Perspektive

Die Präsidentschaftswahl in Frankreich

Die Stichwahl in Frankreich findet vor dem Hintergrund einer tiefen politischen Krise statt. Nach wie vor herrscht der Ausnahmezustand, unter dem grundlegende demokratische Rechte ausgesetzt sind. Die Kandidaten der traditionellen Regierungsparteien, der Sozialisten und der Konservativen, sind in der ersten Runde ausgeschieden. Und mit den beiden Kandidaten, die am Sonntag zur zweiten Runde antreten, stellt sich die herrschende Elite in Frankreich ein Armutszeugnis aus.

Auf der einen Seite steht Marine Le Pen vom neofaschistischen Front National (FN). Ihre Partei geht auf das Regime zurück, das im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Nazi-Besatzern kollaborierte. Le Pen hat Donald Trumps Wahlsieg begrüßt und setzt wie er auf Nationalismus und Protektionismus. Sie fordert den Austritt aus der Europäischen Union und dem Euroraum, um Frankreichs wichtigstem Handelspartner Deutschland den größtmöglichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Im Inland würde sie den Ausnahmezustand, den die PS verhängt hat, und den staatlichen Überwachungsapparat zur Errichtung einer faschistischen Polizeidiktatur nutzen. Außerdem will sie Zuwanderung verbieten, massive Polizeiaktionen durchführen und ausländische Kinder vom kostenlosen Schulunterricht ausschließen.

Le Pens Gegner ist der derzeitige Favorit Emmanuel Macron, der von der PS unterstützt wird. Der ehemalige Banker ist keine Alternative zum FN. Er ist mit der deutschen Bundesregierung und der Demokratischen Partei in Washington verbündet und unterstützt das aggressive Vorgehen der Nato gegen Syrien, Nordkorea und Russland, das zu einem Atomkrieg führen könnte. Zudem fordert er die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Im Inland will er den Ausnahmezustand beibehalten und ausnutzen, um im Zuge der verhassten Arbeitsmarktreform der PS Tariflöhne, Gesundheitsversorgung und Renten zu beschneiden. Die damit verbundenen Rechte haben ganze Generationen von Arbeitern im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts erkämpft.

Egal, welcher Kandidat gewinnt, Frankreich steht eine Regierung bevor, die die Interessen des Finanzkapitals vertritt. Sie wird im Inneren Klassenkampf von oben und nach außen imperialistische Kriege führen. Sieben von zehn Wählern lehnen beide Kandidaten ab. In Frankreich und ganz Europa braut sich ein Klassenkonflikt von revolutionären Ausmaßen zusammen.

Zwei Drittel der französischen Bevölkerung bezeichnen den Klassenkampf als alltägliche Realität. Die Erfahrungen der letzten 25 Jahre haben ihre Spuren hinterlassen: Seit der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie sind Krieg und Sozialabbau an der Tagesordnung. Unter den Jugendlichen, die seit dem Wall-Street-Crash von 2008 nichts als sozialen und wirtschaftlichen Zerfall erlebt haben, entwickelt sich unerkennbar eine revolutionäre Stimmung.

In der soeben erschienenen EU-Jugendstudie „Generation What?“, an der sich nahezu eine Million Jugendliche beteiligten, bejahten 61 Prozent der Franzosen unter 34 die Aussage: „Ich würde mich an einem großen Aufstand gegen die Macht beteiligen.“ Auch in Großbritannien, Schweden, Norwegen, Finnland, Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Ungarn, Bulgarien und Rumänien lag diese Quote über 60 Prozent.

Die Parti de l’égalité socialiste (PES), die französische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), ruft zum aktiven Boykott der Stichwahl am Sonntag auf. Ein aktiver Boykott ist etwas ganz anderes als individuelle Enthaltung.

Der Aufruf der PES an Arbeiter und Jugendliche, beide Kandidaten abzulehnen, beruht auf grundsätzlichen politischen Erwägungen. Die Erfahrung des internationalen Klassenkampfs seit mehr als einem Jahrhundert hat gezeigt, dass Wahlbündnisse mit bürgerlichen Parteien fatale politische Folgen haben. Die Unterordnung der Arbeiterklasse unter eine reaktionäre Partei des Finanzkapitals mit dem Ziel, den Sieg einer anderen, angeblich noch reaktionäreren bürgerlichen Partei zu verhindern, hat immer wieder zu politischen Katastrophen geführt. Das gilt auch heute. Eine solche Politik hat ihre eigene Logik. Wenn Macron die Wahl gewinnen sollte, wird man den Arbeitern wieder sagen: Ihr dürft nicht gegen die Regierung kämpfen oder sie stürzen, weil sonst der FN an die Macht kommt.

Die politische Krise, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, kann nicht durch ein cleveres Wahlmanöver gelöst werden. Der Aufruf zum Boykott ist richtig, weil er das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse anhebt und sie auf die bevorstehenden Kämpfe vorbereitet.

Die wichtigste Aufgabe besteht darin, eine marxistische und internationalistische Perspektive zu vertreten und die revolutionäre Führung der Arbeiterklasse aufzubauen, die für diese Kämpfe notwendig ist.

Viele Arbeiter in Frankreich haben ihre Schlüsse aus der Stichwahl gezogen, bei der sich 2002 Jean-Marie Le Pen und Jacques Chirac gegenüberstanden. Auch damals hatte fast das gesamte politische Establishment inklusive der „linksextremen“ Parteien mit der Begründung, es gelte den Sieg des FN zu verhindern, gemeinsam mit der PS einen reaktionären Kandidaten unterstützt. Das Ergebnis war eine Verschärfung der Angriffe auf die Arbeiterklasse, ein weiterer Rechtsruck der traditionellen Regierungsparteien und ein stetiges Anwachsen der Neofaschisten.

Der reaktionäre Rahmen, der mit dieser Wahl gesteckt wird, und das dahinter stehende politische System müssen als Ganzes zurückgewiesen werden. Die Arbeiterklasse braucht eine eigene, unabhängige politische Alternative, und der aktive Boykott der Stichwahl am Sonntag bildet einen Ausgangspunkt dafür.

Die PES warnt, dass Jean-Luc Mélenchons Bewegung La France insoumise (FI, Unbeugsames Frankreich) und die Nouveau parti anticapitaliste (NPA) den FN stärken, indem sie dem Argument vom kleineren Übel Vorschub leisten und revolutionären Widerstand gegen Macron von links abblocken. Auf diese Weise erleichtern es die Pseudolinken den Neofaschisten, sich als die einzige Anti-Establishment-Partei zu inszenieren. Sollte Macron die Wahl gewinnen und mit seiner arbeiterfeindlichen Politik massiven sozialen Widerstand auslösen, würde der FN wieder profitieren.

Nachdem Mélenchon 20 Prozent der Stimmen erhalten hat, drückt er sich feige vor jeder politischen Verantwortung. Er spricht sich nicht ausdrücklich für Macron aus, weil er befürchtet, damit bei seinen Wählern jede Glaubwürdigkeit zu verlieren. Allerdings bemüht er sich nach Kräften, eine Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen Macron und Le Pen zu verhindern. Er hat die Teilnahme von FI bei der Parlamentswahl im Juni angekündigt und sich bereit erklärt, unter Macron als Premierminister zu dienen.

Mélenchon ist also bereit, vor dem Hintergrund einer massiven militärischen Aufrüstung und einer aggressiven Außenpolitik unter Macron die Verantwortung für die Innenpolitik zu übernehmen. Dies entlarvt die FI und ihre Verbündeten als Sackgasse für Wähler, die Frieden und soziale Gleichheit wollen.

Angesichts des Zusammenbruchs der alten politischen Ordnung, die auf PS und LR ruhte, besteht der einzige Ausweg für die Arbeiterklasse darin, mit der PS und ihren Anhängseln zu brechen und zu einer revolutionären Politik zurückzukehren. Denn der Grund für die ausweglose Lage des französischen politischen Establishments ist die Todeskrise des Weltkapitalismus, die zu Krieg und Diktatur führt.

Für eine revolutionäre Gegenoffensive gegen die PS, Macron und den FN braucht die Arbeiterklasse ihre eigene Partei und politische Führung. Die PES vertritt zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution das konsequente sozialistische und internationalistische Programm, das auch die Bolschewiki unter Lenin und Trotzki vertraten, und steht für das vom IKVI verteidigte Erbe des Trotzkismus. Sie appelliert an Arbeiter und Jugendliche, die mit ihrer Analyse der Wahlen übereinstimmen, die PES zu unterstützen, ihr Programm zu studieren und sich am Kampf für den Aufbau der Partei als politische Avantgarde der Arbeiterklasse in Frankreich zu beteiligen.

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