Nach dem Referendum in der Türkei: Wachsende Politische Spannungen

Das türkische Verfassungsreferendum vom Sonntag endete mit einem hauchdünnen Sieg für Präsident Recep Tayyip Erdogan, der durch Verfassungsänderungen faktisch diktatorische Vollmachten erhalten wird. Dieses Ergebnis verschärft nicht nur die politische Krise in der Türkei, sondern belastet auch Ankaras ohnehin schon angespanntes Verhältnis zu Europa weiter.

In einigen Städten in der Türkei kam es zu Protesten wegen der vielen Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung. Auch die Europäische Union äußerte scharfe Kritik.

Am Sonntagabend und am Montag demonstrierten tausende Anhänger des „Nein“-Lagers in Istanbul, Ankara, Izmir und Samsun gegen das Ergebnis. Erdogan-Anhänger riefen daraufhin den Namen des Präsidenten und skandierten „Gott ist groß!“

Der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei Bülent Tezcan bestätigte am Montag auf einer Pressekonferenz, dass seine Organisation wegen Verstößen gegen das Wahlrecht vor dem türkischen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Ergebnis der Abstimmung anfechten werde. Er erklärte: „Die Diskussionen um die Legitimität des Referendums werden erst aufhören, wenn es annulliert ist.“

Am Montag erklärten zudem Vertreter des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auf einer Pressekonferenz in Ankara, das Referendum entspreche nicht den Standards des Europarats. Die beiden Kontrollorganisationen wiesen auf den starken staatlichen Druck auf das „Nein“-Lager im Vorfeld des Referendums hin.

Präsident Erdogan wies die Äußerungen der OSZE umgehend zurück: „Zunächst einmal sollten Sie Ihren Platz kennen! Wir werden Ihren politischen Bericht weder überdenken, lesen oder anerkennen. Wir werden unseren eigenen Weg gehen.“

Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz erklärte, das Ergebnis sei ein „klares Signal gegen die Europäische Union“ und forderte ein Ende der „Farce“ um das türkische EU-Beitrittsgesuch. Julia Klöckner von der deutschen Regierungspartei CDU erklärte, die Tür für den EU-Beitritt der Türkei sei nun „endgültig zu“.

Erdogan selbst äußerte sich bei einer Rede vor Anhängern auf dem Flughafen von Ankara zu dieser Kritik: „Die Kreuzfahrer im Westen und ihre Diener im eigenen Land haben uns angegriffen, aber wir sind nicht müde geworden oder haben den Mut verloren. Wir haben als eine Nation zusammengehalten, weil wir uns nur vor dem Herrn zum Gebet verbeugen.“

Während des Wahlkampfs zum Referendum, das unter den Bedingungen des Ausnahmezustands stattfand, bot Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) alle Mittel der Regierung zur Unterstützung des „Ja“-Lagers auf, u.a. ihre finanziellen Ressourcen und ihre Macht über die Medien. Gleichzeitig schüchterte sie die Opposition ein und behinderte ihre Tätigkeit. In den neun Monaten seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 hat die AKP-Regierung unter dem Ausnahmezustand zahllose oppositionelle Medien zum Schweigen gebracht und tausende Menschen einsperren lassen, darunter dreizehn Abgeordnete der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und etwa 150 Journalisten wegen angeblicher „Beziehungen zu terroristischen Vereinigungen.“

Die Spannungen zwischen Ankara und der EU verschärfen sich auch aufgrund der möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe, durch die sich die Türkei formell als EU-Mitglied disqualifizieren würde. Als Reaktion auf die ständigen Forderungen seiner faschistischen Anhänger nach Wiedereinführung der Todesstrafe erklärte Erdogan am Montag, er werde dies bewilligen, wenn es vom Parlament verabschiedet und ihm vorgelegt würde. Er deutete außerdem an, dass ein Referendum über diese Frage möglich sei.

Das Büro des französischen Präsidenten warnte ihn daraufhin, ein Referendum über die Wiedereinführung der Todesstrafe sei ein „offensichtlicher Bruch mit den Werten“, zu denen sich die Türkei bei ihrem Beitritt zum Europarat bekannt hat.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme: „Die Bundesregierung nimmt das vorläufige Abstimmungsergebnis zur Kenntnis. Sie respektiert das Recht der türkischen Bürgerinnen und Bürger, über ihre eigene Verfassungsordnung zu entscheiden.“ Die Stellungnahme forderte als Reaktion auf die Bedenken Europas hinsichtlich des Übergangs zu einem Präsidialsystem in der Türkei einen politischen Dialog: „Die Bundesregierung erwartet, dass die türkische Regierung nun nach einem harten Referendumswahlkampf einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht.“

US-Präsident Donald Trump gratulierte Erdogan telefonisch zu seinem Sieg. Laut der regierungsnahen Zeitung Daily Sabah diskutierten Trump und Erdogan 45 Minuten in „angenehmer“ Atmosphäre über die Krise in Syrien und bekräftigten ihre „Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Kampf gegen den Islamischen Staat“.

Dass der russische Präsident Wladimir Putin ihm nicht telefonisch gratulierte, verdeutlicht die Abkühlung der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau aufgrund von Erdogans „vollster Unterstützung“ für den amerikanischen Raketenangriff auf einen syrischen Luftwaffenstützpunkt letzte Woche. Laut der russischen Nachrichtenagentur TASS hat Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag während einer Pressekonferenz erklärt, die Ergebnisse des türkischen Referendums seien „die souveräne Angelegenheit der Türkei.“ Peskow fügte hinzu: „Wir glauben, alle sollten den Willen der türkischen Bevölkerung respektieren.“

Später am Montag hielt Erdogan eine Rede vor seinen Anhängern vor dem Präsidentenpalast in Ankara. Darin warf er den europäischen Ländern vor, sie hätten mehr zur Abstimmung mit „Nein“ aufgerufen als die türkischen Oppositionsparteien. Er fügte hinzu, die Drohungen der EU, die Gespräche über die Mitgliedschaft auszusetzen, bedeuteten der Türkei wenig.

Einen Tag zuvor hatte der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu in einem Interview mit der panarabischen Tageszeitung Asharq al-Awsat erklärt, die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU befänden sich aufgrund der Haltung der europäischen Staaten im Vorfeld des Referendums und nach dem Putschversuch am 15. Juli in einer schwierigen Phase. Er erklärte: „Statt Solidarität und Unterstützung hat die Türkei ungerechte Kritik an den Maßnahmen nach dem gescheiterten Putsch erfahren.“

Cavusoglu bekräftigte jedoch, dass die EU-Mitgliedschaft von hoher Bedeutung für die türkische Regierung bliebe. „Es gibt in der Türkei einen Vertrauensverlust gegenüber der EU aufgrund deren Einstellung in letzter Zeit. Doch wir erwarten weiterhin, dass die Vertrauenskrise durch positive konkrete Schritte überwunden werden kann.“

Der stellvertretende Wirtschaftsminister Mehmet Simsek äußerte sich in einem Interview mit einem Privatsender ähnlich. Er betonte, die „notwendigen Strukturreformen“ sollten „mittelfristig schnell umgesetzt werden.“

Ein weiterer stellvertretender Minister namens Nurettin Canikli erklärte, die wirtschaftlichen Beziehungen zur Europäischen Union würden sich verbessern. Er bezeichnete die derzeitigen scharfen Wortwechsel zwischen der Türkei und der EU als „vorübergehend“ und mahnte, man solle ihnen „nicht zu viel Aufmerksamkeit“ widmen.

Die beiden Minister repräsentieren die traditionell pro-europäischen Ansichten von wichtigen Teilen der herrschenden Klasse, die zur „Wiederherstellung der nationalen Einheit“ aufrufen, um Marktreformen durchzusetzen. Am Sonntag erklärte der türkische Industrie- und Wirtschaftsverband TÜSIAD in einer schriftlichen Stellungnahme: „Die Zeit ist gekommen, beim Schutz von Freiheiten, Pluralismus und Solidarität Fortschritte zu erzielen. Wir rufen die Regierung und das Parlament auf, den Reformplänen des Landes Priorität einzuräumen.“ Die Organisation forderte die Regierung außerdem auf, bei Themen wie Zollpolitik, Medien- und Internetfreiheit, der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen und der Flüchtlingspolitik, Visafreiheit, einer politischen Lösung für Zypern und einer Lösung für den Krieg in Syrien engere Beziehungen mit der EU anzustreben.

Der Nationale Sicherheitsrat traf sich derweil am Montag unter Erdogans Vorsitz in Ankara und riet der Regierung, den Ausnahmezustand um weitere drei Monate zu verlängern.

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