Das Anwachsen des deutschen Militarismus und das Umschreiben der Geschichte

Sven Wurm, der Sprecher der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) an der Berliner Humboldt-Universität, hielt im Rahmen der Online-Maikundgebung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) die folgende Rede. In den nächsten Tagen veröffentlichen wir alle weiteren Vorträge der Kundgebung, darunter die einleitende Rede von David North, dem Chefredakteur der WSWS und Vorsitzenden der Socialist Equality Party in den USA.

Liebe Freunde und Genossen,

vor einigen Tagen erschien in der Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbands ein Interview mit einem deutschen Geschichtsprofessor, der folgenden Vergleich zwischen Stalin und Hitler zog:

„Ich habe Hitler mit Stalin verglichen. Stalin war ein Psychopath, Hitler war keiner. Stalin hatte Freude an Gewalt, Hitler nicht. Hitler wusste, was er tat. Er war ein Schreibtischtäter, der von den blutigen Folgen seiner Taten nichts wissen wollte.“

Bereits 2014 hatte die gleiche Person im meistgelesenen deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel erklärt: „Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung gesprochen wird.“

Der besagte Geschichtsprofessor ist Jörg Baberowski, der an der Berliner Humboldt-Universität den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte inne hat.

Jedem, der das hört, ist vollkommen klar, was derartige Äußerungen bezwecken: sie sind dazu da, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verharmlosen und Hitler zu rehabilitieren. Jeder weiß um die abscheulichen Verbrechen der Nazis, und jeder weiß, dass natürlich gerade der Nazi-Führer selbst „grausam“ war und „Freude an Gewalt“ hatte.

Fast siebzig Jahre lang hatten viele in Deutschland und international geglaubt, es sei unmöglich, die Nationalsozialisten wieder zu rehabilitieren. Zu groß war die schreckliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, den Überfall auf Polen, den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und den Holocaust, in dem allein sechs Millionen Juden ermordet wurden.

Doch in dem Maße, wie die herrschende Klasse in Deutschland wieder zu Großmachtphantasien zurückkehrt, Europa unter ihre Vorherrschaft bringen und in Konkurrenz zu den USA treten will, kehren die Geister der Vergangenheit zurück. Um neue imperialistische Kriege und Verbrechen möglich zu machen, muss die Geschichte umgeschrieben und die verbrecherische Rolle des deutschen Imperialismus im 20. Jahrhundert verharmlost und bestritten werden.

Der Politologe Herfried Münkler, der ebenfalls an der Humboldt-Universität lehrt, fasste dieses Ziel in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Anfang 2014 folgendermaßen zusammen: „Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem Schuld gewesen. Bezogen auf 1914 ist das eine Legende [...] Wir neigen außenpolitisch zu dem Gedanken: weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen.“

Nur wenige Wochen später verkündeten der damalige Bundespräsident Gauck und die deutsche Regierung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 das „Ende der militärischen Zurückhaltung“ und erklärten, Deutschland werde jetzt früher und entschiedener seine Interessen vertreten, überall auf der Welt, auch militärisch. Mit der Unterstützung des rechten Putsches in der Ukraine, der Nato-Aufrüstung gegen Russland und den Kriegseinsätzen in Mali, Syrien und dem Irak wurde diese Politik bereits in die Tat umgesetzt.

Was nun hinter dem Rücken der Bevölkerung vorbereitet wird, geht allerdings noch weit darüber hinaus. Der Verteidigungshaushalt soll nahezu verdoppelt und die Bundeswehr massiv aufgerüstet werden. Interne Papiere des Verteidigungsministeriums sehen eine Vergrößerung des Heeres, der Marine und der Luftwaffe vor. In den Medien wird über die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Anschaffung deutscher Atomwaffen diskutiert.

Es ist bemerkenswert, dass außer dem IKVI niemand dieser Entwicklung entgegentritt. Es geht kein Aufschrei durch die Medien. Es gibt keinerlei Kritik von Seiten der vermeintlich linken Parteien und Organisationen, die sich sonst gern ihres „Antifaschismus“ rühmen. Im Gegenteil: Linkspartei und Grüne waren von Anfang an in die Offensive des deutschen Imperialismus eingebunden und organisierten sogar gemeinsame Veranstaltungen mit Münkler und Baberowski. Das gesamte Establishment rückte in den vergangenen Jahren scharf nach rechts und stärkte damit extrem rechte und faschistische Kräfte wie Pegida und die AfD.

Nur die Sozialistische Gleichheitspartei und das IKVI nahmen diese Entwicklungen und die Revision der Geschichte ernst. Wir stellten sie direkt in Zusammenhang mit der Rückkehr des deutschen Militarismus. Wir erklärten, dass die Bourgeoisie ein neues historisches Narrativ braucht, wenn sie die weit verbreitete Antikriegsstimmung in der Bevölkerung durchbrechen will. Wir weigerten uns, die Köpfe einzuziehen und schweigend darauf zu hoffen, dass das Umschreiben der Geschichte keine Wirkung zeigen würde, wenn genügend Leute Augen und Ohren davor verschließen.

Mit dieser Haltung trafen wir unter Studierenden an den Universitäten und unter Arbeitern und Schülern auf große Resonanz. Auf zahlreichen gut besuchten Veranstaltungen warnten wir vor der Rückkehr des deutschen Militarismus und vor den politischen Implikationen, die eine Rehabilitierung der Nazi-Verbrechen haben würde.

Wir setzten uns gegen zahlreiche Versuche zur Wehr, unsere Kritik zu unterdrücken. Als die Leitung der Humboldt-Universität uns den Raum für eine Veranstaltung nur unter der Bedingung genehmigen wollte, dass wir keine Professoren kritisieren, organisierten wir eine Kampagne gegen diesen Zensurversuch, gewannen breite Unterstützung unter Studierenden und bekamen den Raum schließlich ohne Auflagen.

Vor zwei Jahren haben wir unter dem Titel „Wissenschaft oder Kriegspropaganda?“ ein Buch veröffentlicht, dass die Geschichtsfälschung an der Humboldt-Universität, die Rückkehr des deutschen Militarismus und die Auseinandersetzung darüber sorgfältig analysiert

Die Unterstützung für die IYSSE nahm dabei ständig zu. In den letzten drei Jahren wurden wir ins

Studierendenparlament gewählt – jedes Mal mit einem besseren Ergebnis als im Jahr zuvor. In diesem Jahr erhielten die IYSSE mehr Stimmen als die Gruppen der CDU, der Grünen und der Linkspartei. Wir brachten wichtige Resolutionen ein, die das Recht auf Kritik an rechten Professoren verteidigen, und gewannen dafür die Unterstützung des Parlaments.

Nach und nach schlossen sich auch Studierende anderer deutscher Universitäten unserer Kritik an. Studierendenvertretungen an zahlreichen Hochschulen in- und außerhalb Berlins erklärten ihre Unterstützung für die Arbeit der IYSSE, verurteilten Baberowski und unterstützten uns gegen die Angriffe der Uni-Leitung. Vor drei Tagen verabschiedete dann das Studierendenparlament der Humboldt-Universität mit großer Mehrheit eine Resolution, die die Uni-Leitung auffordert, ihre Unterstützung für Baberowski öffentlich zu widerrufen und gegen seine rechten Positionen Stellung zu beziehen.

Die Ereignisse an der Humboldt-Uni enthalten wichtige Lehren. Wie unter einem Brennglas konnte man beobachten, was heute die kapitalistische Gesellschaft in jedem Land ausmacht: eine kleine, aber einflussreiche Schicht an der Spitze versucht, ihren Kurs auf Krieg, Diktatur und soziale Konterrevolution gegen die große Mehrheit der Bevölkerung – gegen die Arbeiterklasse und die Jugend – durchzusetzen.

Die Opposition dagegen ist enorm. Doch sie findet im Rahmen der bestehenden Parteien und Organisationen keinen Ausdruck. Das Eingreifen der IYSSE hat sie ans Licht gebracht und ihr eine politische Perspektive gegeben. Das erkennen sogar unsere ärgsten Gegner an. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bestätigte in einem üblen Angriff auf die IYSSE und die WSWS, dass wir – wie sie wörtlich schrieb – „wirkungsmächtig“ seien.

Wie in den 1930er Jahren sind es auch heute nur die Trotzkisten, die die Kriegsgefahr verstehen, davor warnen und eine revolutionäre Perspektive dagegen formulieren. Die Verteidigung der historischen Wahrheit spielt dabei eine wichtige Rolle bei der politischen Erziehung einer neuen Generation von sozialistischen Arbeitern und Jugendlichen. Wir rufen alle Zuhörer auf, die Lehren aus diesem Kampf zu studieren und sich am Aufbau unserer Partei zu beteiligen.

Vielen Dank!

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