Essen: Polizist erschießt jungen Eritreer

Ende April ist der junge eritreische Flüchtling Michael Haile vor seiner Wohnung im Essener Norden von der Polizei erschossen worden. Der Tod des 22-Jährigen löste bei Freunden, Bekannten und Nachbarn Betroffenheit und Bestürzung aus. Doch inzwischen ärgern sich viele der meist aus Eritrea stammenden Freunde darüber, dass ihnen die Polizei Antworten auf ihre vielen Fragen verweigert.

Gegen 23 Uhr war die Polizei am 26. April von einem Nachbarn wegen Ruhestörung gerufen worden. Als Michael, genannt Mike, die Tür öffnete, soll er ein Küchenmesser in der Hand gehabt haben, so die Polizei. Weil er dieses nach einer Aufforderung nicht weglegte, sondern auf die Polizisten zuging, schoss ihm einer der Polizisten laut Staatsanwaltschaft ins Herz. Noch im Hausflur starb Mike. Ein herbeigerufener Notarzt konnte sein Leben nicht retten.

Nachbarn waren geschockt. „Musste er wirklich erschossen werden?“, fragte eine Anwohnerin gegenüber der Lokalpresse. Der Mann sei immer freundlich gewesen, wenn sie ihm im Hausflur begegnete.

Demonstration für Mike in Essen am 6. Mai

Die WSWS sprach mit Girmay Habtu, der 1996 aus Eritrea nach Deutschland gekommen war, und nun in der Flüchtlingshilfe aktiv ist. Er kannte Mike sehr gut, den er bei seinem Versuch unterstützte, in Deutschland Fuß zu fassen.

Als Girmay von der Erschießung eines jungen Afrikaners in Altenessen hörte, postete er: „Muss die Polizei sofort einen tödlichen Schuss abgeben? Sind Polizisten nicht ausgebildet, einen Angreifer anders außer Gefecht zu setzen?“ Dass es sich bei dem Getöteten um Mike handelte, habe er erst am nächsten Tag von Bekannten erfahren.

Mike war in einem kleinen eritreischen Dorf in bitterer Armut aufgewachsen. Das nordostafrikanische Land am Roten Meer grenzt an den Sudan, Äthiopien, und Dschibuti. Die ehemalige italienische Kolonie ist nach einem dreißigjährigen Bürgerkrieg seit 1993 wieder von Äthiopien unabhängig. Unter Präsident Isayas Afewerki sind willkürliche Tötungen, Folter und Verhaftungen an der Tagesordnung. Menschen „verschwinden“, demokratische Rechte wie Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit existieren nicht.

Noch bevor Mike volljährig war, zog es ihn in die Hauptstadt Asmara zu seinem älteren Bruder. Über Facebook rieten ihm dann Bekannte zur Flucht nach Europa. Hätte er gewusst, wie schwer es für ihn in Deutschland wird, hätte er womöglich gezögert, sein Heimatland zu verlassen.

Aber mit gerade 19 Jahren machte er sich auf eine Odyssee, die ihn ein halbes Jahr – meist zu Fuß – über den Sudan, Libyen, das Mittelmeer zuerst nach Italien und schließlich nach Deutschland führte.

„Sofort bei seiner Ankunft hier in Essen, belegte er einen Sprachkurs“, berichtet uns Girmay. „Er war ein sehr motivierter Junge. Mike wollte lernen und arbeiten. Nach und nach hat er dann gemerkt, dass das Leben hier nicht so leicht ist, wie er es sich erhofft hatte. Auch mit der deutschen Sprache tat er sich sehr schwer. Er sprach nur Tigrinya, neben Arabisch die Arbeitssprache in Eritrea.“

Zunächst lebte Mike in einem Flüchtlingsheim im südlichen Essener Stadtteil Steele, bevor er dann im Essener Norden in einer Sozialwohnung unterkam. „Da war er sehr unzufrieden. Das Haus ist verwahrlost, die Gegend nicht die beste, die Wohnung hellhörig.“ Zudem war er dort der einzige Eritreer. „Er hatte dort Angst, sagte er mir einmal“, so Girmay. „Ich war einmal bei ihm und konnte das nachvollziehen. Sehr viel Armut, sozial isolierte Menschen leben dort. Es ist dort häufig laut.“

Mike wollte beim Jobcenter Essen unbedingt eine andere Wohnung beantragen. Aber er fand keine Hilfe. „Er verstand aber auch die Mitarbeiter dort nicht, es gab keine Dolmetscher. Als er mir sagte, die Security schmeiße ihn immer wieder aus dem Jobcenter raus, bin ich mit ihm gegangen. Die Security sagte mir, er würde immer wieder vor die Tür gesetzt, weil er aggressiv sei.“ Auf Nachfrage Girmays erläuterten die Security-Mitarbeiter, was sie meinten. Er habe nichts gemacht, nein: „Aber er geht nicht, wenn wir es ihm sagen.“ Mike verstand einfach nicht, was sie sagten.

„Ich selbst und auch andere haben geholfen so gut es geht“, berichtet Girmay. „Aber wir müssen auch arbeiten – und am Wochenende haben die Behörden zu.“

Mike hatte den Gedanken, wieder zurück nach Eritrea zu gehen. Er hatte ein besseres Leben in Deutschland erhofft. Nun ist er tot. Erschossen von der Polizei.

Girmay kommt das Geschehene merkwürdig vor. „Mike war klein und schmächtig. Er war eher ängstlich, ging oft in die Kirche.“ Ein zirka 1,60 Meter kleiner Jugendlicher stelle doch keine Bedrohung dar. Als Girmay einmal Mike in seiner Wohnung besuchte, sah er weder einen Fernseher noch eine Musikanlage. „Vielleicht hat er über Handy und Kopfhörer Musik gehört und laut mitgesungen“, versucht er sich die Umstände zu erklären, die zum Tod Mikes führten.

Er glaubt auch nicht, dass er unter Alkohol oder Drogen stand, wie die Polizei mutmaßte, weil ein Nachbar von „roten Augen“ berichtete. „Ich habe ihn niemals Alkohol trinken sehen.“ Seiner Schwester, die aus Großbritannien kam, sei von der Polizei auch nichts dergleichen mitgeteilt worden.

Ohnehin habe die Polizei in Essen kaum nähere Informationen herausgegeben. Girmay und weitere Freunde seien stets von der Polizei abgewimmelt worden. Es hatte mehrere Gespräche bedurft, um überhaupt die zuständigen Kripo-Beamten ausfindig zu machen. „Und die teilten uns mit, dass Informationen nur an die Familie gegeben werden“, berichtet Girmay.

Als sie dann eine Schwester in Großbritannien ausfindig gemacht und informiert hatten, kam diese mit ihrem Mann nach Deutschland. „Aber auch ihr wurde kein Bericht übergeben. Es gab nur mündliche Informationen, die aber so widersprüchlich waren, dass Mikes Schwester einen Anwalt einschaltete. Sie durften noch nicht einmal die Leiche sehen.“

Das habe ihn selbst und alle Freunde und Bekannten von Mike natürlich stutzig gemacht. Daher demonstrierten sie am 6. Mai in Essen. „Wir wollen Antworten haben. Wie ist Mike umgekommen? Man liest so viel über Rechte und Nazis bei der Polizei und aktuell bei der Bundeswehr“, fährt er fort. Er erinnert an den Fall von Oury Jalloh, der im Polizeigewahrsam starb, und an die Zeugen, die im Laufe der Ermittlungen gegen den NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) umgekommen sind. „Wer war der Polizist, der Mike erschossen hat?“ fragt Girmay. „Heute ist es Mike, morgen könnte ich es sein.“

Demonstrierende mit einem Bild Mikes

Er berichtet dann, wie schwer es war, die Demonstration in der Essener Innenstadt überhaupt anzumelden. Und als sie sich versammelt hatten, kam nicht wie abgesprochen die Polizei. Als Girmay im nahegelegenen Präsidium nachfragte, wurde ihm dort erklärt, die Polizei halte sich da raus. „Wieso kann sich die Polizei ‚raushalten‘?“

Außerdem heiße das auch, „dass sie uns nicht schützen, falls irgendetwas passiert“. Weil ein Demonstrationszug durch die Innenstadt nicht erlaubt wurde, gingen die Demonstranten nur auf und ab oder im Kreis. Girmay berichtet, dass zwar keine uniformierten Polizisten vor Ort waren, dafür aber eine ganze Reihe von Zivilbeamten, die die Demonstrierenden beobachteten.

„Viele von uns sind enttäuscht“, sagt Girmay, „von Polizei und Behörden und auch von den Medien.“ Obwohl diese zur Demonstration eingeladen waren, erschien nicht einer ihrer Reporter.

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