrieg aufzurufen. Es bedeutete auch keineswegs den Rückgriff auf Sabotageakte und ähnliche Aktionen – Brücken sprengen, wie Lenin es nannte – um die Krise künstlich zu vertiefen.

Es handelte sich vielmehr um eine politische Linie, um der internationalen Arbeiterklasse durch Propaganda, Bildung und Agitation die historische Bedeutung des Krieges klar zu machen und sie auf die Aufgaben vorzubereiten, denen sie in Kürze gegenüberstehen würde.

Wie weit diese Perspektive von radikaler Phrasendrescherei entfernt war, kann man an einer Resolution ablesen, die Lenin im März 1915 verfasste. Hier formulierte er als „erste Schritte in Richtung auf die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg [...]: 1. unbedingte Ablehnung der Kriegskredite und Austritt aus den bürgerlichen Kabinetten; 2. völliger Bruch mit der Politik des „nationalen Friedens" (bloc national, Burgfrieden); 3. Bildung illegaler Organisationen überall dort, wo Regierung und Bourgeoisie unter Verhängung des Belagerungszustandes die verfassungsmäßigen Freiheiten aufheben; 4. Unterstützung der Verbrüderung der Soldaten der kriegführenden Nationen in den Schützengräben und auf den Kriegsschauplätzen überhaupt; 5. Unterstützung aller revolutionären Massenaktionen des Proletariats überhaupt.” [9]

Lenin erkannte klar, dass solche revolutionären Aktivitäten das Land schwächen, das sich im Krieg befindet, und zu seiner Niederlage beitragen. Doch ein „Proletarier kann nicht seiner Regierung einen Schlag im Interesse der eigenen Klasse versetzen oder seinem Bruder, dem Proletarier des ‚fremden‘, mit ‚uns‘ kriegführenden Landes (in der Tat) die Hand hinstrecken, ohne ‚Hochverrat‘ zu begehen, ohne an der Niederlage mitzuwirken, ohne zum Zerfall der ‚eigenen‘ imperialistischen ‚Groß‘macht beizutragen“. [10]

Das Wesen des Imperialismus

Die Ausarbeitung einer Strategie des revolutionären Defätismus – in Opposition zur Vaterlandsverteidigung, – die den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umwandeln sollte, basierte auf einer wissenschaftlichen Analyse zum Wesen des Imperialismus.

Die Frage des Imperialismus wurde sowohl in den Reihen der marxistischen Bewegung wie auch darüber hinaus in der Vorkriegsperiode intensiv diskutiert.

1902, nach dem Burenkrieg, veröffentlichte der britische Sozialliberale John Hobson seine höchst einflussreiche Studie über den Imperialismus.

Der Begriff Imperialismus war nicht neu. Doch früher wurde er in Hinblick auf die Konsolidierung eines starken Nationalstaats bezogen. Hobson unterschied den „neuen Imperialismus“ vom alten, insofern ersterer die „Theorie und Praxis rivalisierender Imperien“ und die Dominanz des Finanzkapitals über Handelsinteressen beinhalte Dies führte zu einem Wachstum des Finanzparasitismus, bei dem Vermögen nicht mehr vorrangig durch Manufaktur und Handel erwirtschaftet werde, sondern vielmehr durch einen enormen Tribut, der aus den Kolonien und abhängigen Gebieten stamme, sowie den Aufstieg einer Finanzaristokratie, die ihr gewaltiges Vermögen nutze, um die unteren Klassen zu bestechen und dadurch ihre Herrschaft abzusichern.

1910 veröffentlichte der österreichische Marxist Rudolf Hilferding sein Werk Das Finanzkapital, mit dem Marx Analyse erweitern und das enorme Wachstum des Finanzsektors seit Marx’ Tod einbeziehen wollte.

„[D]as Verständnis der gegenwärtigen Wirtschaftstendenzen, damit aber auch jede wissenschaftliche Ökonomie und Politik [ist] ohne Kenntnis der Gesetze und der Funktion des Finanzkapitals unmöglich“, stellte Hilferding fest. [11]

Diese beiden Werke beeinflussten Lenin stark, als er an der theoretischen Grundlage seiner Perspektive arbeitete. Er folgte besonders Hobsons Analyse des Finanzparasitismus und den Schlussfolgerungen, die Hilferding in Bezug auf den Einfluss des Finanzkapitals auf die Politik zog.

Hilferding hatte herausgearbeitet, dass die Dominanz des Finanzkapitals das Ende der liberalen bürgerlichen Politik des 19. Jahrhunderts bedeutete, die auf freiem Wettbewerb und fortschreitender Demokratisierung beruhte. Das Finanzkapital musste eine neue Ideologie durchsetzen, um seine Ziele zu erreichen. „Diese Ideologie ist aber der des Liberalismus völlig entgegengesetzt; das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“.

Während der alte Liberalismus die internationale Machtpolitik ablehnte, verlange das Finanzkapital einen starken „Staat, der überall in der Welt eingreifen kann, um die ganze Welt in Anlagesphären für sein Finanzkapital verwandeln zu können.“ [12]

Dies bestimmte die Politik jeder Großmacht, ob in Form der demokratischen Republik oder des absolutistischen Regimes. Die Politik des Finanzkapitals ist, wie Lenin feststellte, „politische Reaktion auf der ganzen Linie“.

In seinem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, an dem er 1915 fortlaufend gearbeitet hatte, brachte Lenin all die Analysen zusammen, die er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs entwickelt hatte. Anhand detaillierter Daten zeigte er das Wesen der neuen Epoche auf und wies nach, dass der Krieg das Ergebnis der räuberischen Gier des Finanzkapitals nach Märkten, Profiten und Kolonien war.

Wie alle großen marxistischen Werke ist auch Lenins Imperialismus polemisch. Es richtet sich gegen Karl Kautsky, den führenden Theoretiker der SPD in der Vorkriegszeit, der wesentlich zur theoretischen Rechtfertigung des Sozialchauvinismus beigetragen hatte.

Nach Kautsky war der Imperialismus nicht ein bestimmtes Stadium oder eine Phase in der Entwicklung des Kapitalismus sondern vielmehr eine „bevorzugte“ Politik von Teilen der Bourgeoisie, die in dem Streben der Industrienationen bestand, große Teile von Agrarland unter ihre Kontrolle zu bringen.

Diese Definition ging über das zentrale Merkmal des Imperialismus hinweg, das eben nicht in der Rolle des Industrie-, sondern des Finanzkapitals bestand.

Wenn es sich beim Imperialismus darüber hinaus einfach um eine „bevorzugte“ Politik handelte, lagen ihre Wurzeln nicht in einer objektiven Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Daraus folgte wiederum, dass die Politik der Arbeiterbewegung darauf ausgerichtet sein konnte, die Zusammenarbeit mit Teilen der Bourgeoisie zu suchen, die eine andere Politik „bevorzugen“ würden.

Kautskys Definitionen hatten einen zentralen politischen Zweck: Sie dienten als Rechtfertigung dafür, die Perspektive der sozialistischen Revolution abzulehnen.

Lenins Analyse im Imperialismus hatte drei Kernbestandteile:

1. Sie zeigte, dass der Krieg einer objektiven Stufe in der kapitalistischen Entwicklung entsprang, verbunden mit der Entstehung von Monopolen, die sich im Konkurrenzkampf herausbildeten, und dem Aufstieg des räuberischen Finanzkapitals. Es handelte sich nicht um eine „bevorzugte“ Politik.

2. Die Vorherrschaft des Finanzkapitals, der Übergang zum Monopolkapitalismus mit riesigen Unternehmen, Banken und Finanzinstitutionen, die auf Weltebene operierten, hatte nicht nur zum Krieg geführt. Dieselben Entwicklungen hatten einen gewaltigen Wandel in den gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion verursacht, eine ungeheure Vergesellschaftung von Produktion und Arbeit.

Der Imperialismus, der auf der Vorherrschaft des parasitären Finanzkapitals beruht, war nicht nur ein dem Tode geweihter Kapitalismus. Die Wandlungen, die er mit sich gebracht hatte, die Vergesellschaftung der Produktion, bedeuteten den Beginn eines Übergangs zum Sozialismus, der in der kapitalistischen Wirtschaft selbst angelegt war. Dieser Übergang konnte allerdings nur realisiert werden durch den Sieg über den Opportunismus und seine Dominanz über die Arbeiterbewegung.

3. Der Opportunismus war nicht einfach das Ergebnis eines Verrats von einzelnen Parteiführern. Er war verbunden mit objektiven Prozessen in Verbindung mit dem Imperialismus und organisch verwachsen mit den Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse. Der Imperialismus hatte zur Aneignung von Überprofiten aus den Kolonien durch die kapitalistischen Großmächte geführt. Dies versetzte die Bourgeoisie dieser Länder in die Lage, eine privilegierte Schicht von Kleinbürgern, Journalisten, Gewerkschaftsbürokraten, besser gestellten Angestellten, und eine privilegierte Schicht in der Arbeiterklasse zu schaffen, die materielle Vorteile genoss – Brotkrumen von der Tafel des imperialistischen Banketts.

Aus dieser Analyse leitete Lenin weitreichende Schlussfolgerungen ab.

Der Imperialismus hatte zur Verwandlung der offiziellen Führung der Arbeiterklasse in Agenten der Bourgeoisie geführt. Hieraus ergab sich die materielle Notwendigkeit für den Aufbau einer Dritten Internationale.

Wie dieser Kampf zu führen sei, war die Schlüsselfrage.

Der Kampf gegen Opportunismus

Die privilegierten Schichten, die eine soziale Basis für die „Verteidigung des Vaterlandes“ bildeten, waren eine Minderheit. Es war notwendig, den untersten Massen der Bevölkerung zu erklären, warum man mit dem Opportunismus brechen musste. Auf diese Weise würde man sie für die Revolution ausbilden.

Hier richtete sich das Feuer hauptsächlich gegen jene, die eine besonders gefährliche Rolle spielten, indem sie die Opportunisten und Sozialchauvinisten mit dem politischen Deckmantel marxistisch klingender Phrasen versahen. Der führende Vertreter dieses Lagers war Kautsky.

Seit Beginn des Krieges, als er nicht gegen die Zustimmung zu den Kriegskrediten opponierte, hatte Kautsky dem Sozialchauvinismus eine internationalistische Anmutung verpasst.

Im Oktober 1914 schrieb Kautsky: „Alle haben das gleiche Recht oder die gleiche Pflicht, ihr Vaterland zu verteidigen; der wahre Internationalismus besteht in der Anerkennung dieses Rechts für die Sozialdemokraten aller Nationen, darunter auch derjenigen, die mit meiner Nation Krieg führen“. [13]

Mit anderen Worten: Wahrer Internationalismus bestand darin, zu rechtfertigen, dass im Namen der „Verteidigung des Vaterlandes“ deutsche Arbeiter auf französische Arbeiter schießen und umgekehrt.

Andere Versuche, dem Opportunismus eine „internationalistische“ Anmutung zu geben, kamen von jenen, die auf Marx‘ Haltung zu den Kriegen des 19. Jahrhunderts anspielten, die zur Gründung der Nationalstaaten in Europa geführt hatten.

In all diesen Kriegen hatte Marx einen internationalistischen Standpunkt eingenommen und versucht einzuschätzen, auf wessen Seite der Sieg am vorteilhaftesten für die Sache der Demokratie wäre und dadurch der Arbeiterklasse zugutekäme. Die gleiche Methode, hieß es, müsse man nun im gegenwärtigen Krieg anwenden. Es sei notwendig auf Basis einer „internationalistischen“ Einschätzung zu bestimmen, auf wessen Seite der Sieg am vorteilhaftesten für die Sache der Arbeiterklasse und des Sozialismus wäre.

Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Positionen Wasser auf die Mühlen der Sozialchauvinisten waren. Die deutschen Opportunisten behaupteten, dass eine Niederlage des russischen Despotismus vom internationalistischen Standpunkt aus am vorteilhaftesten wäre, während für ihre Gegenspieler in Frankreich eine Niederlage der preußischen Selbstherrschaft vorteilhafter schien, auch hier vom internationalistischen Standpunkt aus betrachtet.

Dieser Versuch, dem Sozialchauvinismus ein internationalistisches Mäntelchen umzuhängen, ging vollständig über die gewaltigen Veränderungen hinweg, die sich seit Marx‘ Schriften zur Kriegsfrage vollzogen hatten.

In den ersten sieben Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren nationale Kriege mit dem Sturz des Absolutismus verbunden und fanden an Orten statt, wo die objektiven Bedingungen für den Sozialismus noch nicht herangereift waren. In der späteren Periode jedoch hatten die herrschenden Klassen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und Russland fast 50 Jahre lang eine Politik des Plünderns von Kolonien und der Unterdrückung anderer Nationen betrieben. Eben diese Politik wurde im Ersten Weltkrieg „mit anderen Mitteln“ fortgesetzt, wie Lenin anknüpfend an Clausewitz‘ Diktum erklärte.

In der gegebenen Situation zu entscheiden, der Sieg welcher Seite am vorteilhaftesten wäre, hätte bedeutet zu entscheiden, ob Indien besser durch Großbritannien oder Deutschland ausgeplündert wird, ob China besser von Japan oder Amerika geteilt wird oder ob Afrika besser die Beute Frankreichs oder Deutschlands wird. [14]

Gegen die Vaterlandsverteidiger

Als er die Perspektive vorstellte, den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln, brachte Lenin noch zwei weitere wichtige Argumente vor.

Die Forderung nach einem Ende des Kriegs unter der Parole „weder Sieg noch Niederlage“ warf zwei entscheidende Fragen auf.

Zunächst bot die Forderung eine politische Deckung für die Vaterlandsverteidiger. Schließlich behaupteten die Unterstützer des Kriegstreibens der „eigenen“ Regierung, dass sie gegen die Niederlage kämpften. So erklärte der Führer des rechten SPD-Flügels Eduard David, die Sozialdemokraten hätten am 4. August „nicht für den Krieg, sondern gegen die Niederlage“ gestimmt. [15]

Wenn jemand nicht für den Sieg, aber gegen die Niederlage ist, impliziert dies Opposition gegen einen revolutionären Kampf, da dieser zur militärischen Niederlage der „eigenen“ Regierung führen kann. Demnach hätte man jede solche Aktion ablehnen müssen.

Zudem warf die Forderung „weder Sieg noch Niederlage“ eine weitere, noch wichtigere Frage auf. Sie gründete sich auf die Vorstellung, dass es eine Rückkehr zum Status quo ante gäbe und überging die Tatsache, dass der Krieg einen qualitativen historischen Wendepunkt markierte.

Eine ganze Ära der relativ friedlichen organischen Entwicklung war durch die Kanonenschläge des August 1914 gesprengt worden. Es gab keinen Weg zurück.

Der Kriegsausbruch war das Ergebnis der Wirtschaftsentwicklung im Zeitraum 1871-1914. Eine neue Epoche war heraufgezogen. Ein Friede, bei dem Grundlagen des bestehenden sozioökonomischen Systems fortbeständen, wäre daher nur eine Brutstätte für neue Kriege. Das gesamte System musste durch eine internationale sozialistische Revolution gestürzt werden.

Die gleiche Frage stellte sich in leicht veränderter Form mit Blick auf die Forderung nach „Frieden“, die immer stärker aufkam, als sich die Lage der Masse verschlechterte und die wahre Natur des Krieges zutage trat. Ende 1914 zogen sich die Schützengräben durch ganz Westeuropa und sollten noch vier Jahre dort bleiben. Offensiven und Gegenoffensiven brachten keine Veränderung, nur ein Massenschlachten, und die Hoffnung auf ein schnelles Ende war schnell verflogen.

Die deutsch-polnische Revolutionärin Rosa Luxemburg schrieb im April 1915 in ihrer Berliner Gefängniszelle, wo sie wegen ihrer Kriegsgegnerschaft einsaß:

„Die Szene hat gründlich gewechselt. Der Marsch in sechs Wochen nach Paris hat sich zu einem Weltdrama ausgewachsen; die Massenschlächterei ist zum ermüdend eintönigen Tagesgeschäft geworden, ohne die Lösung vorwärts oder rückwärts zu bringen. Die bürgerliche Staatskunst sitzt in der Klemme, im eigenen Eisen gefangen; die Geister, die man rief, kann man nicht mehr bannen. Vorbei ist der Rausch. [...] Die Regie ist aus. [...] Die Reservistenzüge werden nicht mehr vom lauten Jubel der nachstürzenden Jungfrauen begleitet, sie grüßen nicht mehr das Volk aus den Wagenfenstern mit freudigem Lächeln [...] Das im August, im September verladene und patriotisch angehauchte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in den Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt.“ [16]

Die Kriegsschrecken häuften sich und Lenin verwies auf die große Bedeutung, die der Friedenswunsch unter der breiten Masse der Bevölkerung in den kriegsführenden Ländern gewann. Es war, betonte er, die Pflicht der Sozialisten „sich an jeder Bewegung und an jeder Demonstration, die auf diesem Boden erwächst, aufs leidenschaftlichste“ zu beteiligen.

Vor allem aber mussten sie klar stellen, dass ein Frieden ohne Unterdrückung, Annexion und Plünderung, der nicht den Keim neuer Kriege in sich trug, nur durch eine revolutionäre Bewegung zu erreichen war.

„Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muss für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein“, schrieb Lenin. [17]

Kautsky stellte sich an die Spitze der Opposition gegen diese Perspektive.

Kautsky und andere rechtfertigten ihre Abkehr von der Basler Resolution von 1912 damit, dass diese von der Entwicklung einer revolutionären Situation ausgegangen sei.

Eine solche Situation war bei Ausbruch des Krieges nicht eingetreten – die Massen waren in der imperialistischen Kriegsbegeisterung befangen – und so waren die Bedingungen, von denen die Resolution ausging, nicht gegeben. Die Aussicht auf eine sozialistische Revolution war somit eine Illusion, eine Chimäre. Der Marxismus als wissenschaftliche Perspektive habe sich nicht auf Selbsttäuschung zu stützen, sondern auf eine objektive Beurteilung der Lage.

Fraglos waren große Teile der Bevölkerung von Kriegshysterie ergriffen, als die kriegsführenden Länder die Mobilisierung befahlen. Trotzki fand Gründe dafür in der Massenpsychologie und der anscheinenden Isolation der revolutionären Avantgarde zu Kriegsbeginn.

In Friedenszeiten erreicht der Einfluss der Sozialisten nur die fortschrittlichsten Teile der Arbeiterklasse. Große Teile der Bevölkerung stehen außerhalb der unmittelbaren politischen Kämpfe. Doch mit dem Kriegsausbruch und der beginnenden Mobilisierung werden sie in die Politik hineingezogen.

Sie sind unmittelbar mit Fragen von Leben und Tod konfrontiert, in denen die Regierung und das Militär sich vor ihnen als Beschützer und Verteidiger aufspielen. Diese Gefühle mischen sich mit diffusen Stimmungen des Wandels, der Hoffnung und der Sehnsucht nach einem besseren Leben.

„Hier vollzieht sich das gleiche wie am Beginn einer Revolution“, schrieb Trotzki, „doch mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass die Revolution diese erst erwachten Volkskreise mit der revolutionären Klasse verbindet, der Krieg aber – mit der Regierung und Armee!“

„Wenn dort alle unbefriedigten Bedürfnisse, alle angehäuften Leiden, alle sehnsüchtigen Hoffnungen ihren Ausdruck in revolutionärer Begeisterung finden, so nehmen hier dieselben sozialen Empfindungen zeitweilig die Form patriotischer Trunkenheit an. Weite Kreise der vom Sozialismus berührten Arbeiterschaft werden in denselben Strom hineingezogen.“ [18]

Unter solchen Bedingungen, sagte Trotzki, könne die Partei keinen unmittelbaren revolutionären Kampf führen. Sie könne aber ihrer Kriegsgegnerschaft Ausdruck verleihen, ihr Misstrauen gegenüber der Regierung erklären, gegen die Kriegskredite stimmen und sich auf diesem Weg auf das Umschlagen des Massenbewusstseins vorbereiten, das der Krieg unvermeidlich mit sich bringt.

Wenn dies nicht geschehen war, wenn das Zeichen zur Kriegsmobilisation auch das Zeichen zum Sturz der Internationale geworden war, wenn die nationalen Arbeiterparteien, ohne einen Protest aus ihrer Mitte, sich mit ihren Regierungen und Armeen vereinigten, so musste es dafür tiefe und dabei für die gesamte Internationale gemeinsame Ursachen geben, so Trotzki.

Lenin ging diesen Ursachen auf den Grund und entwickelte dabei die politische Strategie und Taktik, die zur erfolgreichen Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse führte.

Alle Unterstützer der Opportunisten gingen von einem falschen Bild der Situation zu Kriegsbeginn aus.

Lenin zitiert Kautsky vom Oktober 1914 mit den Worten: „Nie ist eine Regierung so stark, nie die Parteien so schwach, wie beim Ausbruch eines Krieges.“

Tatsächlich sei die Lage anders, antwortet Lenin: „Nie ist eine Regierung auf die Zustimmung aller Parteien der herrschenden Klassen und auf die ,friedliche‘ Unterwerfung der unterdrückten Klassen unter diese Herrschaft so sehr angewiesen wie während eines Krieges.“ [19]

Darüber hinaus mögen die Regierungen mächtig erscheinen, stellte er fest, doch der Schein entspreche nicht der Realität, und niemand verknüpfe revolutionäre Aussichten einfach mit dem Ausbruch eines Krieges. Dieser war nur der Beginn eines Prozesses und bereits jetzt – Lenin schrieb dies im Jahre 1915 – zeigten sich Symptome, dass in allen Ländern eine revolutionäre Situation heranreife, da die Unzufriedenheit der Massen wachse und die Regierungen immer größere Opfer forderten.

„Wird diese Situation lange anhalten, und wie weit wird sie sich noch verschärfen? Wird sie zur Revolution führen? Das wissen wir nicht, und niemand kann das wissen. Das wird nur die Erfahrung lehren, die uns zeigt, wie sich die revolutionären Stimmungen entwickeln und wie die fortgeschrittenste Klasse, das Proletariat, zu revolutionären Aktionen übergeht.“ [20]

Darüber hinaus der fehlende revolutionäre Kampf bei Kriegsausbruch auf die Lage zurückzuführen, in der sich die Arbeiterklasse befand. In jedem Land herrschten Zensur und Kriegsrecht, und die Führer der Arbeiterbewegung verkündeten ihre Einheit mit den imperialistischen Regierungen, die eben jene Maßnahmen durchsetzen.

Materialistische Philosophie und revolutionäre Praxis

Unabhängig von der unmittelbaren Situation waren die von Lenin aufgeworfenen Fragen von großer methodologischer Bedeutung. Dies führt uns zu Punkt 7 im Eröffnungsbeitrag von David North, wo dieser auf den „Zusammenhang zwischen der Philosophie des wissenschaftlichen Materialismus und der revolutionären Praxis“ verweist.

Lenin betonte den folgenden Punkt: Die Situation war objektiv revolutionär, insofern die herrschende Klasse nicht länger herrschen konnte und die Massen nicht weiterleben konnten wie bisher. Doch ob diese objektiv revolutionäre Situation tatsächlich zu einer Revolution führen würde, konnte man nicht durch stille Betrachtung herausfinden, sondern nur, indem man eine revolutionäre Praxis entwickelte.

Was die Situation tatsächlich beinhaltete, ob ihr Potenzial zum Tragen gebracht werden konnte, war nur durch das Eingreifen des bewussten, subjektiven Faktors festzustellen – der revolutionären Partei, die die Bewegung der Arbeiterklasse entwickelt, indem sie ihr die objektive Lage erläutert und sie im Kampf mit einem klaren Programm bewaffnet, mit dem Ziel der politischen Machteroberung.

Lenin bestand darauf, dass es notwendig war, die Realität in der Praxis zu verstehen und sich nicht von Erscheinungsformen leiten zu lassen. Er unterstrich damit einen Punkt in den Thesen über Feuerbach, in denen Marx seine entscheidende Entwicklung der materialistischen Philosophie skizzierte.

Kautsky und andere behaupteten, sie befänden sich auf der Grundlage des Materialismus – im Gegensatz zu den Träumereien, die Lenin mit seiner Perspektive von Bürgerkrieg und Revolution zum Sturz der Bourgeoisie verbreitete.

Damit vertraten sie jedoch nicht den Marxschen Materialismus, auf den sie sich zu beziehen glaubten, sondern die alten materialistischen Anschauungen, die Marx gestützt auf die Errungenschaften der deutschen idealistischen Philosophie, vor allem aus Hegels Werk, gerade überwunden hatte: die Betonung der aktiven Seite, d .h. des menschlichen Handelns im historischen Prozess.

In der ersten seiner Thesen über Feuerbach schrieb Marx:

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.“ Daher hatte die materialistische Philosophie zuvor „die Bedeutung der ,revolutionären‘, der ,praktisch-kritischen‘ Tätigkeit“ nicht begriffen. [21]

Im Gegensatz zu Kautsky erklärte Lenin, das kein Sozialist jemals garantiert habe, dass der gegenwärtige und nicht erst der nächste Krieg eine Revolution hervorbringen würde. Der entscheidende Punkt war die Pflicht der Sozialisten, das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse anzuheben, indem sie das Bestehen einer revolutionären Situation enthüllten.

Marxismus versus Sozialchauvinismus

Die entscheidende Frage lautete: Wie war es möglich, dass die prominentesten Führer des internationalen Sozialismus zu Verrätern geworden waren? Die Antwort lag in einer materialistischen Analyse der sozialchauvinistischen Strömung.

In der Periode vor Kriegsbeginn hatte die sozialistische Bewegung über anderthalb Jahrzehnte eine zerfleischende Diskussion über ihre Perspektive geführt.

Würde der Sozialismus als friedliche, allmähliche Entwicklung eintreten, als Summe von Parlamentsreformen und Gewerkschaftsaktivitäten, oder würde es zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems und dem Ausbruch revolutionärer Kämpfe kommen?

1898 hatte der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein eine fundamentale Revision der Grundperspektive seiner Partei vorgeschlagen. Er fasste sie in den Worten zusammen, die Bewegung sei alles und das endgültige Ziel nichts. Betrachtet man die offiziellen Beschlüsse der SPD, so wurde die revisionistische Tendenz zurückgedrängt. Doch die Praxis, auf die sich der Revisionismus begründete – Klassenkollaboration und die Einbindung in die Strukturen der bürgerlichen Herrschaft – gewann weiter an Stärke.

Die Frage kam nach der Russischen Revolution von 1905 erneut auf. War die Revolution mit ihren Massengeneralstreiks und der Bildung von Sowjets oder Arbeiterräten, über die Fred Williams in seinem Beitrag so lebendig berichtet, der Vorbote der europäischen Revolution, zeigten sich darin bereits die Formen, die sie annehmen würde, wie Rosa Luxemburg meinte? Oder war sie vielmehr, wie ihre Gegner, vor allem die Gewerkschaften meinten, Ausdruck der russischen Rückständigkeit und damit für das moderne Westeuropa ohne Belang?

Der Verrat der Zweiten Internationale rückte diese Fragen in einen klaren Fokus. Die Hintergründe waren das Anwachsen und die Entwicklung der opportunistischen Strömung, die zu voller Blüte und Reife gelangte und in die direkte Unterstützung für die eigene Bourgeoisie im Krieg überging.

Lenins Analyse der materiellen Wurzeln dieser Strömung hatte weitreichende politische Konsequenzen. Es wurde klar, dass die neue Dritte Internationale nicht auf den Überresten der alten Zweiten Internationale aufsetzen konnte, auch konnte sie nicht an die Theorie und Praxis der Zweiten Internationale anknüpfen.

Die Zweite Internationale hatte in der Periode der allmählichen Entwicklung eine wichtige vorbereitende Arbeit geleistet, erklärte Lenin. Doch die Dritte Internationale hatte neue Aufgaben: den direkten revolutionären Kampf gegen kapitalistische Regierungen und einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie zu führen, die Eroberung der politischen Macht und den Triumph des Sozialismus.

Notwendig hierfür war eine vollständige politische, ideologische und organisatorische Trennung vom Opportunismus, der in der Zeit der Zweiten Internationale als legitime Tendenz innerhalb des sozialistischen Lagers betrachtet worden war.

In Russland war die politische und organisatorische Trennung mit der Spaltung von den Menschwiki vollzogen worden. Für Lenin rückte die internationale Bedeutung nun in den Fokus.

Die Trennung zwischen den Bolschewiki und Menschewiki begann auf dem Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im Jahre 1903. Sie entwickelte sich aus einer Formulierung zum Wesen der Parteimitgliedschaft. Ihre volle Bedeutung war nicht von Anfang an klar.

Nach dem Ausbruch der Revolution 1905 wurde deutlich, dass die gegensätzlichen Positionen auf unterschiedliche Klasseninteressen zurückgingen. Die Politik der Bolschewiki basierte auf Feindseligkeit und Opposition gegenüber der liberalen Bourgeoisie. Die der Menschewiki war eine Anpassung an die liberale Bourgeoisie, am deutlichsten ausgedrückt durch Plechanows Erklärung, dass die Moskauer Arbeiter bei den Dezemberaufständen nicht zu den Waffen hätten greifen dürfen.

Die Aufgabe in Russland war ihrer festen Überzeugung nach eine bürgerlich-demokratische Revolution, die Beendigung der absolutistischen Herrschaft und die Machtübernahme durch ein bürgerliches Regime. Die Handlungen der Arbeiter in Moskau würden die liberale Bourgeoisie nur davon abhalten, die ihr zugewiesene historische Rolle zu erfüllen. Es war daher notwendig, mit der bürgerlichen Partei, den Kadetten, „taktvoll“ umzugehen, wie Plechanow sagte.

Die Auseinandersetzungen setzten sich nach 1905 fort. Innerhalb der Internationale wurden sie als eine Schrulle der Russen betrachtet. „Die schon wieder“, war die allgemeine Reaktion.

Der Verrat der Zweiten Internationale schuf die Notwendigkeit, mit dem Opportunismus und seinen Verteidigern vollständig organisatorisch zu brechen. Lenin wurde hierdurch die internationale Bedeutung der Spaltung von den Menschewiki klar.

„In Russland ist die völlige Trennung der revolutionär-sozialdemokratischen proletarischen Elemente von den kleinbürgerlich-opportunistischen durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung vorbereitet“, schrieb Lenin.

„Den übelsten Dienst erweisen der Arbeiterbewegung diejenigen, die von dieser Geschichte nichts wissen wollen und sich durch ihre Deklamationen gegen die ,Fraktionsmacherei‘ selbst der Möglichkeit berauben, den wirklichen Entstehungsprozess der proletarischen Partei in Russland zu begreifen, die sich in langjährigem Kampf gegen die verschiedensten Arten des Opportunismus herausgebildet hat.“

Der Kampf in Russland hatte internationale Bedeutung, weil er letztlich auf die gleichen Prozesse zurückging, die zum Wachstum und Sieg des Opportunismus in der Zweiten Internationale sowie ihrem Verrat im Jahre 1914 geführt hatten. Die „europäische“ Entwicklung, in der das Kleinbürgertum von den Großmachtprivilegien seiner „eigenen“ Nation profitierte, nahm in Russland die Gestalt des Menschewismus an, so Lenins Einschätzung.

Doch in Russland hatte ein politischer wie organisatorischer Bruch von diesen Kräften stattgefunden. Dies war die internationalistische, durchgängig revolutionäre Taktik, die nun ausgeweitet werden musste. [22]

Die Zimmerwalder Konferenz

Dieser Kampf begann auf der sozialistischen Antikriegskonferenz, die 5.-8. September 1915 in dem kleinen Schweizer Ort Zimmerwald stattfand. Die Konferenz wurde geheim gehalten. Das Hotel war im Namen einer ornithologischen Gesellschaft gebucht. Allerdings versammelten sich dort keine Vogelkundler, sondern einige der größten Denker ihrer Zeit, insbesondere Lenin und Trotzki.

Die Zimmerwalder Konferenz wurde von dem Schweizer Sozialisten Robert Grimm organisiert. Seine Perspektive und die seiner Unterstützer, die insgesamt die Mehrheit der nur 43 Delegierten ausmachten, war von Lenins Ansichten weit entfernt.

Grimms Ziel bestand nicht darin, eine revolutionäre Bewegung gegen den Krieg aufzubauen sondern den Schadfleck des Verrats vom 4. August von der Zweiten Internationale zu tilgen und den Vorkriegszustand mit der allgemeinen Forderung nach Frieden wiederherzustellen.

Es gab auf der Konferenz eine größere linke Fraktion, die allerdings in der Minderheit war, und innerhalb dieser eine noch kleinere Fraktion von nur fünf Personen, die sich um Lenin gruppierte.

Lenin machte sich keine Illusionen, was die Konferenz bringen würde. Er betrachtete sie als Schritt nach vorn, um die wahren marxistischen Kräfte international zu sammeln, auch wenn es nur eine kleine Zahl war.

Der Schweizer linke Sozialist Fritz Platten erinnert sich, dass Lenin während der Konferenz der aufmerksamste Zuhörer war, der nicht oft und niemals lange das Wort ergriff. Aber wenn er sprach, hatten seine Beiträge „eine ätzende Wirkung“. Es war Lenins Perspektive – er war der einzige, der in die Konferenz einen Resolutionsentwurf einbrachte –, die in vielen Diskussionen den Ton bestimmte.

Lenins Stärke bestand laut Platten darin, „dass er die historischen Entwicklungsgesetze mit unglaublicher Klarheit erkannte“. [23]

Seine Konzentration auf diese Gesetze bestimmte Lenins Haltung gegenüber allen Versuchen, die Zweite Internationale wiederzubeleben, indem man das Schandmal des 4. August beseitigte.

Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale war nicht einfach das Ergebnis eines Verrats ihres Führungspersonals. Er bedeutete das Ende einer ganzen historischen Epoche relativ friedlicher Entwicklung. Eine neue Ära von Kriegen und Revolutionen zog herauf. Eine neue Internationale war aufzubauen, um den neuen Aufgaben gerecht zu werden.

Die Forderung nach Frieden stand im Vordergrund. Doch dies beinhaltete sämtliche Fragen: Wie konnte es Frieden geben ohne den Sturz des kapitalistischen Systems, dessen historische Entwicklung hin zum Imperialismus den Krieg hervorgerufen hatte? Und diese Aufgabe konnte nicht gelöst werden ohne eine vollständige Trennung von all jenen, die inzwischen innerhalb der Arbeiterbewegung die Interessen des Imperialismus vertraten. Sie mussten unnachgiebig bekämpft werden.

Am Abend des 7. Septembers fasste der französische Delegierte Alphonse Merrheim die Fragen zusammen. Die Mehrheit wollte Friedensaktionen durch das Proletariat, nicht enge Formeln, sagte er. Merrheim war nicht gegen die Revolution, doch er sagte: „Eine revolutionäre Bewegung kann nur durch das Streben nach Frieden entstehen. Du, Genosse Lenin, bist nicht von Friedensbestrebungen motiviert sondern vom Wunsch nach dem Aufbau einer neuen Internationale. Das trennt uns.“ [24]

Das Ergebnis der Zimmerwalder Konferenz war die Herausgabe eines Manifests gegen den imperialistischen Krieg, das Trotzki entworfen hatte und von allen unterzeichnet wurde. Es beinhaltete weitaus nicht all das, was Lenin oder auch Trotzki gewollt hatten. Aber es war ein Fortschritt, wie Lenin sagte, denn „das angenommene Manifest bedeutet faktisch einen Schritt vorwärts zum ideologischen und praktischen Bruch mit dem Opportunismus und Sozialchauvinismus“. [25]

In den nächsten Monaten wurde Zimmerwald mit der sich ausbreitenden Opposition gegen den Krieg identifiziert, da das Manifest gegen den Imperialismus inmitten der Massenschlächterei und großen Entbehrungen das Bewusstsein größerer Teile der internationalen Arbeiterklasse erreichte.

Die Grundlagen einer neuen Internationale

Doch die tieferen Probleme, um die sich die Konferenz gedreht hatte, waren ungelöst.

Sie wurden in einer Resolution angesprochen, die Rosa Luxemburg im März 1916 zu den Grundlagen einer neuen Internationale herausgab. Eine solche Internationale konnte nur als Ergebnis eines revolutionären Kampfes der Massen entstehen, schrieb sie, dessen erster Schritt eine Massenaktion zur Erzwingung von Frieden wäre.

„Die Existenz und Wirksamkeit der Internationale ist nicht eine Frage der Organisation, nicht eine Frage der Verständigung zwischen einem kleinen Kreise von Personen, die als Vertreter der oppositionell gesinnten Schichten der Arbeiterschaft auftreten, sie ist eine Frage der Massenbewegung des zum Sozialismus zurückkehrenden Proletariats aller Länder.“ [26]

Hier gab es einen grundlegenden Unterschied zu den Auffassungen Lenins.

Er zweifelte nicht daran, dass der Krieg revolutionäre Massenkämpfe auslösen würde. Doch die entscheidende Frage lautete, ob bei Beginn dieser Kämpfe eine revolutionäre Führung existierte, die alle wesentlichen Elemente des notwendigen Programms ausgearbeitet hat und die vor allem all jenen Tendenzen unversöhnlich entgegentritt, die den Krieg unterstützt haben und die Revolution zu verhindern versuchen würden –in erster Linie eben jede Tendenzen, die aus der Arbeiterbewegung selbst hervorgegangen waren.

Nur auf der Basis solcher Vorbereitungen könnte der Ausbruch der Revolution – Ergebnis derselben Bedingungen, die zum Krieg geführt hatten – zur erfolgreichen Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse führen.

Diese Perspektive erwies sich im Laufe des Jahres 1917 als richtig. Nur anderthalb Jahre nach der Zimmerwalder Konferenz brach die Februarrevolution aus, auf die acht Monate später die Oktoberrevolution folgte.

In seinem Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter schrieb Lenin, als er 1917 die Rückreise nach Russland antrat:

„Als unsere Partei im November 1914 die Losung aufstellte: ‚Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg‘, in den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, für den Sozialismus, da wurde diese Losung von den Sozialpatrioten mit Feindseligkeit und boshaften Spötteleien und von den Sozialdemokraten des ‚Zentrums‘ mit ungläubig skeptischem, charakterlos abwartendem Schweigen aufgenommen. […] Jetzt, nach dem März 1917, sieht nur ein Blinder nicht, dass diese Losung richtig ist. Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg fängt an, Tatsache zu werden. Es lebe die beginnende proletarische Revolution in Europa!“ [27]

Lenins Rückkehr nach Russland und die Aprilthesen:

Diesen Vortrag hielt James Cogan im Rahmen der Online-Vortragsreihe des Internationale Komitees der Vierten Internationale (IKVI) zur Russischen Revolution.

Als 1917 in Petrograd die Februarrevolution ausbrach, befand sich der Führer der Bolschewistischen Partei, Wladimir Iljitsch Lenin, etwa 2400 km weit entfernt in Zürich. Ungefähr 10 Jahre zuvor hatte er nach der Revolution von 1905 aus Russland fliehen müssen, um einer Gefängnis- oder gar der Todesstrafe des zaristischen Regimes zu entgehen.

Nach dem Bericht von Lenins Frau Nadeschda Krupskaja, die dem Führungskreis der Bolschewiki angehörte und eine seiner engsten politischen Weggefährten war, waren sie eines Tages Anfang März (nach dem Julianischen Kalender) gerade mit dem Frühstück fertig, als der polnische Marxist Mieczyslaw Bronski in ihre Wohnung stürmte und rief: „Habt ihr die Nachrichten nicht gehört? In Russland gibt es eine Revolution!“

Krupskaja schrieb in ihren Erinnerungen an Lenin von 1933:

Als Bronski gegangen war, eilten wir zum See, dort wurden an einer bestimmten Stelle sämtliche Zeitungen sofort nach ihrem Erscheinen ausgehängt.

Wir lasen die Telegramme mehrere Male. In Russland war tatsächlich die Revolution ausgebrochen. Lenins Hirn arbeitete aufs Intensivste. Ich weiß nicht mehr, wie dieser Tag und die Nacht zu Ende gingen. Am nächsten Tag trafen neue Regierungstelegramme über die Februarrevolution ein, und Lenin schreibt schon an die Genossin Kollontai in Stockholm: „In keinem Fall wieder nach dem Muster der II. Internationale! In keinem Fall zusammen mit Kautsky! Unbedingt ein revolutionäreres Programm und eine revolutionärere Taktik!“ Und weiter… „Nach wie vor revolutionäre Propaganda und Agitation und Kampf mit dem Ziel der proletarischen Weltrevolution und der Eroberung der Macht durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten...“ (28)

Räumlich war Lenin weit von Russland entfernt. Das hieß aber nicht, dass er keinen Einfluss ausübte. Die Leitung der Bolschewiki im Züricher Exil, die nicht nur aus Lenin und Krupskaja bestand, sondern auch aus so hervorragenden Revolutionären wie Inessa Armand, hielt möglichst engen Kontakt zu der illegalen bolschewistischen Organisation in Russland – hauptsächlich über Briefe und Telegramme, die an Vertrauenspersonen wie Alexandra Kollontai ins neutrale Schweden geschickt wurden. Diese wurden dann nach Finnland, und weiter nach St. Petersburg geschmuggelt. Von dort aus wurden sie nach und nach weiter verbreitet.

Im März 1917 stand Lenin kurz vor seinem 47. Geburtstag. Seine Lebensumstände waren, milde ausgedrückt, ärmlich. Krupskaja beschrieb das Haus, in dem sich ihr Zimmer befand, als „ altes, finsteres Haus fast im Stil des 16. Jahrhunderts, mit einem muffigen, stinkenden Hof“. Ende 1916, schrieb sie, hatten sie die Ausgaben für ihren Lebensunterhalt auf ein absolutes Minimum reduziert. Die bolschewistischen Exilanten waren mittellos – fraglos trug dieser Umstand zu Lenins Gesundheitsproblemen bei.

Lenins Reaktion auf die Februarrevolution entsprang der internationalistischen Perspektive, für die er während seiner gesamten politischen Tätigkeit gekämpft hatte, besonders nach dem Verrat der Zweiten Internationalen vom August 1914, als die Mehrheit der Parteien und Führer der Zweiten Internationalen ihre eigene Kapitalistenklasse im Ersten Weltkrieg unterstützt hatte.

Selbst unter den Marxisten, die den Verrat ablehnten, war Lenin in der Minderheit.

Mehrheitlich trat die Strömung der Kriegsgegner, die nach dem Namen des Dorfes, in dem sie sich 1915 versammelt hatte, als Zimmerwald-Internationale bekannt wurde, dafür ein, dass die Regierungen der kriegsführenden Länder zu Friedensgesprächen gedrängt werden sollten.

Lenin betonte immer wieder, dass nur eine europa- und weltweite sozialistische Revolution einen dauerhaften Frieden und den Fortbestand der Zivilisation sichern könne. Sämtliche Bestrebungen von Marxisten, wirklichen Internationalisten, müssten darauf ausgerichtet sein, den Klassenkampf in ihrem jeweiligen Land voranzutreiben und den Sturz ihrer eigenen herrschenden Klasse vorzubereiten – Lenins Parole: „Den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln“ brachte diese revolutionäre Perspektive zum Ausdruck.

Die Resolution, die Lenin für den „linken Flügel“ der Antikriegskonferenz 1915 in Zimmerwald verfasste, begann mit den Worten:

Der gegenwärtige Krieg ist durch den Imperialismus erzeugt. Der Kapitalismus hat dieses sein höchstes Stadium schon erreicht, denn die Produktivkräfte der Gesellschaft und die Größe des Kapitals sind über den Rahmen der einzelnen Nationalstaaten hinausgewachsen... Die ganze Welt wird zu einem einheitlichen Wirtschaftsorganismus. Die ganze Welt ist zwischen einer Handvoll Großmächte verteilt. Die objektiven Vorbedingungen des Sozialismus sind vollständig herangereift. Der heutige Krieg ist ein Krieg der Kapitalisten um Privilegien und Monopole, die den Zusammenbruch des Kapitalismus aufschieben sollen.(29) Der Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken endete mit den Worten:

Der imperialistische Krieg eröffnet die Ära der sozialen Revolution. Alle objektiven Bedingungen der jüngsten Epoche setzen den revolutionären Massenkampf des Proletariats auf die Tagesordnung. Die Aufgabe der Sozialisten ist es, ohne ein einziges legales Mittel des Kampfes aufzugeben, alle diese Mittel der Hauptaufgabe unterzuordnen, das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiter zu entwickeln, sie im internationalen revolutionären Kampf zu sammeln, jedes revolutionäre Auftreten zu fördern und die Umwandlung des imperialistischen Krieges zwischen den Völkern in den Bürgerkrieg anzustreben, in den Krieg der unterdrückten Klassen gegen ihre Unterdrücker, mit dem Ziel der Expropriation der Kapitalistenklasse, der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, der Verwirklichung des Sozialismus.(30)

Lenin hob hervor, dass diese Perspektive nur durch den Aufbau einer neuen, Dritten Internationalen verwirklicht werden konnte. Sie sollte nur aus Parteien bestehen, die sich auf die weltweite sozialistische Revolution verpflichteten. Vor allem in dieser Frage fand Lenin keine Unterstützung bei der Zimmerwalder Internationalen. Mehrheitlich klammerte diese sich an die Hoffnung, die Zweite Internationale könne für den Marxismus zurückgewonnen werden.

Nach Lenins Überzeugung würden die gleichen Widersprüche, die den Imperialismus in den Weltkrieg getrieben hatten, auch die Arbeiterklasse in revolutionäre Kämpfe treiben. In der Vorbereitung dieser Kämpfe sah er die vorrangige Aufgabe der Marxisten. Er konnte aber nicht vorhersagen, wann die Revolution ausbrechen, und wo sie beginnen würde.

So beendete Lenin eine Rede vor marxistischen Jugendlichen in Zürich im Januar 1917 mit den Worten: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht mehr erleben:“(31)

Nur wenige Wochen später brach die Februarrevolution aus, Lenin war noch unter den Lebenden und konnte „die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution“ nicht nur miterleben: er leitete sie an.

Für Lenin und die anderen revolutionären Exilanten in der Schweiz war es eine wichtige Frage, wie sie nach Russland zurückkommen konnten. Die Schweiz ist ein Binnenland, das damals im Süden an Italien, im Westen an Frankreich, im Osten an das Kaiserreich Österreich-Ungarn und im Norden an das deutsche Kaiserreich grenzte. Russland führte Krieg gegen Österreich und Deutschland und war mit Frankreich verbündet. Die herrschende Klasse Frankreichs würde dem Kriegsgegner Lenin bei der Rückkehr nach Russland nicht behilflich sein.

Die Zeit spielte eine entscheidende Rolle.

Wie es von Lenin und den Bolschewiki vorhergesehen, und von Leo Trotzki in seiner Theorie der Permanenten Revolution noch prägnanter formuliert wurde, kam der Arbeiterklasse die führende Rolle in der Revolution zu. Hunderttausende Soldaten hatten sich den Arbeitern angeschlossen. Ihrer Klassenherkunft nach stammten sie zumeist aus den unteren, ärmeren Teilen der riesigen bäuerlichen Landbevölkerung.

Russland befand sich in einem Zustand der „Doppelherrschaft“. Über die faktische Macht, im Sinne einer aktiven Unterstützung durch die Massen, verfügten nur die Sowjets. Ihre Autorität wurde durch das Durchsetzungsvermögen der bewaffneten Soldaten und Arbeitermilizen aufrechterhalten. Die Parteiführer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre (SR) arbeiteten im Sowjet ganz bewusst auf die Übergabe der Macht an die Provisorische Regierung hin. Die Provisorische Regierung war von den bürgerlichen Parteien, den Vertretern der Kapitalistenklasse, eingesetzt worden. Es fehlte ihr nicht an Verbindungen zum immer noch weitgehend intakten zaristischen Staatsapparat.

Die bürgerlichen Parteien hielten daran fest, dass Russland den Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn weiterzuführen, und seine Verpflichtungen gegenüber seinen imperialistischen Alliierten in Großbritannien und Frankreich zu erfüllen hatte. Sie forderten, dass alle übrigen Diskussionen, und sei es auch nur über den Zeitpunkt der Wahl einer Konstituierenden Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, bis auf den „Sieg“ im Krieg verschoben werden müssten. Die Soldaten müssten wieder der militärischen Disziplin unterstellt werden und die bewaffneten Arbeiter dem Staat ihre Waffen aushändigen.

Die Arbeiterklasse vertrat jedoch ihre eigenen Forderungen. Sie hatte die kapitalistischen Unternehmer durch eigenständige Aktionen gezwungen, in den Acht-Stunden-Tag einzuwilligen. Sie hatte ein gewisses Maß an Kontrolle über die Fabriken und Betriebe errichtet. Sie forderte Preiskontrollen und weitere Maßnahmen zur Erleichterung ihrer Lebensbedingungen. Vor allem forderten die Arbeiter ein Ende des katastrophalen Krieges, der 1,75 Millionen russische Soldaten das Leben gekostet, und weitere Millionen körperlich und seelisch traumatisiert hatte.

Wie die Arbeiter forderten auch die Soldaten Frieden. Nach Trotzkis Darstellung in seiner Geschichte der Russischen Revolution zogen die Soldaten vom Land den völlig richtigen Schluss, dass Landreform und demokratische Freiheiten ihnen nicht mehr viel nutzen würden, wenn sie tot waren.

Die Forderungen der Arbeiterklasse und der Soldaten traten in den Resolutionen der Arbeiter und Militärangehörigen, die unter bolschewistischem Einfluss standen, am deutlichsten zu Tage: Sie forderten die Sowjets auf, die Macht zu ergreifen.

Die Kriegsfrage war schnell zur wichtigsten Frage geworden. Menschewistische Führer im Sowjet wie Tschcheidse und Zereteli, die zuvor die russische Kriegsbeteiligung abgelehnt hatten, versicherten ebenso wie der führende Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, Minister in der Provisorischen Regierung, dass die Februarrevolution und ihre Errungenschaften den Charakter der russischen Teilnahme am 1. Weltkrieg entscheidend „verwandelt“ hätten. Russland führe keinen Raubkrieg mehr, sondern verteidige jetzt die „Demokratie“ und die Revolution gegen den deutschen und österreichisch-ungarischen Militarismus – nicht unüblich zur Rechtfertigung des Kriegs als „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“.

Objektiv sollte die Bezeichnung „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“ letztendlich die Unterordnung der Massen und der Sowjets unter die Provisorische Regierung bewirken. Und zweifellos übte sie auch ihre Wirkung auf die viele Millionen zählenden Soldatenmassen vom Land aus, aber auch auf breitere Schichten, die erst begonnen hatten, sich für Politik zu interessieren und wenig politisches Verständnis und Bewusstsein hatten. Es schien einleuchtend, dass die Errungenschaften der Revolution verteidigt werden mussten. Die Soldaten würden nicht für die räuberischen Gelüste des Zaren kämpfen, notfalls jedoch für die Verteidigung einer Regierung, die ihnen die Durchführung einer Landreform, Demokratie und Frieden versprochen hatte.

Am 14. März verabschiedete das von Menschewiki und Sozialrevolutionären kontrollierte Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets den „Appell an die Völker der Welt“, in dem erklärt wurde, dass Russland Frieden wolle, jedoch „unsere errungenen Freiheiten entschieden verteidigen“ werde. Die deutschen und österreichischen Arbeiter wurden aufgerufen, „sich zu weigern, sich von Königen, Großgrundbesitzern und Bankern für Eroberung und Plünderung instrumentalisieren zu lassen“.

Wie Trotzki später in seiner Geschichte der Russischen Revolution bemerkte, wurden gegen die imperialistischen Bündnisse Russlands mit Großbritannien und Frankreich keine derartigen Forderungen erhoben. Die britischen und französischen Arbeiter wurden nicht dazu aufgerufen, sich nicht als Manövriermasse für Eroberungen missbrauchen zu lassen, und schon gar nicht dazu, gegen Großgrundbesitzer und Banker in Russland eingesetzt zu werden. Dennoch wurde der Appell einstimmig vom Petrograder Sowjet gebilligt.

Neben anderen stimmten auch Dutzende bolschewistischer Delegierter im Exekutivkomitee für das Manifest vom 14. März. Gegen den heftigen Widerstand von Teilen der Partei in den Hochburgen der Arbeiterklasse, wie beispielsweise im Bezirk Wyborg in Petrograd, hatten sich auch zuvor schon einige bolschewistische Gremien an Positionen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre angepasst und der neuen Provisorischen Regierung „kritische Unterstützung“ zugesichert.

Am 15. März, einen Tag nachdem der Sowjet den „Appell an die Völker der Welt“ verabschiedet hatte, kam der extreme Klassendruck auf die Partei in einem Artikel von Lew Kamenew zum Ausdruck, der zusammen mit Stalin die Kontrolle über das Parteiorgan Prawda übernommen hatte. Solange es keinen Frieden gebe, schrieb er darin, müsse „der russische Soldat fest auf seinem Posten stehen, Kugel mit Kugel und Geschoss mit Geschoss beantworten“.(32)

Am nächsten Tag schrieb Stalin: „Nicht das inhaltslose ,Nieder mit dem Krieg‘ ist unsere Losung. Unsere Losung ist – Druck auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen... mit einem Versuch hervorzutreten, alle kämpfenden Länder zur sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen.... Bis dahin bleibt aber jeder auf seinem Kampfposten!“(33)

Die Linie der Prawda stieß bei Teilen der bolschewistischen Partei auf Ablehnung. Es steht jedoch außer Frage, dass sich in der Partei auch eine Strömung für die Anerkennung der Provisorischen Regierung herausbildete, die sowohl die Kontrolle der Sowjets durch Menschewiki und SR als auch die Begrenzung und Behinderung des unabhängigen Kampfes der Arbeiterklasse akzeptierte.

Die politische Linie, die Lenin in seinen Briefen aus der Ferne darlegte – keine Unterstützung der bürgerlichen Regierung, kein Abweichen von der Ablehnung des Kriegs durch die Partei sowie Kampf für die Machtübernahme durch Sowjets und Arbeiterklasse – wurde von der bolschewistischen Führung ignoriert. In wesentlichen Teilen abgeändert, wurde sogar nur einer von seinen vier Briefen in der Prawda veröffentlicht. Noch dazu war der Teil entfernt worden, in dem Lenin jeden, der die Provisorische Regierung unterstützte, als „Verräter der Arbeiter, ein Verräter an der Sache des Proletariats, an der Sache von Frieden und Freiheit“ anprangerte.(34)

Kamenew und Stalin argumentierten, die kritische Unterstützung für die Provisorische Regierung sei notwendig, um die Errungenschaften des Februar zu festigen und optimale Bedingungen für die Bolschewiki und ihren Kampf für die zukünftige Errichtung der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zu schaffen, wodurch die bürgerliche Revolution in Russland „vollendet“ würde.

Trotzki schrieb dazu: „Die Fraktion Kamenew-Stalin verwandelte sich immer mehr in die linke Flanke der sogenannten revolutionären Demokratie und schloss sich der Mechanik des parlamentarischen Hinter-den Kulissen-‚Drucks‘ auf die Bourgeoisie an“.(35)

Ende März waren auf verschiedenen Ebenen Diskussionen über eine Wiedervereinigung der seit Langem getrennten bolschewistischen und menschewistischen Strömungen im Gange, die auf gegenseitiger, kritischer oder sonstwie gearteter Unterstützung für die Provisorische Regierung und auf der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ beruhen sollte.

Während die Parteien im Sowjet die Macht an die Provisorische Regierung aushändigen wollten, schmiedeten Kräfte aus den bürgerlichen Parteien gemeinsam mit ehemaligen zaristischen Generalen hinter den Kulissen für den Tag, an dem die Revolution ausreichend geschwächt sein würde, ein Komplott zur blutigen Niederschlagung der Arbeiterklasse.

Mit jedem Kompromiss, den die Sowjets und insbesondere die Bolschewiki eingingen, nahm die Gefahr der Konterrevolution zu.

Lenin war sich seiner Verantwortung und der möglichen Konsequenzen seiner Entscheidungen und Maßnahmen als politischer Führer voll und ganz bewusst. Er erfasste die Brisanz der Situation. Die Bolschewistische Partei sollte in eine Stütze der Kapitalistenklasse verwandelt werden und ihr bei der Fortführung des Kriegs behilflich sein.

Trotz seines jahrelangen Exils schätzte Lenin die Qualitäten seiner Partei und ihrer Mitglieder richtig ein. Sie waren im Marxismus ausgebildet, politisch bewusst und der Sache des Sozialismus ergeben. Er konnte darauf bauen, dass die Positionen Kamenews und Stalins in der bolschewistischen Bewegung und bei ihrer Basis auf Widerstand trafen. Jedenfalls fanden in Russland atemberaubend schnelle Veränderungen statt, die Bolschewistische Partei steckte in einer Krise und seine persönliche Anwesenheit in Petrograd war unbedingt erforderlich.

In einer Diskussion russischer Exilanten am 19. März in Zürich schlug der führende Menschewik Julius Martow vor zu versuchen, eine Vereinbarung mit der deutschen Regierung zu treffen, um Deutschland zu durchqueren. Dann könnten sie über die Ostsee Richtung Schweden fahren und über Finnland nach Russland reisen. Martow schlug vor, dass sie als Gegenleistung die Zusicherung abgeben könnten, in Russland um die Entlassung deutscher Kriegsgefangener nachzusuchen.

Auf diesen Vorschlag ging Lenin sofort ein. Es war ihm vollkommen bewusst, dass chauvinistische Kräfte in Russland jeden, der über Deutschland zurückkam, verleumden würden, weil er Hilfe vom „Feind“ angenommen habe. Er legte deshalb großen Wert darauf, dass die Bedingungen seiner Durchreise transparent gestaltet wurden und keinerlei Zugeständnisse hinsichtlich revolutionärer Grundsätze enthielten.

Die genauen Modalitäten wurden vom schweizerischen Marxisten Fritz Platten mit der deutschen Botschaft in Zürich ausgehandelt.

Nach dem Bericht von Krupskaja wurde festgelegt,

  • dass den russischen Exilanten, ohne Rücksicht auf ihre Haltung zum Krieg, erlaubt wurde durch Deutschland zu reisen,
  • dass ohne Plattens Erlaubnis niemand die Waggons der Exilanten betreten durfte,
  • dass weder das Gepäck der Exilanten durchsucht, noch ihre Pässe kontrolliert werden durften,
  • dass sich die Exilanten für die Entlassung einer entsprechenden Anzahl von deutschen und österreichischen Gefangenen in Russland einsetzen würden.(36)

Im sogenannten „verplombten Zug“ verließen Lenin und 29 weitere Personen am 27. März Zürich. Zu den Passagieren zählten auch Führungskader der Bolschewiki, wie Krupskaja, Inessa Armand und Grigori Sinowjew.

Nach ihrer Überfahrt über die Ostsee erreichten sie am 31. März Schweden. Von dort aus passierten sie die Grenze zu Finnland und nahmen einen Zug nach Petrograd. Nach Krupskajas Erinnerung fragte Lenin, „ob wir wohl bei unserer Ankunft verhaftet werden“. Seine Genossen „lächelten“, berichtet sie.

Am späten Abend des 3. April 1917 traf Lenin am Finnischen Bahnhof in Petrograd ein.

Von einer Verhaftung konnte keine Rede sein. Tausende Arbeiter und Soldaten, Anhänger der Bolschewiki, hatten sich zu Lenins Begrüßung versammelt. Ein Strauß Rosen wurde ihm überreicht. Im Namen der Sowjets wurde er persönlich vom Menschewiken NikolosTschcheidse begrüßt, der ihn nachdrücklich bat, die versöhnliche Linie des Exekutivkomitees des Sowjets zu unterstützen.

Stattdessen rief Lenin in einer Rede voller Leidenschaft zur sozialistischen Revolution auf. Unter vier Augen knöpfte er sich Kamenew vor, weil er in der Prawda mit der Vaterlandsverteidigung Positionen Raum gegeben hatte, die den Krieg befürworteten.

Was dann folgte, bezeichnete Leo Trotzki als „Wiederbewaffnung der Partei“.

Am nächsten Tag, dem 4. April, trug Lenin bei einem Treffen bolschewistischer Delegierter für den Petrograder Sowjet der Arbeiter-und Soldatendeputierten seine „Aprilthesen“ vor. Anschließend wiederholte er sie noch einmal bei einem gemeinsamen Treffen von Delegierten der bolschewistischen und der konkurrierenden menschewistischen Strömung.

Worin bestanden die Aprilthesen? In dem in 10 Unterpunkte gegliederten Dokument umriss Lenin seine Haltung zur Provisorischen Regierung und zum Krieg sowie seine Einschätzung der historischen Bedeutung der Sowjets als neue und höhere Staatsform. Die dringendsten wirtschaftlichen Maßnahmen wurden aufgezählt, die für die Änderung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der ländlichen Bauernschaft in Russland objektiv notwendig waren. Des Weiteren wurde die Umbenennung der russischen Sozialdemokratischen Partei in Kommunistische Partei gefordert.

Auf das vielleicht Wichtigste ging Lenin am Schluss mit Nachdruck ein: Die Bolschewiki müssten die Initiative zur Gründung einer neuen revolutionären Internationalen ergreifen. Damit wandte er sich nicht nur gegen die Parteien der Zweiten Internationalen, die im Krieg den Sozialismus verraten hatten, indem sie ihre eigene Bourgeoisie unterstützten, sondern gegen all diejenigen „Zentristen“, die sich weigerten, von diesen Parteien zu brechen.

Im Folgenden werde ich einen Überblick über die Aprilthesen geben:(37)

Punkt 1: Keine Veränderungen in der Haltung der Partei zum Krieg.

In unserer Stellung zum Krieg, der von Seiten Russlands auch unter der neuen Regierung Lwow und Co – infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung – unbedingt ein räuberischer, imperialistischer Krieg bleibt, sind auch die geringsten Zugeständnisse an die „revolutionäre“ Vaterlandsverteidigung unzulässig...

In Anbetracht dessen, dass breite Schichten der revolutionären Vaterlandsverteidiger aus der Masse es zweifellos ehrlich meinen und den Krieg anerkennen in dem Glauben, dass er nur aus Notwendigkeit und nicht um Eroberungen geführt werde, in Anbetracht dessen, dass sie von der Bourgeoisie betrogen sind, muss man sie besonders gründlich, beharrlich und geduldig über ihren Irrtum, über den unmittelbaren Zusammenhang von Kapital und imperialistischem Krieg aufklären, muss man den Nachweis führen, dass es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist, den Krieg durch einen wahrhaft demokratischen Frieden und nicht durch einen Gewaltfrieden zu beenden.

Die entscheidende Aussage war hier Lenins Gegenüberstellung der räuberischen Interessen der Bourgeoisie und der „Ehrlichkeit“ der Massen, die der Position der revolutionären Vaterlandsverteidigung anhingen. Damit griff Lenin auf das gesamte Erbe des Bolschewismus zurück, zu dessen Grundpfeilern seit seinem Werk Was tun? die Einsicht gehörte, dass sozialistisches Bewusstsein, entgegen dem spontanen bürgerlichen Bewusstsein, in die Arbeiterklasse hineingetragen und in ihr verankert werden musste.

Lenin und die Bolschewiki hatten immer daran festgehalten, dass sich die marxistische Partei dem bürgerlichen Bewusstsein in der Arbeiterklasse unter allen Umständen entgegenstellen und die Arbeiter „geduldig aufklären“ musste, um sie zu überzeugen und für einen sozialistischen Standpunkt zu gewinnen. Unter der Bedingung eines extremen Anpassungsdrucks an vorherrschende Ansichten war der Rückgriff auf diese grundlegende Einsicht unter politisch fortgeschrittenen Arbeitern, die von den Bolschewiki jahrzehntelang erzogen und beeinflusst worden waren, von größter Bedeutung.

Lenin erklärte dem bolschewistischen Kader, es mache nichts aus, wenn die Partei gegenwärtig in der Minderheit sei. Ihre Aufgabe bestand darin, die Wahrheit zu sagen. Die Logik des Klassenkampfs werde den konterrevolutionären Charakter Kerenskis und der Menschewiki offenlegen. Im entscheidenden Stadium würde das Zusammenfallen von Parteiprogramm und objektiven Verhältnissen die Bolschewiki in die Lage versetzen, die Masse der Arbeiterklasse für die Perspektive der sozialistischen Revolution zu gewinnen.

Punkt 2: Lenins Übernahme der Theorie der „ununterbrochenen“, bzw. „permanenten Revolution“, die vor allem Leo Trotzki zugeschrieben wird.

Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muss.

Lenin hatte, im Gegensatz zu Trotzki, die Ansicht vertreten, dass Russlands wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit ein objektives Hindernis für die Bildung einer Arbeiterregierung – die Diktatur des Proletariats – darstellte. Der Großteil der Bevölkerung, die riesige ländliche Bauernschaft, gehörte dem Kleinbürgertum an und war nur an einer Landreform und an demokratischen Rechten interessiert. Die Bauernschaft hatte kein grundsätzliches, durch ihre Klassenzugehörigkeit begründetes Interesse am Sozialismus.

Deswegen hatte Lenin in seinem theoretischen Modell die Errichtung einer Art von Zwischenregime in Russland entworfen – die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ –, in der die sozialistische Arbeiterbewegung ein Bündnis mit den radikalsten Bauernparteien schließen würde, um möglichst weitgehende Landreformen und demokratische Maßnahmen durchzuführen. Dies sollte dann als Triebkraft für eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die Vergrößerung der Arbeiterklasse wirken, wodurch optimale Bedingungen für die zukünftige Verwirklichung sozialistischer Maßnahmen geschaffen würden.

Lenin hatte allerdings die Frage nicht beantwortet, welche Klasse und damit auch welche Interessen in einer solchen „demokratischen Diktatur“ vorherrschen würden. Daher blieb auch ungeklärt, wie sie auf den unvermeidlichen Ausbruch von Konflikten zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse reagieren würde.

Im April 1917 trat Lenin dann eindeutig für die Bildung eines Arbeiterstaates ein, der die Zustimmung der Mehrheit der Bauernschaft durch weitgehende Landreformen und Demokratie gewinnen und behalten würde.

Als einzelnes Land betrachtet war Russland sicherlich von wirtschaftlicher und sozialer Rückständigkeit geprägt. Auf Weltebene, so hatte Lenin es eingeschätzt, bedeutete der imperialistische Krieg jedoch, dass die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus – eine integrierte Weltwirtschaft – vollständig herangereift waren. Der Arbeiterklasse in Russland stellte sich die Aufgabe, die Gelegenheit zur Machtergreifung beim Schopf zu packen und sie für das Vorankommen der Weltrevolution zu nutzen. Was in Russland stattfand, würde ein Schritt zur Entfaltung der weltweiten sozialistischen Planwirtschaft sein.

In den Debatten innerhalb der Bolschewistischen Partei wurde Lenin durchaus zu Recht unterstellt, er vertrete Positionen des „Trotzkismus“. In allen grundsätzlichen Aussagen stimmte die Stoßrichtung der Aprilthesen mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überein.

Punkt 3: Keine Unterstützung für die Provisorische Regierung. In einer vernichtenden Kritik an der Führung des Sowjets und der Kamenew-Stalin-Fraktion in der Bolschewistischen Partei wurde in den Aprilthesen unverblümt erklärt:

Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung. Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, insbesondere hinsichtlich des Verzichts auf Annexionen.

Entlarvung der Provisorischen Regierung, statt der unzulässigen, Illusionen verbreitenden „Forderung“, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören, imperialistisch zu sein.

Punkt 4: Eine objektive Feststellung des derzeitigen Kräfteverhältnisses und der Bedeutung der Sowjets.

Anerkennung der Tatsache, dass sich unsere Partei in den meisten der Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Minderheit, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit befindet und einem Block aller kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente gegenübersteht, die dem Einfluss der Bourgeoisie erlegen sind und diesen Einfluss in das Proletariat hineintragen – von den Volkssozialisten und Sozialrevolutionären bis zum Organisationskomitee (Tschcheidse, Zereteli usw.) Steklow usw. usf.

Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und dass daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen lässt, nur in geduldiger, systematischer, beharrlicher, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen angepasster Aufklärung über die Fehler ihrer Taktik bestehen kann.

Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch Erfahrung von ihren Irrtümern befreien.

In einer Organisation, in der beinahe der Standpunkt Oberhand gewonnen hätte, die Provisorische Regierung sei kritisch zu unterstützen, weil die Voraussetzungen für die Errichtung einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ noch nicht bestanden, hatten diese Aussagen Lenins, wie Professor Alexander Rabinowitch schreibt, eine explosive Wirkung.

Lenin setzte sich nicht nur damit durch, dass die Macht in die Hände der Sowjets übergehen musste, sondern auch damit, dass der Kampf um die Sowjetmacht nur von den Bolschewiki in Abgrenzung zu allen anderen politischen Tendenzen vorangebracht werden konnte.

Punkt 5: Der Sowjet als höhere Staatsform

Im fünften Punkt plädierte Lenin unmissverständlich für die Abschaffung des kapitalistischen Staates und die Errichtung einer höheren Form der Staatsmacht: die Diktatur des Proletariats, die die ärmeren Teile der Bauernschaft führt:

Keine parlamentarische Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts, – sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von oben bis unten.

Abschaffung der Polizei, der Armee und Beamtenschaft.

Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines Facharbeiters hinaus.

Es folgten weitere Punkte, die eine radikale Landreform skizzierten, die auf Kosten der Großgrundbesitzer durchgeführt werden sollte, um dadurch die Sympathien der Bauernschaft zu gewinnen. Weiter die Kontrolle über das Finanzwesen, Produktion und Verteilung durch die Arbeiterklasse und durch ihre Sowjets auf Kosten der Kapitalistenklasse.

Punkt 6 forderte die Verstaatlichung des Bodens und die Enteignung großer Ländereien, die sich im Besitz von Grundbesitzern befanden. Damit sollte den Bestrebungen und den Forderungen der Bauernschaft entsprochen werden.

Punkt 7 forderte die Zusammenlegung der Banken zu einer einzigen, von den Sowjets kontrollierten Nationalbank.

Punkt 8 forderte die Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung.

Punkt 9 trat für eine Parteikonferenz ein, auf der das Parteiprogramm auf den Kampf für die Sowjetmacht ausgerichtet werden sollte. Der Parteiname sollte außerdem von „Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Russlands“ in „Kommunistische Partei“ geändert werden.

Punkt 10: Eine neue Internationale.

Es hieß schlicht: „Wir müssen die Initiative zum Aufbau einer revolutionären Internationalen ergreifen, einer Internationalen, die gegen Sozialchauvinisten und gegen den ,Zentrismus‘ ist.“

Lenin definierte den Zentrismus als Strömung in der Zweiten Internationalen, die zwischen Chauvinisten (= Vaterlandsverteidigern) und Internationalisten schwankt. Als ihre Vertreter nannte er Kautsky und Co. in Deutschland, Longuet und Co. in Frankreich, Turati und Co. in Italien, MacDonald und Co. in Großbritannien und – höchst brisant - Tschcheidse und Co. in Russland. Also auch die Menschewiki, mit denen einige bolschewistische Gremien schon Gespräche führten und mit denen nach den Vorstellungen Stalins nur ein paar Tage zuvor eine wiedervereinigte Organisation hatte aufgebaut werden sollten.

Die Schockwelle, die die Aprilthesen unter den Bolschewiki auslösten, war noch harmlos im Vergleich zur Reaktion der Menschewiki. Wie sich der Menschewik Schanow in seinen Memoiren erinnert, wurde Lenins Vortrag mit Bezeichnungen, wie „Delir eines Verrückten“ und „primitiver Anarchismus“ quittiert. Der führende Menschewist Skobelew bezeichnete Lenin als „verblassten Stern“, der sich außerhalb der Reihen der Bewegung befinde.(38)

Lenin wurde zwar nicht sofort von der Führung der Bolschewistischen Partei unterstützt, er war aber mit Sicherheit kein „verblasster Stern“. Sein Eingreifen war für die weitere politische Entwicklung ausschlaggebend.

Am 6. April wurde Lenin bei einem Treffen des bolschewistischen Zentralkomitees von Kamenew und Stalin angegriffen.

Am 7. April erschienen die Thesen in der Prawda unter dem Vorbehalt, dass sie lediglich Lenins Meinung wiedergäben.

In der Mitgliedschaft der Partei waren jedoch schon heftige Diskussionen und Umorientierungen im Gange.

Am selben Tag, dem 7. April, beendeten im Sowjet elf bolschewistische Delegierte und drei andere ihre „kritische Unterstützung“ für die Provisorische Regierung und stimmten gegen eine Resolution der Mehrheit aus Menschewiki/SR, mit der der Sowjet seine Zustimmung zu einer sogenannten „Freiheitsanleihe“ zur Weiterfinanzierung des Krieges geben sollte.

Am 8. April startete Kamenew im Auftrag der Herausgeber der Prawda einen Angriff auf die Aprilthesen. Er schrieb:

Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, dass die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische berechnet ist...(39)

Zwischen dem 8. und dem 13. April schrieb Lenin seine Briefe über die Taktik als Antwort auf die Position Kamenews. Sie zirkulierten in der bolschewistischen Führung in Petrograd und wurden vor dem Parteitag vom 24.-29. April als Broschüre veröffentlicht.

In den Briefen über die Taktik behandelte Lenin schwerpunktmäßig die in den Aprilthesen dargestellte Abwendung von der früheren bolschewistischen Perspektive der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Kamenew und weitere Parteimitglieder hielten jedoch an dieser Perspektive fest.

Lenin unterstrich, dass die Staatsmacht in der Februarrevolution an die Bourgeoisie in Gestalt der Provisorischen Regierung übergegangen war. Insofern, so argumentierte er gegen Kamenew, sei die bürgerlich-demokratische Revolution beendet.

Auf das mechanistische Gegenargument, dass die bolschewistische Partei stets betont hatte, die bürgerlich-demokratische Revolution könne nur durch die „demokratische Diktatur“ verwirklicht werden, erwiderte Lenin:

Ich antworte: Die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im Allgemeinen durch die Geschichte vollauf bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet als ich (oder wer auch immer) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter.

Diese Tatsache ignorieren, sie vergessen, hieße es jenen „alten Bolschewiki“ gleichzutun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine auswendig gelernte Formel wiederholen, anstatt die Eigenart der neuen, der lebendigen Wirklichkeit zu studieren.

Die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ ist in der russischen Revolution schon Wirklichkeit geworden, denn diese „Formel“ beinhaltet lediglich das Wechselverhältnis der Klassen, nicht aber die konkrete politische Institution, die dieses Verhältnis, dieses Zusammenwirken realisiert. Der „Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ – da habt ihr die vom Leben bereits verwirklichte „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“.

Diese Formel ist bereits veraltet. Aus dem Reich der Formeln hat das Leben sie in das Reich der Wirklichkeit versetzt, sie zu Fleisch und Blut werden lassen, sie konkretisiert und sie eben dadurch modifiziert.(40)

Lenin hielt an der These fest, dass im nächsten Stadium der Revolution ein Kampf stattfinden werde, um „die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Teile der Bauernschaft zu legen“, und schrieb ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen:

Wer jetzt lediglich von „revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für „bolschewistische“ vorrevolutionäre Raritäten (Archiv „alter Bolschewiki“ könnte man es nennen).(41)

In diesem wie in weiteren Dokumenten erklärte Lenin genau, was er mit „demokratischer Diktatur“ meinte, die „in einer gewissen Form und bis zu einem gewissen Grade“ in den Sowjets schon verwirklicht wurde.

Die liberale Bourgeoisie hatte in der Februarrevolution keine bedeutende Rolle gespielt. Die Revolution war von der Arbeiterklasse eingeleitet und geführt worden. Ihr Erfolg hing jedoch von der Parteinahme der Bauernmassen ab, die sich nicht mit einem Aufstand auf dem Land, sondern zu Hunderttausenden an der Meuterei gegen die zaristische Selbstherrschaft beteiligten. Aus der Bauernschaft ausgehoben und in den imperialistischen Krieg geworfen, sahen die bäuerlichen Soldatenmassen den Sowjet als die Institution an, die den Frieden bringen konnte.

Die Führung des Sowjets weigerte sich, die Macht auszuüben, die ihr von der Arbeiterklasse und den bäuerlichen Soldatenmassen überreicht worden war. Stattdessen trat sie, wie Lenin schrieb, die Macht freiwillig an die Bourgeoisie ab und machte sich durch ihre Unterstützung für die Provisorische Regierung freiwillig zu einem Anhängsel der Bourgeoisie.

Die Bolschewiki hatten der Arbeiterklasse geduldig zu erklären, dass ihre Klasseninteressen nur durch die Weiterführung der Revolution bis zu ihrem notwendigen „zweiten Stadium“, der Übernahme der ganzen Staatsmacht durch die Sowjets, durchgesetzt werden konnten.

Die Sowjets, schrieb Lenin, „werden besser, praktischer und richtiger entscheiden, welche Schritte zum Sozialismus man tun kann und wie man sie tun kann. Die Kontrolle über die Banken, die Verschmelzung aller Banken zu einer einzigen, das ist noch nicht Sozialismus, aber ein Schritt zum Sozialismus... Aber was zwingt zu solchen Schritten?

Der Hunger. Die Zerrüttung der Wirtschaft. Der drohende Zusammenbruch. Die Schrecken des Krieges. Die schrecklichen Wunden, die der Krieg den Menschen schlägt.”(42)

Am 10. April reichte Lenin seinen Programmentwurf für die bolschewistische Konferenz mit dem Titel Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (43)zur Veröffentlichungein. Er wurde der Öffentlichkeit vor dem September nicht zugänglich gemacht, zirkulierte jedoch, wie seine Briefe, in der Bolschewistischen Partei. Lenin schrieb später, dass ein aufmerksamer Leser bemerkt haben dürfte, dass seine Broschüre als Entwurfsvorlage für zahlreiche Konferenzresolutionen diente.

Band 24 der Gesammelten Werke von Lenin enthält eine Reihe von Artikeln und Kommentaren, die er im Vorfeld der Konferenz schrieb und in denen er die Perspektive der Aprilthesen untermauerte.

Den letzten Teil meines Vortrags möchte ich den wohl entscheidenden Themen der Aprilthesen widmen. Lenin hat sie ziemlich detailliert, sowohl in den Briefen über die Taktik als auch in Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution ausgearbeitet.

Dies waren:

Erstens die Bedeutung des Sowjets und zweitens die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen, Dritten Internationalen, die den Kampf für die sozialistische Weltrevolution politisch anleiten sollte.

Lenin beurteilte die Sowjets im Rahmen der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels über die welthistorische Bedeutung der Pariser Kommune, in der die Masse der Pariser Arbeiterklasse ihre Herrschaft über die französische Bourgeoisie 1871 kurze zwei Monate lang aufrechterhalten konnte.

Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus analysierten sowohl ihre Erfolge als auch die Lehren aus ihren Fehlern. Sie verstanden die Pariser Kommune als das erste Auftreten einer neuen Staatsform zur Verteidigung der Arbeitermacht gegen die Versuche, wieder bürgerliche Verhältnisse einzuführen. Den Institutionen der Kommune fiele die Führungsrolle bei der Umwandlung in eine klassenlose Gesellschaft zu, die den Staat überflüssig machen werde – das heißt, sie repräsentierte die erste „Diktatur des Proletariats“.

Lenin unterstrich in Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, dass „sich der Marxismus vom Anarchismus darin unterscheidet, dass er die Notwendigkeit eines Staates und einer Staatsmacht in der Periode der Revolution generell und speziell in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus anerkennt“.

„Gerade einen solchen Staat vom Typus der Kommune“, schrieb er weiter, „hat die russische Revolution in den Jahren 1905 und 1917 hervorzubringen begonnen.“(44)

Die Bolschewistische Partei stand vor der Aufgabe, der Arbeiterklasse bewusst zu machen, dass der von ihr geschaffene Sowjet die neue, höhere Staatsform war, die für die Verwirklichung des Sozialismus notwendig war. Nur die Sowjets waren durch die Einführung des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln in der Lage, die Demontage und Zerschlagung der alten staatlichen Bürokratie zu garantieren, den Wiederaufbau der Polizei zu verhindern, den Militärapparat abzuschaffen und das Wirtschaftsleben im Interesse der Mehrheit zu reorganisieren.

Heute würde Lenin Millionen Arbeitern auf der ganzen Welt aus dem Herzen sprechen, müssen sie doch mitansehen, wie parlamentarische Demokratien zu militaristischen oder faschistischen Herrschaftsformen mutieren und die militärisch-polizeilichen Geheimdienste ausbauen. Lenin schrieb:

Von der parlamentarischen bürgerlichen Republik ist die Rückkehr zur Monarchie (wie die Geschichte auch bewiesen hat) überaus leicht, denn die ganze Unterdrückungsmaschine: das Heer, die Polizei, die Beamtenschaft, bleibt unangetastet. Die Kommune und die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten zerschlagen und beseitigen diese Maschine.

Die parlamentarische bürgerliche Republik beengt und drosselt das selbständige politische Leben der Massen sowie deren unmittelbare Teilnahme am demokratischen Aufbau des ganzen Staatslebens von unten bis oben. Das Gegenteil ist bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten der Fall.(45)

In den darauffolgenden Monaten sollte Lenin einen Großteil seiner Zeit der Abfassung seines monumentalen Werks Staat und Revolution und der Analyse und Ausarbeitung der Frage des Arbeiterstaats widmen.

Nachdem die erste Stufe der Revolution abgeschlossen, und die Sowjets errichtet waren, betonte Lenin, durfte die Arbeiterklasse nicht zulassen, dass die Bourgeoisie die Macht an sich riss, sondern musste die Revolution weiterführen.

Dieses Gebot entsprach nicht nur den russischen, sondern vor allem auch den weltweiten Verhältnissen.

In einer prägnanten Zusammenfassung der permanenten Revolution, die Lenin übernommen hatte, hieß es im Programmentwurf der Bolschewistischen Partei:

Der Krieg ist durch die Entwicklung des Weltkapitals in einem halben Jahrhundert, durch dessen milliardenfache Fäden und Verbindungen hervorgerufen worden. Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demokratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, an das Proletariat.

Die russische Revolution vom Februar/März 1917 war der Beginn der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Diese Revolution hat den ersten Schritt zur Beendigung des Krieges getan. Erst der zweite Schritt kann seine Beendigung sicherstellen, nämlich den Übergang der Staatsmacht an das Proletariat. Das wird der Anfang des „Durchbruchs der Front“, der Front der Interessen des Kapitals im Weltmaßstab sein, und erst nachdem das Proletariat diese Front durchbrochen hat, kann es die Menschheit von den Schrecken des Krieges erlösen, ihr das Glück eines dauerhaften Friedens sichern.

Und an einen solchen „Durchbruch der Front“ des Kapitals hat die russische Revolution das Proletariat Russlands bereits dicht herangeführt, indem sie die Sowjets der Arbeiterdeputierten geschaffen hat.(46)

Der internationale Charakter der russischen Revolution und die „internationalen Verpflichtungen der Arbeiterklasse in Russland“, wie Lenin sie verstand, waren der wesentliche Grund für sein Beharren darauf, dass die Bolschewiki, die sich in Kommunistische Partei umbenannten, sofort die Dritte Internationale gründen sollten.

Schonungslos klagte Lenin die internationale zentristische Strömung an, die angeblich den Verrat der Zweiten Internationalen bekämpfte, jedoch Frieden schaffen wollte, indem sie Druck auf die imperialistische Bourgeoisie ausübte. Gleichzeitig weigerte sie sich, offen mit all jenen zu brechen, die sich im Krieg mit ihrer eigenen herrschenden Klasse solidarisiert hatten. Diese Strömung bezeichnete Lenin als Sozialchauvinisten.

Der Kern der Sache, schrieb er im Programmentwurf, bestehe darin, dass das „Zentrum“ nicht „von der Notwendigkeit der Revolution gegen die eigenen Regierungen überzeugt ist, sie nicht propagiert, dass es keinen rückhaltlosen revolutionären Kampf führt“.

Das „Zentrum“, schrieb er, sei „das Reich des Internationalismus in Worten und der Liebedienerei gegenüber den Sozialchauvinisten in der Tat.“

Die einzige Tendenz, die den Internationalismus und die Arbeiterklasse vertreten habe, so Lenin, sei die Zimmerwalder Linke von 1915 gewesen.

Die Diskussion, die durch die Aprilthesen ausgelöst wurde, widerlegt voll und ganz die Behauptungen der Gegner des Marxismus, die bürokratische Diktatur des stalinistischen Regimes sei organisch aus dem Bolschewismus hervorgegangen. Lenin überzeugte die Bolschewistische Partei nicht durch bürokratische Maßnahmen, und schon gar nicht Millionen von Arbeitern. Er verfügte weder über einen Apparat noch über Mittel zur Einschüchterung. Er überzeugte allein durch seine Ideen.

Die Behauptung, dass die Bolschewistische Partei ein monolithischer politischer Apparat gewesen sei, in dem nur Lenin das Sagen hatte, ist nicht plausibel und wird vom Ergebnis der bolschewistischen Konferenz vom 24. bis zum 29. April eindeutig widerlegt. Nach den Zahlenangaben aus Trotzkis Geschichte der russischen Revolution versammelten sich rund 150 Delegierte aus ganz Russland, die 79.000 Parteimitglieder – Arbeiter, Soldaten, Bauern, auch Intellektuelle, Facharbeiter und Künstler – vertraten und für sie sprachen. Einige von ihnen waren langjährige Revolutionäre, doch die meisten hatten sich der Partei erst Jahre oder Monate zuvor angeschlossen.

Die Zehntausende von Mitgliedern der Bolschewistischen Partei repräsentierten die Vorhut der Arbeiterklasse, sie waren eine von sozialistischem Bewusstsein durchdrungene fortschrittliche Schicht.

Die kämpferische Haltung, die in den Aprilthesen gegenüber der Provisorischen Regierung vertreten wurde, die Haltung zum Krieg und die Perspektive einer Machtübernahme durch die Sowjets gewannen auf der bolschewistischen Konferenz im April eine klare Mehrheit. Eine Resolution mit Lenins Forderung nach der sofortigen Gründung der Dritten Internationalen wurde jedoch abgelehnt. Es bedurfte monatelanger weiterer Diskussionen, bis die Notwendigkeit eines Bruchs nicht nur mit den Menschewiki in Russland, sondern auch mit ihren internationalen zentristischen Gesinnungsgenossen einhellige Zustimmung fand.

Von der Konferenz kehrten die Delegierten in die Parteiorganisationen vor Ort zurück und kämpften für den Kurs: „Alle Macht den Sowjets“.

1940 erklärte Trotzki nochmals die damalige komplexe Beziehung zwischen der Arbeiterklasse, der revolutionären Partei und der Führung der revolutionären Bewegung:

Ein überragender Faktor in der Reife des russischen Proletariats im Februar und März 1917 war Lenin. Er fiel nicht vom Himmel. Er personifizierte die revolutionäre Tradition der Arbeiterklasse. Damit Lenins Parolen ihren Weg zu den Massen fanden, musste es Kader geben, die, obwohl anfangs nur wenige, Vertrauen in die Führung hatten, Vertrauen, das auf den gesamten vergangenen Erfahrungen fußte. Diese Elemente nicht einzukalkulieren, heißt die lebendige revolutionäre Entwicklung zu ignorieren, sie durch eine Abstraktion “der „Kräfteverhältnisse“ zu ersetzen, denn die Entwicklung der Revolution besteht genau daraus, dass sich die Kräfteverhältnisse mit den Auswirkungen des Bewusstseins des Proletariats ständig, unaufhörlich und schnell ändern, die Einbindung rückständiger Schichten zunimmt, das Selbstbewusstsein der Klasse wächst. Die lebendige Triebfeder dieses Prozesses ist die Partei, wie auch die lebendige Triebfeder der Partei die Führung ist. Bedeutung und Verantwortung der Führung in einer revolutionären Epoche sind kolossal.(47)

Im selben Dokument schrieb Trotzki auch:

Die Ankunft Lenins in Petrograd am 3. April 1917 holte die bolschewistische Partei auf den Boden der Tatsachen zurück und befähigte sie die Revolution zum Sieg zu führen. Unsere Wissenden mögen sagen, das habe Lenin schon vom Ausland aus Anfang 1917 gemacht und die Oktoberrevolution wäre ohnehin „genauso“ abgelaufen. Aber so ist das nicht. Lenin verkörperte eines der lebendigen Elemente des historischen Prozesses. Er personifizierte den erworbenen Scharfsinn des aktivsten Teils des Proletariats Sein rechtzeitiges Erscheinen in der Arena der Revolution war notwendig, um die Vorhut in Bewegung zu setzen und ihr die Möglichkeit zu geben, Arbeiterklasse und Bauernmassen um sich zu sammeln Die politische Führung in den entscheidenden Augenblicken historischer Wendepunkte kann ebenso ein entscheidender Faktor werden wie das Oberkommando während der entscheidenden Momente im Krieg. Geschichte ist kein automatischer Prozess. Wenn es so wäre, warum Führer? Warum Parteien? Warum theoretische Auseinandersetzungen?(48)

Die Bedeutung von Trotzkis Fragen: warum Führer?, warum Parteien?, warum theoretische Auseinandersetzungen? wird durch das wohl entscheidendste Ergebnis der Aprilthesen belegt. Es war das Dokument, das nach 14 Jahren politischer Differenzen Wladimir Lenin und Leo Trotzki zusammenführte.

Im April 1917 sperrte der britische Imperialismus Trotzki in Kanada ein, um seine Rückkehr nach Russland aus dem erzwungenen Exil in New York zu verhindern. Hauptsächlich wegen der nicht verstummenden Forderungen der Petrograder Arbeiterklasse und der Bolschewiki beantragte der Außenminister der Provisorischen Regierung, Miljukow, in Großbritannien widerwillig die Freilassung Trotzkis.

Trotzki wurde aus der britischen Haft entlassen und ging am 16. April an Bord eines Schiffes nach Europa.

Während sämtlicher Ereignisse im April, die ich dargestellt habe, war Trotzki entweder im Gefangenenlager oder auf dem Meer, wo er sich damals mit niemandem austauschen konnte. Schließlich traf er am 4. Mai (nach dem Julianischen Kalender) in Russland ein. Die Aprilthesen oder eines der folgenden Dokumente hatte er noch nicht gelesen.

Später schrieb Trotzki in seiner Biographie über Lenin:

Von den April-Thesen Lenins erfuhr ich am zweiten oder dritten Tag nach meiner Ankunft in Petrograd. Das war das, was die Revolution brauchte.

Die erste Begegnung (von Lenin und Trotzki) fand wahrscheinlich am 5. oder 6. Mai statt. Ich sagte Lenin, dass mich nichts trenne von seinen April-Thesen und von dem gesamten Kurs, den die Partei nach seinem Eintreffen eingeschlagen hatte...(49)

Nach Trotzkis Schilderung drehte sich ihre anschließende Diskussion ausschließlich um die taktische Frage, wann er sich den Bolschewiki offiziell anschließen werde. Den Komitees der Interrayonisten gehörten wichtige Revolutionäre und etwa 3.000 Arbeiter an. Sie waren gegen die menschewistische Mehrheit, unterstützten die Bolschewiki jedoch nicht, was vor allem daran lag, dass sie mit Trotzkis Theorie der permanente Revolution und seiner langjährigen Kritik an der bolschewistischen Perspektive einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ übereinstimmten.

Trotzki glaubte, er könne die Mehrheit der Komitees der Interrayonisten ohne Weiteres davon überzeugen, dass sie sich ebenfalls der Bolschewistischen Partei anschließen sollten. So war es dann auch. Im August 1917 vereinigten sich die interrayonistischen Komitees formell mit den Bolschewiki.

Die politisch gestärkte Bolschewistische Partei, die hauptsächlich von Lenin und Trotzki geleitet wurde, gewann die Gefolgschaft der überwältigenden Mehrheit der russischen Arbeiterklasse, die dann mit der Unterstützung der riesigen Soldaten- und Bauernmassen den ersten Arbeiterstaat errichtete. Sie vertrat dabei explizit die Perspektive, dass die russische Revolution als Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution zu verstehen sei.

Das Zusammengehen von Lenin und Trotzki ist als eines der wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte zu betrachten. Zwei entscheidende Aspekte müssen von allen heutigen Revolutionären begriffen werden:

Eine Voraussetzung dafür war die Wiederbewaffnung der Partei mit der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution durch Lenin. Hätten die Bolschewiki Lenins Aprilthesen abgelehnt und an der „kritischen Unterstützung“ für die Provisorische Regierung und den Krieg, wie sie von Kamenew und Stalin vertreten wurde, festgehalten, hätte sich Trotzki ihnen nicht angeschlossen.

Von nicht minderer Bedeutung war, dass Trotzki die weitsichtige Haltung Lenins anerkannte, keinerlei Kompromiss mit dem Opportunismus einzugehen. Das ist es, was die heutige Generation von Revolutionären vor allem verstehen muss.

Seit der Konferenz von Zimmerwald 1915 hatte Lenin Trotzki als einen der „Zentristen“ bekämpft, die trotz entschiedener Ablehnung des Verrats der Zweiten Internationalen und ihres Kampfes für ein revolutionäres Antikriegsprogramms nicht offen zu einem Bruch und zur Bildung einer neuen, der Dritten Internationalen, aufgerufen hatten.

Seit 1903 hatte Lenin gegenüber Trotzki darauf bestanden, dass die strikte Abgrenzung von allen opportunistischen, das heißt bürgerlichen Bewegungen eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines unabhängigen, revolutionären und sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse war. Durch die Kriegsereignisse wurde Trotzki für diesen Standpunkt gewonnen, wie Lenin seinerseits für die wichtigsten Prinzipien der permanenten Revolution gewonnen wurde.

Die Verwandlung des menschewistischen „Zentrums“ in Russland und ähnlicher Gruppierungen in den USA und in Westeuropa in offen bürgerliche, pro-imperialistische, den Krieg befürwortende Strömungen hatte Trotzki vor Augen geführt, dass Lenins Bemühungen um eine radikale Spaltung von den Menschewiki 1903 von eminenter Bedeutung waren.

Einige Monate später – Trotzki hatte nach seiner Rückkehr nach Russland jede Vereinigung mit den Menschewiki ausgeschlossen und die Notwendigkeit der Dritten Internationalen anerkannt – sollte Lenin die Bemerkung machen, dass es „keinen besseren Bolschewiken“ gab. (50)

Lenin und Trotzki hatten 14 Jahre lang eine theoretische Schlacht geführt. 1917 gelangten sie zu einer gemeinsamen politischen Perspektive und zur gleichen Auffassung über die Art von Partei, die die russische Arbeiterklasse zur Übernahme der Macht führen und der internationalen Arbeiterklasse einen Weg nach vorn aufzeigen konnte.

Aus diesem Grund ist die Russische Revolution von 1917 die erste und bis heute die einzig erfolgreiche sozialistische Revolution.

Kein weiterer Versuch zur Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse wurde auf vergleichbare Weise vorbereitet und durchgeführt. Es ist vor allem ein Resultat der politisch kriminellen Rolle des stalinistischen Apparats, dass der Arbeiterklasse im Laufe der 1920er Jahre die Macht wieder entrissen wurde und dann in den 1930er Jahren unzählige politisch gebildete, bolschewistische Intellektuelle und Arbeiter ausgerottet wurden.

Die Lehre aus der russischen Revolution lautet: In jedem Land braucht die Arbeiterklasse eine Sektion der Weltpartei, die sich auf die Theorie der permanenten Revolution und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution stützt, sich in einem unerbittlichen Kampf von allen bürgerlichen und anti-marxistischen Strömungen abgrenzt und die Unterschiede zu ihnen deutlich aufzeigt.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationalen ist diese Weltpartei, und nur sie bereitet die Arbeiterklasse auf die Revolutionen im einundzwanzigsten Jahrhundert vor.

Von der Aprilkrise zum Kornilow-Putsch: Lenins Staat und Revolution

Wir veröffentlichen hier einen Vortrag von Barry Grey, dem Herausgeber der World Socialist Web Site in den USA, vom 17. Oktober 2017. Er eröffnete den zweiten Teil der Online-Vortragsreihe, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale aus Anlass des 100. Jahrestags der Russischen Revolution von 1917 präsentierte.

Thema des heutigen Vortrags ist Lenins Staat und Revolution. Dieses Werk entstand im Sommer 1917, als sich Lenin erst am Stadtrand von Petrograd und dann in Finnland versteckt hielt. Lenin ging in den Untergrund, um der Verfolgung durch die bürgerliche Provisorische Regierung zu entkommen, die Jagd auf die Bolschewistische Partei machte, nachdem Anfang Juli Arbeiter und Soldaten in Massendemonstrationen auf die Straße gegangen waren.

Ende August, als Lenin noch im Untergrund war und Trotzki, Kamenew und andere führende Bolschewiki, wie auch viele bolschewistische Arbeiter und Soldaten, im Gefängnis saßen, unternahm General Kornilow einen Putschversuch. Der Chef der Provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, war in diese Pläne eingeweiht. Die Gegenmobilisierung der bewaffneten Arbeiterklasse, angeführt von den Bolschewiki, brachte die Unterstützung für die Bolschewiki rasch zurück und untergrub das Ansehen Kerenskis und seiner Verbündeten, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.

Lenins Staat und Revolution – Online-Vortrag von Barry Grey

Die Alternativen waren klar: entweder eine proletarische sozialistische Revolution oder ein konterrevolutionäres Blutbad, schlimmer noch als der Massenmord nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871.

In seiner Geschichte der Russischen Revolution äußert sich Trotzki folgendermaßen über Staat und Revolution:

„In den ersten Monaten seiner Illegalität schreibt Lenin das Buch Staat und Revolution, für das er das Hauptmaterial bereits in der Emigration, in den Kriegsjahren ausgewählt hatte. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der er praktische Tagesaufgaben überlegte, bearbeitet er jetzt theoretische Probleme des Staates. Er kann nicht anders: für ihn ist die Theorie tatsächlich eine Anleitung zum Handeln. ... Seine Aufgabe ist – die wahre ,Lehre des Marxismus vom Staate‘ wiederherzustellen.

Allein durch Wiederaufrichtung der Klassentheorie vom Staat, auf einer neuen, höheren historischen Grundlage verleiht Lenin Marxens Gedanken neue Konkretheit und somit auch neue Bedeutsamkeit. Doch ihre unermessliche Wichtigkeit erhält die Arbeit über den Staat vor allem dadurch, dass sie eine wissenschaftliche Einführung in die historisch größte Umwälzung darstellt. Marxens ,Kommentator‘ bereitete seine Partei auf die revolutionäre Eroberung eines Sechstels des Erdterritoriums vor.“ [51]

Welche Bedeutung Lenin seiner – wie er selbst sich ausdrückte – „historischen Ausgrabung“ der Schriften von Marx und Engels über die proletarische Revolution und den Staat beimaß, unterstreicht Trotzki durch den Hinweis: „Im Juli schreibt er Kamenew: ,Entre nous, sollte man mir den Garaus machen, bitte ich Sie, mein Heft Der Marxismus über den Staat … herauszugeben.‘“ [d. h. Lenins Notizen für „Staat und Revolution“. [52]

Lenin war entschlossen, in der Partei und der Vorhut der Arbeiterklasse Klarheit über die Grundfragen der sozialistischen Revolution zu schaffen. Zu diesem Zweck musste er die Lehren von Marx und Engels über den Staat erläutern und die Fälschungen der marxistischen Theorie durch die Opportunisten und Zentristen widerlegen, die in erster Linie von ihrem Haupttheoretiker Karl Kautsky ausgingen. Kautsky beschönigte die bürgerliche Demokratie und wollte den Marxismus in eine reformistische Lehre ummünzen. Lenin war sehr wohl bewusst, dass diese kleinbürgerlichen revisionistischen Tendenzen auch innerhalb der bolschewistischen Führung einen Widerhall fanden. Die Positionen des Zentrismus und der Vaterlandsverteidigung, die vor Lenins Rückkehr nach Russland und vor seinen „Aprilthesen“ unter dem Einfluss von Josef Stalin und Lew Kamenew vorgeherrscht hatten, waren nicht verschwunden.

Mit Staat und Revolution verschaffte Lenin der Partei und der Arbeiterklasse insgesamt die theoretischen Waffen für den Sturz der Provisorischen Regierung und den Übergang der Macht an die Sowjets. Dies zeigt sich auch in dem Untertitel, den Lenin für dieses Werk wählte: „Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution“.

Für Lenin war dies keine rein russische Frage, so dringend sich die taktischen und organisatorischen Probleme der Partei in Russland auch stellten. Es war eine internationale Frage. Staat und Revolution muss im Zusammenhang mit dem anderen großen theoretischen Werk gesehen werden, das er in der Hitze des Kriegs und der Revolution verfasste: Der Imperialismus.

Im Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale, zwei zusammenhängenden Ereignissen, sah Lenin den Anbruch eines neuen Zeitalters: der Epoche des Imperialismus, des höchsten Stadiums des Kapitalismus, des Zeitalters von Kriegen und Revolutionen. Von Anfang an ging er von der grundlegenden Einschätzung aus, dass der Krieg eine Krise des kapitalistischen Systems zum Ausdruck brachte, die weltweit einen revolutionären Kampf der Arbeiterklasse entfachen werde. Der Verrat der Zweiten Internationale, deren wichtigste Führer den Krieg unterstützten, bedeutete, dass der Kampf gegen den Imperialismus nur durch einen unerbittlichen Kampf gegen die Zweite Internationale geführt werden konnte und dass auf dieser Grundlage eine neue, Kommunistische Internationale gegründet werden musste.

Der Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die kleinbürgerliche Demokratie, die von den Menschewiki vertreten wurde, und dem Kampf gegen den imperialistischen Krieg trat in Russland sehr konkret hervor. Auf der Grundlage einer Verherrlichung der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus forderten die Menschewiki, dass die Sowjets und die Arbeiterklasse den Krieg als „revolutionären Krieg für Demokratie“ gegen den deutschen Militarismus und die preußische Monarchie unterstützen sollten. Auf der gleichen Grundlage gaben sie die Macht, die den Sowjets durch die Arbeiterrevolution zum Sturz des Zaren im Februar zugewachsen war, an die konterrevolutionäre Bourgeoisie unter Führung der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten) und an die Verbündeten der Bourgeoisie zurück, die in der Bürokratie des monarchistischen Staats und im Militär verankert waren.

Angesichts der offenen Konterrevolution richteten die Menschewiki ihr Feuer nicht gegen die Bourgeoisie und die Schwarzhunderter, sondern gegen die Bolschewiki, d. h. gegen die Arbeiterklasse.

In einem ganz grundlegenden Sinne rührte der Kampf, der in Staat und Revolution verkörpert ist, aus der Notwendigkeit, das Programm der sozialistischen Weltrevolution, von der die Russische Revolution ein untrennbarer Bestandteil war, zu formulieren und die neue Internationale als deren Führung aufzubauen.

Im Vorwort der ersten Auflage von Staat und Revolution betont Lenin eingangs die dringende praktische Relevanz der Fragen, die er in seinem Werk untersucht. Als Nächstes stellt er die Russische Revolution sofort in ihren welthistorischen Kontext und hebt den Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und der Frage des Staats hervor. Er betont, dass mit dem Aufkommen des Imperialismus der Unterdrückungsapparat des kapitalistischen Staats – das stehende Heer, die Polizei, die Staatsbürokratie – monströse Ausmaße annimmt. Die bürgerliche Demokratie verkommt zu einem bloßen Feigenblatt für Militarismus und staatliche Gewalt. Die Vorstellung eines friedlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, die einer früheren Periode des freien kapitalistischen Wettbewerbs entstammt, ist nun hoffnungslos veraltet.

Verstärkt werden diese Tendenzen durch den imperialistischen Krieg, in dem die großen industriellen und finanziellen Trusts noch enger mit dem Staatsapparat verschmelzen und sich der Monopolkapitalismus in staatsmonopolistischen Kapitalismus verwandelt.

In seiner Polemik Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, veröffentlicht im Oktober 1916, beschreibt Lenin die Verwesung der imperialistischen bürgerlichen Demokratie wie folgt:

„Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie verwischt sich gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault ... Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus.“ [53]

Zu Beginn seines Vorworts zu Staat und Revolution schreibt Lenin:

Die Frage des Staates gewinnt gegenwärtig besondere Bedeutung sowohl in theoretischer als auch in praktisch-politischer Hinsicht. Der imperialistische Krieg hat den Prozess der Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in staatsmonopolistischen Kapitalismus außerordentlich beschleunigt und verschärft. Die ungeheuerliche Knechtung der werktätigen Massen durch den Staat, der immer inniger mit den allmächtigen Kapitalistenverbänden verschmilzt, wird immer ungeheuerlicher. Die fortgeschrittenen Länder verwandeln sich – wir sprechen von ihrem „Hinterland“ – in Militärzuchthäuser für die Arbeiter.

Der Kampf um die Befreiung der werktätigen Massen vom Einfluss der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperialistischen Bourgeoisie im besonderen ist ohne Bekämpfung der opportunistischen Vorurteile in bezug auf den „Staat“ unmöglich.

... [Die Revolution] schließt anscheinend gegenwärtig (Anfang August 1917) die erste Phase ihrer Entwicklung ab, jedoch kann diese ganze Revolution überhaupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proletarischen Revolutionen, die durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen werden. Die Frage des Verhältnisses der sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat gewinnt somit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine höchst aktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen darüber, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der nächsten Zukunft zu tun haben. [54]

Von der Aprilkrise zum Kornilow-Putsch

Wenden wir uns nun der politischen Lage in Russland zum Zeitpunkt der Entstehung von Staat und Revolution zu.

Die bürgerliche Provisorische Regierung, die von der Unterstützung der menschewistischen und sozialrevolutionären Sowjetführer abhängig war, geriet im April in ihre erste große Krise. Grund war die Veröffentlichung eines Schreibens, in dem der Außenminister und Führer der Konstitutionellen Demokraten, Pawel Miljukow, zusicherte, dass die Regierung die imperialistischen Kriegsziele des gestürzten Zaren bis zum Sieg weiterverfolgen werde. Das Bekanntwerden dieses Schreibens löste eine bewaffnete Massendemonstration der Soldaten und Arbeiter in Petrograd aus, die den Rücktritt Miljukows forderten – die „Aprilkrise“.

Als Miljukow nicht mehr im Amt war und die Regierung an einem seidenen Faden hing, beschlossen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, in eine Koalitionsregierung einzutreten. Dadurch büßten sie in den Augen der zunehmend militanten Arbeiter und Soldaten viel Glaubwürdigkeit ein. Ende April übernahmen die Bolschewiki Lenins revolutionäre Linie: Opposition gegen den Krieg und die Provisorische Regierung, für den Kampf um die Arbeitermacht unter der Parole „Alle Macht den Sowjets!“ Die Unterstützung für die Bolschewiki in der Arbeiterklasse und unter den Soldaten begann schnell zu wachsen.

Trotzki schreibt in seiner Geschichte der Russischen Revolution, dass die Organisation der Bolschewiki in Petrograd Ende April 15.000 Mitglieder hatte. Ende Juni waren es schon über 82.000. Alexander Rabinowitch nennt in Prelude to Revolution etwas niedrigere, aber dennoch beeindruckende Zahlen. Demnach stieg die Zahl der Parteimitglieder in Petrograd von 2.000 im Februar auf 32.000 Anfang Juli.

Eine objektive Darstellung der Russischen Revolution, vom Februarumsturz bis zum Oktoberaufstand, widerlegt die zum 100. Jahrestag in den Medien und akademischen Kreisen weit verbreitete Darstellung, dass die Oktoberrevolution ein Putsch gewesen sei, den eine Handvoll Verschwörer hinter dem Rücken der Arbeiter und über deren Köpfe hinweg durchgeführt hätten. Eine der großen Stärken von Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution ist die anschauliche und genaue Beschreibung der großen Veränderungen im Bewusstsein der Massen. Er schildert ihr unabhängiges Eingreifen in den komplexen und widersprüchlichen Verlauf der Revolution ebenso wie die Beziehung zwischen der Massenbewegung und der entscheidenden politischen Intervention der Bolschewistischen Partei und ihrer Führung, vor allem Lenins.

Im Kapitel „Verschiebungen in den Massen“ schreibt Trotzki:

Das Anwachsen der Streiks und des Klassenkampfes überhaupt steigerte fast automatisch den Einfluss der Bolschewiki ... Dies erklärt jene Tatsache, dass die Betriebskomitees, die den Kampf für die Existenz ihrer Betriebe gegen die Sabotage der Administration und der Besitzer führten, lange vor dem Sowjet zu den Bolschewiki übergegangen waren. Auf der Konferenz der Betriebskomitees von Petrograd und Umgebung stimmten Anfang Juni von 421 Delegierten 335 für die bolschewistische Resolution ...

Alle partiellen Neuwahlen in die Sowjets brachten den Bolschewiki Siege. Am 1. Juni waren im Moskauer Sowjet bereits 206 Bolschewiki gegen 172 Menschewiki und 110 Sozialrevolutionäre. Die gleichen Verschiebungen, wenn auch langsamer, vollzogen sich in der Provinz. [55]

Im Juni war die aus Menschewiki und Sozialrevolutionären bestehende Führung des Petrograder Sowjets vollständig beherrscht von der Angst vor einem Arbeiteraufstand unter Führung der Bolschewiki. Vom 3. bis 24. Juni trat in Petrograd der erste Allrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zusammen. [In diesem Vortrag wird durchgängig der Julianische Kalender verwendet, d. h. der Kalender alten Stils, der in Russland vor der Revolution in Gebrauch war. Er liegt um 13 Tage hinter dem modernen Kalender zurück.] Nach dem Willen der sozialchauvinistischen Sowjetführung sollte der Kongress die Unterstützung für den Krieg und die bürgerliche Koalitionsregierung absegnen, an deren Spitze nun de facto Kerenski stand.

Irakli Zereteli (Führer der Menschewiki) und Viktor Tschernow (Führer der Sozialrevolutionäre) hofften, dass die Bekanntgabe einer neuen militärischen Offensive, die Kerenski während des Kongresses am 18. Juni eröffnete, eine Welle des Patriotismus auslösen und das weitere Anwachsen von sozialen Unruhen und politischer Unterstützung für die Bolschewiki unterbinden würde.

Der Kongress stimmte für die Unterstützung der Regierungskoalition und billigte stillschweigend die neue militärische Offensive. Als aber die Führung von der Absicht der Bolschewiki erfuhr, am 10. Juni unter der Parole „Alle Macht den Sowjets!“ eine – unbewaffnete – Großdemonstration der Arbeiter und Soldaten gegen den Krieg abzuhalten, sicherte sie sich die Mehrheit für eine Entschließung, mit der diese Aktion verurteilt wurde. Alle Parolen, die nicht von den Sowjetführern abgesegnet waren, wurden verboten. Die Bolschewiki sahen sich zu einem taktischen Rückzug gezwungen und sagten die Demonstration ab.

Zereteli, führendes Mitglied im Exekutivkomitee des Sowjets und zugleich Minister in der Koalitionsregierung, forderte am 11. Juni in einer Rede vor dem Sowjetkongress praktisch das Verbot der Bolschewiki. Er sagte:

Was hier stattgefunden hat, war nichts anderes als eine Verschwörung, eine Verschwörung zum Sturz der Regierung und zur Machtübernahme durch die Bolschewiki, die wissen, dass sie auf anderem Wege nie an die Macht kommen werden … Sollen die Bolschewiki uns ruhig anklagen – wir greifen nun zu anderen Methoden der Kriegsführung. Wir müssen die Waffen denen wegnehmen, die nicht wissen, wie sie mit Anstand damit umzugehen haben. Die Bolschewiki müssen entwaffnet werden. [56]

Der Sowjetkongress unterstützte Zeretelis Vorschlag nicht. Er genehmigte jedoch eine offizielle Demonstration am 18. Juni. Die Bolschewiki nahmen daran teil, und zum Schrecken der Menschewiki und Sozialrevolutionäre herrschten bei dieser Massenaktion bolschewistische Banner und Parolen vor.

Die Bühne für die „Julitage“ war bereitet. Lenin und Trotzki wussten um die Gefahr eines isolierten Aufstands in der Hauptstadt unter Bedingungen, in der es in den Provinzen und unter der Bauernschaft noch keine Massenunterstützung für eine neue Revolution gab. Sie dachten an das tragische Schicksal der Pariser Kommune, bei dem Adolphe Thiers und das französische Bürgertum die Unterstützung der Bauernschaft und die Isolation der Pariser Arbeiter ausnutzten, um ein Blutbad anzurichten. Dieses Muster hatte sich in gewisser Weise bei der Niederlage der Revolution von 1905 in Russland wiederholt.

Die wachsende Unterstützung für die Bolschewiki war eine Reaktion auf den Lebensmittelmangel, Preissteigerungen, die fortdauernde Schlächterei an der Front und das Ausbleiben nennenswerter Reformen durch die Regierung. Am Abend des 3. Juli, dem Tag vor dem Quasi-Aufstand vom 4. Juli, gewannen die Bolschewiki zum ersten Mal die Mehrheit unter den Arbeiterdeputierten des Petrograder Sowjets.

Lenin warnte wiederholt vor der Gefahr von Provokationen, mit denen die konterrevolutionäre Rechte eine bewaffnete Reaktion provozieren könnte, um einen Vorwand für massive Repression zu schaffen. Aber der Zorn der militanten Teile der Soldaten und Matrosen ließ sich nicht zügeln – auch nicht derjenigen, die unter dem Einfluss der Bolschewiki standen. Die Bolschewiki rieten öffentlich von der bewaffneten Aktion der Soldaten und Arbeiter in Petrograd am 4. Juli ab, konnten sie aber nicht verhindern. Selbst die eigene militärische Organisation der Partei beteiligte sich maßgeblich daran.

Unter diesen Bedingungen beschloss die Partei, die Aktion zu unterstützen, um sie nach Möglichkeit auf eine friedliche Demonstration zu beschränken und den absehbaren politischen Schaden zu begrenzen.

Mit Unterstützung der Sowjetführer gelang es der Regierung, loyale Truppen nach Petrograd zu holen und den Aufstand niederzuschlagen. Diese Niederlage wurde sofort für einen Angriff auf die Bolschewiki genutzt, um sie als ernsthafte Bedrohung zu beseitigen. Innerhalb von Stunden überfluteten die Zeitungen die Bevölkerung mit der Lüge vom deutschen Gold. Lenin und die Bolschewiki wurden als Söldner der deutschen Obersten Heeresleitung verleumdet.

Die Büroräume der Prawda wurden überfallen und ihre Druckmaschinen zertrümmert. Andere bolschewistische Zeitungsredaktionen wurden geschlossen. Hunderte von Bolschewiki unter den Matrosen von Kronstadt und in der Petrograder Garnison sowie unter den Arbeitern wurden verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Gegen Lenin, Trotzki, Kamenew, Sinowjew und andere bolschewistische Führer wurden Haftbefehle erlassen. Die Unterstützung für die Bolschewiki in der Armee und auch in Teilen der Arbeiterklasse ging zurück.

Die Unterdrückung im Anschluss an die Julitage war der Auftakt zu einer konterrevolutionären Offensive der Koalitionsregierung. Sofort ordnete sie die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front an. Die militärischen Befehlshaber erhielten die Befugnis, nach eigenem Ermessen auf desertierende russische Verbände schießen zu lassen. Die bolschewistischen Zeitungen wurden zu keiner Berichterstattung über militärische Operationen mehr zugelassen, und politische Versammlungen der Soldaten wurden verboten.

Am 18. Juli ernannte Kerenski General Kornilow zum Oberbefehlshaber der Armee. Kornilow unterhielt bekanntermaßen Verbindungen zu den Schwarzhundertern und war zuvor aus Protest gegen die „Einmischung“ des Sowjets in militärische Angelegenheiten von seinem Posten als Befehlshaber der Petrograder Garnison zurückgetreten.

Rabinowitch berichtet in Die Revolution der Bolschewiki, dass das Kabinett der Koalitionsregierung Anfang August darüber beriet, ob die Eisenbahnen, die Kohlebergwerke und die gesamte Rüstungsindustrie unter die Kontrolle des Militärs gestellt werden sollten. In diesen Unternehmen sollten Streiks, Aussperrungen, politische Treffen und Versammlungen jeglicher Art bis auf Weiteres verboten werden. Die Beschäftigten sollten obligatorische Mindestarbeitsquoten zugewiesen bekommen. Wer seine Quote nicht erfüllte, sollte fristlos entlassen und an die Front geschickt werden.

In einem Gespräch mit Generalstabschef Lukomski äußerte Kornilow am 11. August, es sei höchste Zeit, die von Lenin angeführten deutschen Agenten und Spione zu hängen und „den Arbeiter- und Soldatenrat auseinanderzutreiben, aber so, dass er nicht wieder zusammentritt“. In Bezug auf den neu ernannten Kommandeur der um Petrograd zusammengezogenen Verbände, General Krymow, brachte Kornilow Lukomski gegenüber seine Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass Krymow nicht zögern werde, „den ganzen Arbeiter- und Soldatenrat zu hängen“. [57]

Wegen der zunehmenden Antikriegsstimmung berief die Koalitionsregierung Mitte August die Moskauer Staatsberatung ein, um die Massen einzuschüchtern und die konterrevolutionäre Rechte als Gegengewicht zur neu erwachenden, bolschewistisch geführten Opposition aufzubauen. Mittlerweile arbeitete Kerenski hinter den Kulissen mit Kornilow zusammen, um auf militärischem Wege eine Diktatur zu errichten. Die Staatsberatung huldigte Kornilow als siegreichem Helden, und die Delegierten der Konstitutionellen Demokraten und Monarchisten verdammten die Sowjets.

Die Bolschewiki boykottierten die Staatsberatung nicht nur, sie riefen auch einen Generalstreik der Moskauer Arbeiter aus, der die Stadt während der gesamten Dauer der Beratung lahmlegte.

Die Auswirkungen der Repression nach den Julitagen und der Verleumdung vom deutschen Gold waren nach wenigen Wochen überwunden. Die Koalitionsregierung verlor weiter an Macht. Während sie noch die Büros der Prawda zerlegte und Jagd auf Bolschewiki machte, versetzte ihr der Zusammenbruch der militärischen Offensive Kerenskis einen vernichtenden Schlag. Am 6. Juli gingen die Deutschen zum Gegenangriff über und eroberten in kurzer Zeit Tarnopol an der Südwestfront Russlands zurück.

Rabinowitch schildert die politische Lage in der zweiten Julihälfte und in den ersten Augustwochen folgendermaßen:

Jeder Tag brachte neue Berichte über die Ausbreitung von Anarchie und Gewalt unter landhungrigen Bauern auf dem Lande, Wirrwarr in den Städten, zunehmende Militanz der Fabrikarbeiter, die Ohnmacht der Regierung gegenüber den Autonomieforderungen seitens der Finnen und Ukrainer, die anhaltende Radikalisierung der Soldaten an der Front und im Hinterland, katastrophale Ausfälle bei der Produktion und Verteilung lebensnotwendiger Güter, explodierende Preise und den wieder anwachsenden Einfluss der Bolschewiki. Sie waren die einzige große politische Gruppe, die von den Schwierigkeiten profitierte. Im Anschluss an ihren Sechsten Parteitag warteten sie offenbar ungeduldig auf eine baldige Gelegenheit zu einem bewaffneten Aufstand. [58]

Anfang August traten die Bolschewiki in eine neue Periode des Wachstums ein. Am 31. August, nach der Niederlage des Kornilow-Putschs, gewannen die Bolschewiki zum ersten Mal eine Mehrheit im Petrograder Sowjet.

Unmittelbar nach den Julitagen nahm Lenin in der Führung der Bolschewistischen Partei den Kampf für einen scharfen Kurswechsel auf. Zwischen diesem wichtigen Moment in der Vorbereitung auf die Oktoberrevolution und den Fragen, die Lenin in Staat und Revolution behandelt hatte, besteht ein eindeutiger Zusammenhang.

Auf einer Sitzung mit führenden Mitgliedern des Zentralkomitees am 6. Juli betonte Lenin, dass die relativ friedliche Phase der Revolution mit den Julitagen zuende gegangen war. Die Bourgeoisie und das Militär hatten sich gefestigt und faktisch die Macht übernommen, und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten ein unverbrüchliches Bündnis mit diesen konterrevolutionären Kräften geschlossen. Jeder Gedanke an einen friedlichen Übergang der Macht auf die Arbeiterklasse musste aufgegeben werden. Lenin drängte darauf, die Parole „Alle Macht den Sowjets!“ zu ersetzen durch: „Alle Macht der Arbeiterklasse unter der Führung der revolutionären Partei – den Bolschewiki-Kommunisten!“ Er drängte darauf, dass sich die Partei auf einen bewaffneten Aufstand bei der nächsten günstigen Gelegenheit vorbereiten müsse.

Diese neue Linie erklärte Lenin in einem Artikel vom 10. Juli („Die politische Lage“), der am 2. August veröffentlicht wurde. Darin heißt es unter anderem:

Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ war die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution ... Jetzt ist diese Losung bereits falsch, denn sie zieht nicht in Betracht, dass sich dieser Übergang der Macht vollzogen hat und dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki in der Tat glatt verraten haben. Weder Abenteuer noch Revolten ... können der Sache dienen, sondern nur das klare Erkennen der Lage, die Ausdauer und Standhaftigkeit der Avantgarde der Arbeiter, die Vorbereitung der Kräfte zum bewaffneten Aufstand ... Keinerlei konstitutionelle und republikanische Illusionen, keine Illusionen mehr über einen friedlichen Weg ... Sondern die Kräfte sammeln, sie umorganisieren und beharrlich vorbereiten zum bewaffneten Aufstand, wenn der Verlauf der Krise die Möglichkeit bietet, ihn bei wirklicher Massenbeteiligung, mit Unterstützung des ganzen Volkes durchzuführen. ... Das Ziel des bewaffneten Aufstands kann nur der Übergang der Macht an das von der Bauernschaft unterstützte Proletariat sein, um das Programm unserer Partei zu verwirklichen. [59]

Wie Rabinowitch berichtet, wollte Lenin die Vorbereitungen für den Aufstand in erster Linie auf die Fabrikkomitees und nicht auf die Sowjets stützen.

Das Zentralkomitee sprach sich auf einer Sitzung am 13.–14. Juli, als Lenin sich noch in seinem Versteck aufhielt, gegen die Thesen aus, in denen er forderte, die Parole „Alle Macht den Sowjets!“ aufzugeben und mit Vorbereitungen auf den Aufstand zu beginnen. Nur mit Mühe gelang es Lenin, den Sechsten Allrussischen Parteitag (26. Juli– 3. August) davon zu überzeugen, die Parole „Alle Macht den Sowjets“ zugunsten der neuen Parole „Vollständige Abschaffung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie“ aufzugeben.

Nachdem Kornilow Ende August geschlagen war und die Bolschewiki kurz darauf die Mehrheit im Petrograder Sowjet erobert hatten, kehrten sie zur Parole „Alle Macht den Sowjets“ zurück. Lenin jedoch setzte sich in der Parteiführung entschieden dafür ein, alle Kraft auf die Vorbereitung eines baldigen bewaffneten Aufstands zu konzentrieren.

In dieser Episode zeigt sich die wichtigste Lehre aus der Oktoberrevolution: die kolossale und unverzichtbare Rolle der revolutionären Partei der Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution. Lenin erkannte die welthistorische Bedeutung der Sowjets nicht nur für Russland, sondern für die sozialistische Weltrevolution. Sie waren die revolutionären Organe, mit denen die Massen die Bourgeoisie stürzen, den kapitalistischen Staat zerschlagen und ihn durch einen wirklich demokratischen Arbeiterstaat ersetzen konnten.

Dennoch idealisierte Lenin die Sowjets nicht. Sollte es im Interesse der Revolution notwendig sein, war er bereit, mit den von den Versöhnlern dominierten Sowjets zu brechen und neue Kampforgane, wie die Fabrikkomitees, zu den Hauptorganen der Revolution zu machen. Wie sich herausstellte, waren die Sowjets in der Lage, die Aufgaben der Revolution zu erfüllen. Sie verdankten dies der Führung der Bolschewiki, die unermüdlich die Menschewiki und Sozialrevolutionäre als Agenten der Bourgeoisie bloßstellten. Nur auf diese Weise konnte die Avantgarde der Arbeiterklasse aufgeklärt und darauf vorbereitet werden, die Macht zu erobern und zu verteidigen.

Ohne den Kampf der Bolschewistischen Partei – und den von Trotzki unterstützten Kampf Lenins gegen den rechten Flügel in der Partei – hätten die Sowjets dem durch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre übertragenen politischen Druck der Bourgeoisie nicht standgehalten.

Kerenski, der sich mit Kornilow zu einem militärischen Vorgehen gegen die Sowjets verschworen hatte, brach erst mit dem General, nachdem er kurz vor dem Putschversuch vom 27. August erfahren hatte, dass Kornilow auch seine, Kerenskis, Absetzung plante. Die Führer des Petrograder Sowjets wiederum befürchteten, dass Kornilows Sieg auch sie den Kopf kosten würde, und mobilisierten daher offiziell für die Bewaffnung der Arbeiter gegen den Putsch. Die führende Rolle spielten dabei die Bolschewiki.

Doch die Arbeiter und Soldaten Petrograds, die aus dem politischen Kampf der Bolschewiki gegen die Provisorische Regierung und gegen die Kompromissler in der Sowjetführung gelernt hatten, ergriffen auch von sich aus die Initiative. Sie organisierten die Roten Garden und überzeugten wichtige Verbände Kornilows davon, dem General die Gefolgschaft aufzukündigen. Der Putsch scheiterte, noch bevor die Truppen von der Front in die Hauptstadt einmarschieren konnten.

Während er noch an Staat und Revolution arbeitete, verfasste Lenin nach der Kornilow-Affäre einen Artikel mit dem Titel „Eine der Kernfragen der Revolution“ (geschrieben am 7. oder 8. und veröffentlicht am 14. September), der zeigt, wie unmittelbar seine theoretische Arbeit und die nächsten praktischen Aufgaben in Zusammenhang standen. Er schrieb:

Die Frage der Staatsmacht kann weder umgangen noch beiseite geschoben werden, denn das ist eben die Grundfrage, die in der Entwicklung der Revolution, in deren Innen- und Außenpolitik alles bestimmt ...

Jedoch wird die Losung „Die Macht den Sowjets“ sehr oft, wenn nicht in den meisten Fällen, ganz falsch aufgefasst, und zwar im Sinne einer „Regierung aus den Parteien der Sowjetmehrheit“, und auf diese von Grund auf irrige Auffassung wollen wir ausführlicher eingehen. „Die Macht den Sowjets“, das bedeutet die radikale Umgestaltung des ganzen alten Staatsapparats, dieses Bürokratenapparats, der alles Demokratische hemmt, das bedeutet, diesen Apparat zu beseitigen und durch einen neuen, einen Apparat des Volkes, zu ersetzen, d. h. durch einen wahrhaft demokratischen Apparat der Sowjets, d. h. der organisierten und bewaffneten Mehrheit des Volkes, der Arbeiter, Soldaten und Bauern, das bedeutet, der Mehrheit des Volkes Initiative und Selbständigkeit zu gewähren, nicht nur in der Wahl von Deputierten, sondern auch bei der Verwaltung des Staates, bei der Durchführung von Reformen und Umgestaltungen. [60]

Die Arbeiterklasse, die sozialistische Revolution und der Staat

Kommen wir nun zum eigentlichen Inhalt von Lenins Staat und Revolution.

Die grundlegenden Lehren von Marx und Engels über den Staat und die Aufgaben der proletarischen Revolution in Bezug auf den Staat lassen sich wie folgt zusammenfassen:

• Der Staat ist ein Werkzeug der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen.

• Die Arbeiterklasse muss den kapitalistischen Staatsapparat stürzen und zerschlagen, um die Diktatur der Bourgeoisie durch die Diktatur des Proletariats (d. h. eine Arbeiterdemokratie) zu ersetzen.

• Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die Arbeiterklasse Gewalt anwenden.

• Die proletarische Diktatur dient dazu, den Widerstand der abgesetzten herrschenden Klasse zu brechen und die Voraussetzungen für den Übergang vom sozialistischen Aufbau zum Kommunismus schaffen, in dem die Klassenunterschiede verschwunden sind und das Prinzip „Jedem nach seiner Leistung“ durch das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ abgelöst wird.

• Im Kommunismus stirbt der Staat ab.

Als Lenin Staat und Revolution schrieb, waren diese Auffassungen innerhalb der sozialistischen Bewegung heiß umstritten.

Opportunistische und zentristische Elemente hatten sie durchgängig infrage gestellt. Den Auftakt machte Eduard Bernstein mit seinem revisionistischen Manifest Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie von 1899. Bernstein wies die marxistische Konzeption der Revolution offen zurück und argumentierte, dass die Arbeiterklasse durch schrittweise Sozialreformen durch das Parlament zum Sozialismus gelangen könne. Marx‘ Konzeption der Diktatur des Proletariats verurteilte er als Übernahme der Putsch- und Verschwörungsmethoden von Louis Blanqui.

Doch schon bei der Gründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatte es Verwirrung über die Frage des Staats gegeben. In seiner berühmten Kritik des Gothaer Programms, des Gründungsprogramms der Partei, sprach sich Marx scharf gegen die Forderung nach einem „freien Volksstaat“ aus. Diese Parole ließ nicht nur offen, welchen Klassencharakter der durch die Revolution geschaffene Staat haben sollte, sondern legte auch durch den unbestimmten Begriff ,„Volk“nahe, dass dieser Staat von jeglichem Klasseneinfluss „frei“ sein werde – ein Ding der Unmöglichkeit für einen Staat.

Wie Lenin in Staat und Revolution feststellt, erkannte die SPD-Führung diese Kritik zwar an, veröffentlichte aber 1886 eine unveränderte Neuauflage der Broschüre Unsere Ziele des Parteivorsitzenden August Bebel, die erstmals 1872 erschienen war und folgenden Satz enthielt: „Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden Staat in einen Volksstaat verwandelt werden.“

Wie oben erwähnt, verfälschten die Menschewiki die marxistische Auffassung vom Staat, um ihre Unterstützung für den Krieg und für die bürgerliche Provisorische Regierung zu rechtfertigen. Auf derselben Grundlage lehnten sie es ab, mithilfe der Sowjets den kapitalistischen Staat zu stürzen und einen Arbeiterstaat zu errichten.

Im ersten Kapitel von Staat und Revolution erläutert Lenin anhand ausführlicher Zitate von Engels die grundlegende Auffassung vom Staat, die Marx und Engels aus der Anwendung des historischen Materialismus auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation abgeleitet hatten.

Lenin zitiert aus Engels‘ Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) und aus dem Vorwort zur dritten Auflage (1894) seines Anti-Dühring. An dieser Stelle muss ich mich auf eine Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen dieses Kapitels beschränken.

Erstens: Der Staat hat nicht von Ewigkeit her bestanden. Frühere primitive Gesellschaften kannten keine über den Menschen stehende Staatsmacht. Der Staat entstand, als sich die Gesellschaft in einander unversöhnlich gegenüberstehende Klassen aufspaltete. Eine besondere öffentliche Gewalt wurde notwendig, weil, wie Engels erklärte, „eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen“. [61] Damit die Klassengegensätze die Gesellschaft nicht in fruchtlosem Kampf verzehren, „ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Kraft nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ,Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“ [62]

Im Weiteren argumentiert Lenin gegen zwei Arten der Verfälschung dieser Auffassung des Staats. Die erste, plumpere Art wird von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologen vertreten, die den Staat als Organ der Klassenversöhnung auffassen. Lenin zitiert die gegenteilige Aussage Engels‘ und fügt hinzu: „Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen ‚Ordnung‘, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft.“ [63]

Die zweite ist die raffiniertere und hinterhältigere „kautskyanische“ Entstellung von Marx und Engels. Deren Vertreter räumen ein, dass der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist, lassen jedoch außer Acht oder vertuschen, dass Marx und Engels auf dieser Grundlage explizite Schlussfolgerungen aus den Revolutionen von 1848 und aus der Pariser Kommune von 1871 zogen: dass (in Lenins Worten) „die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt ...“ [64]

Zweitens: Als Organ zur Unterdrückung der ausgebeuteten durch die herrschende Klasse richtet jeder Staat, so Engels, eine „öffentliche Gewalt“ ein, bestehend „nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art, von denen die Gentilgesellschaft nichts wusste.“ [65] Die Hauptwerkzeuge der Staatsmacht sind das stehende Heer und die Polizei.

Dies gilt für den Kapitalismus ebenso wie für alle früheren Klassengesellschaften, und zwar auch dann, wenn er die Form einer bürgerlich-demokratischen Republik mit einem Parlament, einer „freien Presse“ usw. annimmt. Lenin erläutert: „Nicht nur der antike und der Feudalstaat waren Organe zur Ausbeutung der Sklaven und leibeigenen und hörigen Bauern, sondern es ist auch [Zitat Engels] ,der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital‘ ...“ [66]

Dabei gilt, wie Lenin schreibt: „Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus ... Es muss noch hervorgehoben werden, dass Engels mit größter Entschiedenheit das allgemeine Stimmrecht als Werkzeug der Herrschaft der Bourgeoisie bezeichnet. Das allgemeine Stimmrecht, sagt er, ... ist ,der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat‘ ...“. [67]

Drittens: Um dem Kapitalismus ein Ende zu setzen und mit dem Aufbau des Sozialismus und der Abschaffung der Klassenausbeutung zu beginnen, muss die Arbeiterklasse den kapitalistischen Staat zerschlagen und einen Arbeiterstaat errichten. Dies ist der erste Staat der Geschichte, der als Werkzeug der Mehrheit zur Niederhaltung der Minderheit dient. Es ist der Staat der bewaffneten Arbeiterklasse, der sich auf die demokratischen, selbsttätigen Organe der arbeitenden Massen stützt, wie es die Sowjets in Russland waren. Er stellt eine echte Demokratie für die Massen her, im Gegensatz zur trügerischen Scheindemokratie im Kapitalismus, welche Demokratie für die Reichen und Unterjochung für die Armen bedeutet.

Im Gegensatz zu den bisherigen Staaten der Geschichte läutet dieser Staat den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft und damit zum Absterben des Staats ein, für den keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr besteht. Lenin zitiert aus dem Vorwort zur dritten Auflage des Anti-Dühring (1894), in dem Engels schreibt:

„Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft‘, er stirbt ab. [68]

Lenin geißelt die Verdrehungen der „heutigen sozialistischen Parteien“, wie er sagt, die unter Berufung auf diesen und ähnliche Absätze von Marx und Engels die Anarchisten nicht vom Standpunkt der Arbeiterklasse, also von links, sondern vom Standpunkt der Bourgeoisie und ihres Staats, also von rechts angreifen. Der Forderung der Anarchisten nach der sofortigen Abschaffung des Staats halten sie unter Berufung auf Marx und Engels entgegen, dass der Staat nicht abgeschafft wird, sondern schlicht abstirbt.

„In Wirklichkeit“, so Lenin, „spricht Engels hier von der ,Aufhebung‘ des Staates der Bourgeoisie durch die proletarische Revolution, während sich die Worte vom Absterben auf die Überreste des proletarischen Staatswesens nach der sozialistischen Revolution beziehen. Der bürgerliche Staat ,stirbt‘ nach Engels nicht ,ab‘, sondern er wird in der Revolution vom Proletariat ,aufgehoben‘. Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat oder Halbstaat ab.“ [69]

Einen wesentlichen Teil von „Staat und Revolution“ widmet Lenin einer sorgfältigen Darlegung der Schriften von Marx und Engels zum Staat, in denen sie die im Kommunistischen Manifest von 1847 niedergelegten Auffassungen weiterentwickeln und konkretisieren: ihre Schriften zu den revolutionären Kämpfen in Frankreich von 1848 bis 1851 (Die Klassenkämpfe in Frankreich und Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte) und zur Pariser Kommune (Der Bürgerkrieg in Frankreich) sowie weitere Stellungnahmen.

Lenin betont, dass Marx aus diesen strategischen revolutionären Erfahrungen der Arbeiterklasse politische Lehren zog, auf deren Grundlage der Kampf der Arbeiterklasse um die Staatsmacht und der Charakter des von ihr zu schaffenden Staats genauer verstanden werden konnten. Ausdrücklich bezieht er sich auf den wissenschaftlichen, materialistischen, historischen und methodischen Ansatz, von dem sich Marx und Engels bei ihren Auffassungen über den Staat leiten ließen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Marxschen Schriften über den Staat nach der französischen Revolution von 1848 stellt er fest:

Getreu seiner Philosophie des dialektischen Materialismus, nimmt Marx als Grundlage die historische Erfahrung der großen Revolutionsjahre 1848 bis 1851. Die Lehre von Marx ist wie stets, so auch hier, eine von tiefer philosophischer Weltanschauung und reicher Kenntnis der Geschichte durchdrungene Zusammenfassung der Erfahrung. [70]

Als Nächstes fasst Lenin die Analyse der Pariser Kommune in Marx‘ Werk Der Bürgerkrieg in Frankreich zusammen:

Ohne sich auf Utopien einzulassen, erwartete Marx von den Erfahrungen der Massenbewegung eine Antwort auf die Frage, welche konkreten Formen diese Organisation des Proletariats als herrschende Klasse annehmen wird, in welcher Weise sich diese Organisation vereinen lassen wird mit der möglichst vollständigen und folgerichtigen ,Erkämpfung der Demokratie‘.“ [71]

Dieser streng wissenschaftliche Ansatz, der von der sozialistischen Revolution als objektivem Prozess ausgeht, dessen Gesetze erkannt und auf die revolutionäre Strategie und Taktik der Arbeiterklasse angewandt werden können, wird in Staat und Revolution konsequent umgesetzt. Auf diese Weise behandelte Lenin in seinem Versteck die Frage des Kampfs um die Sowjetmacht, als die Entscheidung zwischen Revolution und Konterrevolution auf Messers Schneide stand.

In diesem Zusammenhang möchte ich an den siebten Grund erinnern, den David North in seinem Vortrag „Warum die Russische Revolution studieren“ anführt:

Die Russische Revolution verdient ein gründliches Studium als entscheidendes Stadium in der Entwicklung der wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie. Mit der historischen Leistung der Bolschewiki von 1917 wurde der innere Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen materialistischen Philosophie und der revolutionären Praxis sowohl bewiesen als auch auf eine neue Stufe gehoben. [72]

Zu Beginn seiner Ausführungen zu den Schriften von Marx und Engels über die Revolutionen von 1848 bis 1851 zitiert Lenin aus dem Kommunistischen Manifest, das am Vorabend der europäischen Revolutionen von 1848 erschienen war. Darin ist vom „gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie“ die Rede, durch den „das Proletariat seine Herrschaft begründet“ und die Produktionsmittel konzentriert „in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats“.

Weitreichende Schlussfolgerungen zog Marx aus dem Aufstand der Pariser Arbeiterklasse und dessen blutiger Niederschlagung durch die republikanische Bourgeoisie, der im Dezember 1851 der Staatsstreich Louis Napoleons folgte. Im Achtzehnten Brumaire schrieb er: „Alle Umwälzungen vervollkommneten die Maschine statt sie zu brechen“, womit er implizierte, dass die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat zerbrechen müsse. [73]

Unter Bezugnahme auf diesen Satz schrieb Marx im April 1871, während des Bestands der Kommune, in einem Brief an Kugelmann:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines ,Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wirst du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschine aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“ [hervorgehoben von Marx], „und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen.“ [74]

Die Pariser Kommune und ihre blutige Niederschlagung bestärkten Marx in der Überzeugung, dass die proletarische Revolution den alten bürgerlichen Staat einschließlich der Strukturen des bürgerlichen Parlamentarismus zerschlagen und durch eine völlig anders geartete revolutionäre proletarische Demokratie ersetzen muss, um zum einen die bürgerliche Konterrevolution niederzuhalten und zum anderen die Voraussetzungen für die Entfaltung des Sozialismus und Kommunismus zu schaffen.

Den Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ verwendete Marx erstmals in einem Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852. Darin schrieb er:

Was ich neu tat, war 1. nachweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Revolution gebunden ist, 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet. [75]

Zum Begriff „Diktatur des Proletariats“ zitiert Lenin aus Engels‘ Einleitung zur dritten Ausgabe von Der Bürgerkrieg in Frankreich aus dem Jahr 1891:

In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie ...

Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats. [76]

In Der Bürgerkrieg in Frankreich betonte Marx, so Lenin, den grundlegenden Unterschied und Gegensatz zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Parlamentarismus einerseits und dem Staat, den die Kommunarden aufbauen wollten, andererseits. „Das erste Dekret der Kommune … war die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk“, erklärte Marx. Die Polizei wurde „in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt“. [77]

Als weitere Maßnahmen führte Marx an: das allgemeine Wahlrecht, den Umstand, dass alle gewählten Amtspersonen jederzeit absetzbar waren, dass alle Staatsbeamten kein höheres Gehalt erhielten als einen durchschnittlichen Arbeiterlohn und dass die richterlichen Beamten gewählt, verantwortlich und absetzbar waren. Darüber hinaus sollte die Kommune ein arbeitendes, kein parlamentarisches Organ sein, sie war Exekutive und Legislative zugleich.

Lenin kommentiert:

Hier kommt am klarsten der Umschwung zum Ausdruck – von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen, von der Unterdrückerdemokratie zur Demokratie der unterdrückten Klassen, vom Staat als ,besondrer Gewalt‘ zur Niederhaltung einer bestimmten Klasse, zur Niederhaltung der Unterdrücker durch die allgemeine Gewalt der Mehrheit des Volkes, der Arbeiter und Bauern. Und gerade in diesem, besonders anschaulichen und, was den Staat betrifft, wohl wichtigsten Punkt hat man die Marxschen Lehren am gründlichsten vergessen! [78]

Im letzten Kapitel von Staat und Revolution polemisiert Lenin gegen die opportunistische Verdrehung des Marxismus im Hinblick auf den Staat und gegen die Beschönigung der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus. Dabei konzentriert er sein Feuer auf Kautsky.

Zum Auftakt widmet er sich Kautskys Antwort auf das revisionistische Manifest Bernsteins, Die Voraussetzungen des Sozialismus. Kautsky hatte verschwiegen, dass Marx bereits 1852 geschrieben hatte, die Aufgabe bestehe nicht darin, die Staatsmaschine in Besitz zu nehmen, sondern sie zu zerschlagen. Lenin kommentiert Kautsky:

„Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur“, schrieb Kautsky gegen Bernstein, „können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen.“ ... Das ist keine Polemik gegen Bernstein, sondern im Grunde ein Zugeständnis an ihn, eine Kapitulation vor dem Opportunismus …“[79]

Unter Bezugnahme auf Kautskys Buch Die soziale Revolution arbeitet Lenin heraus, dass Kautsky den grundlegenden Unterschied zwischen den Herrschaftsformen eines zukünftigen Arbeiterstaats und denjenigen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie verwischt.

Er schließt mit einer Kritik an Kautskys Erwiderung auf eine Polemik des niederländischen Sozialisten Anton Pannekoek. Pannekoek hatte Kautsky in einem Artikel, der 1912 unter dem Titel „Massenaktion und Revolution“ in der Zeitschrift Die Neue Zeit erschien, „passiven Radikalismus“ vorgeworfen. Er war ein Sozialdemokrat, der damals wie Rosa Luxemburg den linken Kritikern des Opportunismus zugerechnet wurde. In den 1920er Jahren nahm er ultralinke Positionen ein und schloss sich später den antisowjetischen Standpunkten des Staatskapitalismus an.

In seiner Polemik von 1912 bezeichnete Pannekoek den Inhalt der proletarischen Revolution als „die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staats“ und die „Organisation der Mehrheit“, die die „Organisation der herrschenden Minderheit“ vernichtet.

Kautsky bezichtigte Pannekoek daraufhin des Anarchismus: „Bisher bestand der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten darin, dass jene die Staatsgewalt erobern, diese sie zerstören wollten. Pannekoek will beides.“

Dazu schreibt Lenin: „Seine [Kautskys] Auffassung von dem Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten ist grundfalsch, der Marxismus ist bei ihm endgültig entstellt und verflacht.“ [80]

Die Behauptung, der Marxismus wende sich gegen die Zerschlagung des bestehenden Staats, ist völlig falsch, wie Lenin anhand einer umfassenden Darlegung der Schriften von Marx und Engels schlüssig nachweist. Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten besteht darin, dass letztere die Errichtung des neuen, proletarischen Staats ablehnen, den die Arbeiterklasse braucht, um sich gegen die mörderische Unterdrückung der Bourgeoisie zur Wehr zu setzen.

In einem Essay aus dem Jahr 1873 mit dem Titel „Von der Autorität“, den Lenin in Staat und Revolution zitiert, widerlegt Engels die Ablehnung jeder Form von Autorität seitens der Anarchisten in vernichtender Weise:

Die Antiautoritären aber fordern, dass der politische Staat mit einem Schlag abgeschafft werde, noch früher, als die sozialen Verhältnisse abgeschafft sind, die ihn erzeugt haben. Sie fordern, dass der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sein soll.

Haben sie einmal eine Revolution gesehen, diese Herren? Eine Revolution ist gewiss die autoritärste Sache, die es gibt, ein Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen dem anderen durch Flinten, Bajonette und Kanonen, alles das sehr autoritäre Mittel, aufzwingt; und die Partei, die gesiegt hat, muss ihre Herrschaft durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen, behaupten. Und hätte sich die Pariser Kommune nicht der Autorität eines bewaffneten Volkes gegen die Bourgeoisie bedient, hätte sie sich länger als einen Tag behauptet? Können wir sie nicht umgekehrt tadeln, dass sie sich zu wenig dieser Autorität bedient habe? Also: entweder – oder: Entweder die Antiautoritären wissen selbst nicht, was sie sagen, und in diesem Falle schaffen sie nur Konfusion, oder sie wissen es, und in diesem Falle verraten sie die Sache der Revolution. In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion. [81]

In Staat und Revolution fasst Lenin den Unterschied zwischen Marxismus und Anarchismus folgendermaßen zusammen:

Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten besteht darin, dass 1. die Marxisten, die sich die völlige Aufhebung des Staates zum Ziel setzen, dieses Ziel für erreichbar halten erst nach der Aufhebung der Klassen durch die sozialistische Revolution, als Resultat der Errichtung des Sozialismus, der zum Absterben des Staates führt; die Anarchisten wollen die völlige Aufhebung des Staates von heute auf morgen, ohne die Bedingungen für die Durchführbarkeit einer solchen Aufhebung zu begreifen. 2. Die Marxisten halten es für notwendig, dass das Proletariat nach Eroberung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie völlig zerstört und sie durch eine neue, eine nach dem Typ der Kommune gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter ersetzt; die Anarchisten, die auf die Zerstörung der Staatsmaschinerie schwören, stellen sich ganz unklar vor, was das Proletariat an ihre Stelle setzen und wie es die revolutionäre Macht gebrauchen wird; die Anarchisten verwerfen sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolutionäre Proletariat, dessen revolutionäre Diktatur. 3. Die Marxisten fordern die Vorbereitung des Proletariats auf die Revolution unter Ausnutzung des heutigen Staates; die Anarchisten lehnen das ab. [82]

Die dreiste und nichtswürdige Verfälschung des Marxismus zugunsten von Illusionen in die bürgerliche Demokratie zeigt sich besonders deutlich in einem Absatz aus Kautskys Antwort auf Pannekoek, den Lenin zitiert: Die Aufgabe eines Massenstreiks, so zitiert er Kautsky, „kann nicht die sein, die Staatsgewalt zu zerstören, sondern nur die, eine Regierung zur Nachgiebigkeit in einer bestimmten Frage zu bringen oder eine dem Proletariat feindselige Regierung durch eine ihm entgegenkommende zu ersetzen … Aber nie und nimmer kann dies (d. h. der Sieg des Proletariats über die feindselige Regierung) zu einer Zerstörung der Staatsgewalt, sondern stets nur zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt führen … Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung.“ [83]

* * *

In seiner Zusammenfassung von Der Bürgerkrieg in Frankreich bezieht sich Lenin auf Marx‘ Reaktion auf die Pariser Kommune:

Marx begnügte sich jedoch nicht damit, den Heroismus der, wie er sich ausdrückte, „himmelstürmenden“ Kommunarden Begeisterung zu zollen. Er sah in der revolutionären Massenbewegung, obwohl sie ihr Ziel nicht erreichte, einen historischen Versuch von ungeheurer Tragweite, einen gewissen Schritt vorwärts in der proletarischen Weltrevolution, einen praktischen Schritt, der wichtiger ist als Hunderte von Programmen und Auseinandersetzungen. Diesen Versuch zu analysieren, aus ihm Lehren für die Taktik zu ziehen, auf Grund dieses Versuchs seine eigene Theorie zu überprüfen – das war die Aufgabe, die Marx sich stellte. [84]

Das war die Art und Weise, wie Marx mit der Pariser Kommune und Lenin mit dem theoretischen Erbe des Marxismus umging. Und genauso gehen wir heute mit der Oktoberrevolution um. Die Analyse und Auswertung dieser großen Kämpfe und die Klärung der damit verbundenen theoretischen und historischen Fragen stand für Marx und Lenin in unmittelbarem Zusammenhang mit aktuellen politischen Entwicklungen, und genauso verhält es sich heute bei unserem Rückblick auf die Russische Revolution.

Die diversen kleinbürgerlichen Organisationen, die als „links“ oder gar „sozialistisch“ daherkommen, während sie in Wirklichkeit aufseiten des Imperialismus und des kapitalistischen Staats stehen, verhalten sich der Oktoberrevolution gegenüber deshalb entweder gleichgültig oder direkt ablehnend, weil sie der Arbeiterklasse und dem Sturz des Kapitalismus feindselig gegenüberstehen.

Und doch sind die „Lehren des Oktobers“ von enormer Bedeutung für die Aufgaben, die sich der Arbeiterklasse heute aufgrund der beispiellosen Krise des Weltkapitalismus und des Anbruchs einer neuen Periode revolutionärer Kämpfe stellen. Die Oktoberrevolution ist für die politischen Ereignisse in unserer Zeit weiterhin von großer Relevanz.

Die Tendenzen, die Lenin in Der Imperialismus und in Staat und Revolution aufzeigt, sind heute weitaus stärker fortgeschritten als zu Zeiten Lenins: die immer engere Verschmelzung des imperialistischen Staats mit riesigen Konzernen und Finanzinstituten im Rahmen des staatsmonopolistischen Kapitalismus (man denke nur an Google, Amazon, Apple sowie die CIA und das Pentagon); das monströse Wuchern des staatlichen Unterdrückungsapparats und der Zerfall demokratischer Herrschaftsformen (der militärische Polizeieinsatz in Katalonien, der von allen imperialistischen Regierungen und den „Menschenrechtsimperialisten“ der New York Times gutgeheißen wurde, der fortdauernde Notstand in Frankreich, der Einzug von Neofaschisten in den deutschen Bundestag, die Regierung aus Generälen und Wall-Street-Milliardären in den USA). Der Weltkrieg, auf den der Imperialismus heute erneut zutreibt, bringt die Gefahr eines nuklearen Holocausts und der Vernichtung der Zivilisation mit sich.

Mit dem Gedenken an den 100. Jahrestag der Russischen Revolution, zu dem auch diese Vorträge gehören, setzt das Internationale Komitee der Vierten Internationale die Arbeit von Lenin und Trotzki fort: die Aufklärung, Ausbildung und politische Bewaffnung der Arbeiterklasse für die kommende sozialistische Weltrevolution.

– – – – – – – –

Anmerkungen:

1. Zitiert nach Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhof, Deutsche Legenden: Vom „Dolchstoß“ und anderen Mythen der Geschichte, Berlin 2013

2. Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Stuttgart, 1999. S. 69

3. Rede Stresemann vom 19.01.1917, in: Fritz Fischer: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911-1914, Düsseldorf 1978, S. 649

4. Zitiert nach David Stevenson, Armaments and the Coming of War (Oxford: Clarendon Press, 1996), p. 391 [aus dem Englischen übertragen]

5. Zitiert nach Paul Kennedy, The Rise of Anglo-German Antagonism (London: The Ashfield Press, 1987), p. 467 [aus dem Englischen übertragen]

6. Friedrich Engels: Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807] (1888), in: MEW, Band 21, S. 350-351

7. Internationaler Sozialisten-Kongreß Stuttgart 1907, vom 18. bis 24. August, Berlin 1907, S.66

8. Wladimir Lenin: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (1. November 1914), in: Lenin Werke, Band 21, S. 20

9. Wladimir Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR (29. März 1915), in: Lenin Werke, Band 21, S. 150

10. Wladimir Lenin: Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg (26. Juli 1915), in: Lenin Werke, Band 21, S. 278

11. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital (1909), Berlin 1947, S. 1

12. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital (1909), Berlin 1947, S. 502f

13. Zitiert nach Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 213

14. Vgl. Wladimir Lenin: „Die Sophismen der Sozialchauvinisten“ (1. Mai 1915), in: Werke, Band 21, S. 177

15. Wladimir Lenin: „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg“ (26. Juli 1915), in: Werke, Band 21, S. 276: „Die ,Bedeutung unserer Abstimmung‘ (vom 4. August)“

16. Rosa Luxemburg: „Die Krise der Sozialdemokratie“ [„Junius“-Broschüre] (1916), in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 51-52

17. Wladimir Lenin: „Die Grundsätze des Sozialismus und der Krieg“ 1914/1915 (1915), in: Werke, Band 21, S. 276

18. Leo Trotzki: „Der Krieg und die Internationale“ (1914), in: Leo Trotzki: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 433

19. Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 208

20. Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 209

21. Karl Marx: „Thesen über Feuerbach“ (1845), in: MEW, Band 3, S. 5

22. Wladimir Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ (1915), in: Werke, Band 21, S. 254

23. Zitiert nach Catherine Merriedale, Lenins Zug Die Reise in die Revolution, 2017

24. Zitiert nach R. Craig Nation, War on War (Chicago: Haymarket Books, 2009), S. 89 [aus dem Englischen übertragen]

25. Wladimir Lenin: „Ein erster Schritt“ (11. Oktober 1915), in: Werke, Band 21, S. 390

26. Rosa Luxemburg: „Reichskonferenz der Gruppe „Internationale“ am 19. März 1916 in Berlin“, in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 168-169

27. Wladimir Lenin: „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“, 26. März (8. April) 1917, in: Werke, Band 23, S. 387

28. Nadeschda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin (Fassung von 1933), Dietz-Verlag Berlin, 1960, aus dem Kapitel: Die letzten Monate in der Emigration. Die Februarrevolution

29. Lenin, Band 21, Seite 348 – 351, Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken, 1915

30. ebenda

31. Lenin, Band 23, Seite 244-262

32. zitiert nach Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, Frankfurt 1982, Band 1, Kapitel: die Bolschewiki und Lenin, S.248

33. ebenda

34. Lenin: Briefe aus der Ferne, Brief 1: Die erste Etappe der ersten Revolution, in Ausgewählte Werke, Band III, Berlin 1972, S. 16

35. Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, 1982, S. 249

36. N. Krupskaja: Erinnerungen an Lenin (Fassung von 1933), Dietz-Verlag Berlin, 1960, aus dem Kapitel: Letzte Monate in der Emigration. Die Februarrevolution

37. Alle Zitate aus W.I. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, Aus W.I. Lenin: Ausgewählte Werke, Band III, Seite 60-66

38. Quotes cited in Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution, Indiana University Press, 1968, pg. 40

39. Zitat aus Briefe zur Taktik, W.I. Lenin: Werke, Band 24, Berlin 1959, S. 24-37

40. ebenda

41. ebenda

42. ebenda

43. W.I. Lenin: Die Aufgabe des Proletariats in unserer Revolution, Werke, Band 24,

44. Berlin 1959, S.39-77, Abschnitt 11, Der neue Staatstypus, der sich in unserer Revolution herausbildet

45. W.I. Lenin, Werke,1959, Band 24, S.39-77

46. ebenda

47. Leo Trotzki: Klasse Partei, Führung. Warum wurde das spanische Proletariat besiegt? Unvollendeter Aufsatz vom 20.08.1940

48. ebenda

49. Leo Trotzki: Über Lenin, 1924, im Kapitel „Vor dem Oktober“

50. Leo Trotzki: Die Fälschung der Geschichte der russischen Revolution, 1927, nach der Broschüre im Verlag „Volkswille“ (Reichsorgan des Leninbundes (Linke Kommunisten), Herausgeber: Hugo Urbahns

[51] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Mehring Verlag, Essen 2010, Band 2, S. 408.

[52] Ebd., S. 409.

[53] W. I. Lenin, „Der Imperialismus und die Spaltung im Sozialismus“, Werke Band 23, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 103.

[54] W. I. Lenin, „Staat und Revolution“, Werke Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 395f.

[55] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Mehring Verlag, Essen 2010, Band 1, S. 355f.

[56] Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution, Indiana University Press, Bloomington und Indianapolis, 1991, S. 82f.

[57] „Erinnerungen des Generals A. S. Lukomski“, zitiert nach Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag, Essen 2012, S. 159.

[58] Ebd., S. 137.

[59] W. I. Lenin, „Die politische Lage“, Werke Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 175f.

[60] W. I. Lenin, „Eine der Kernfragen der Revolution“, ebd. S. 378, 380.

[61] W.I. Lenin, „Staat und Revolution“, Werke Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 400f.

[62] Ebd., S. 389

[63] Ebd. S. 399

[64] Ebd., S. 400.

[65] Ebd., S. 400f.

[66] Ebd., S. 404.

[67] Ebd., S. 405.

[68] Ebd., S. 408.

[69] Ebd., S. 409.

[70] Ebd., S. 419.

[71] Ebd., S. 430.

[72] Internationales Komitee der Vierten InternationaleWarum die Russische Revolution studieren, Mehring Verlag, Essen 2017, Band 1, S. 36.

[73] Karl Marx, „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Marx Engels Werke Bd. 8, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 197.

[74] Zitiert in W. I. Lenin, „Staat und Revolution“, Werke Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 430.

[75] Ebd., S. 424.

[76] Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Band 22, Dietz Verlag, Berlin 1972, S. 199.

[77] W. I. Lenin, „Staat und Revolution“, Werke Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 431.

[78] Ebd., S. 433.

[79] Ebd., S. 493.

[80] Ebd., S. 499.

[81] Ebd., S. 451.

[82] Ebd., S. 499f.

[83] Ebd., S. 504.

[84] Ebd., S. 426.

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