Der Großbrand im Londoner Grenfell Tower: Ein Verbrechen gegen die Arbeiterklasse

Das Feuer in dem West-Londoner Hochhaus Grenfell Tower in der Nacht zum Mittwoch hat bei Anwohnern und lokalen Bürgergruppen große Empörung ausgelöst. Ihre Warnungen vor den erheblichen Brandrisiken des Gebäudes waren von den kommunalen Behörden immer wieder ignoriert worden.

Der verheerende Brand war kurz vor ein Uhr morgens im zweiten Stock des Hochhauses ausgebrochen. Bereits nach kurzer Zeit stand das vierundzwanzigstöckige Gebäude, in dem etwa 500 Menschen in Sozialwohnungen leben, in Flammen.

Die Katastrophe hat mindestens siebzehn Todesopfer gefordert, diese Zahl wird aber vermutlich noch ansteigen. Ein Sozialarbeiter, der bei der Evakuierung des Gebäudes half, erklärte gegenüber der Daily Mail, in den drei obersten Stockwerken gebe es vermutlich keine Überlebenden. Weitere 74 Menschen werden in sechs Krankenhäusern behandelt, achtzehn davon befinden sich in Lebensgefahr.

Die obersten Stockwerke des Grenfell Tower brannten nach mehr als zwölf Stunden immer noch, da die Drehleitern der Feuerwehr nicht hoch genug sind, um sie zu erreichen.

Bewohner und Augenzeugen beschrieben erschütternde Szenen. Bewohner, die in dem brennenden Gebäude gefangen waren, riefen um Hilfe oder versuchten mit Handtüchern, T-Shirts und den Lampen ihrer Handys die Feuerwehrleute auf sich aufmerksam zu machen.

Als sich der Rauch verdichtete, sprangen einige der Bewohner der oberen Stockwerke aus den Fenstern, um sich vor den Flammen zu retten. Zeugen beschrieben, wie Rettungskräfte die Leichen der Opfer mit Laken bedeckten, darunter auch mehrere Kinder. Einige der Eingeschlossenen riefen Freunde und Angehörige an. Eine junge zweifache Mutter schickte um 2:54 Uhr per Snapchat eine Videobotschaft an ihre beste Freundin, in der sie um Hilfe bettelte, danach verabschiedete sie sich.

Im neunten oder zehnten Stockwerk hatte eine Frau ihr Baby in Decken gewickelt und flehte Passanten an, es aufzufangen. Eine andere Frau erklärte Reportern: „Ein Mann rannte nach vorne und fing das Baby wie durch ein Wunder auf.“

Eine Pflegerin, die in der Nähe wohnt, sagte einem CNN-Reporter: „Es war ein Inferno... So etwas habe ich noch nie im Leben gesehen... Sogar Feuerwehrleute in voller Schutzausrüstung kamen verwundet wieder nach draußen.“

Bewohner erklärten der Presse, es habe keinen Feueralarm gegeben, der sie gewarnt hätte. Feuerwehrleute bestätigten gegenüber dem Radiosender LBC, dass es in dem Gebäude keinen zentralen Feueralarm, keine interne Sprinkleranlage und nur ein Treppenhaus für die ganze Wohnanlage gab. Die Leitern reichten nur bis in den zwölften Stock. Andere Bewohner erklärten, die Rettungsdienste hätten sie angewiesen, in ihren Wohnungen zu bleiben und die Wohnungstüren mit nassen Handtüchern abzudichten, anstatt die Flucht aus dem Gebäude zu riskieren. Vermutlich sind deswegen viele umgekommen.

Ein Londoner Feuerwehrmann mit 29 Jahren Berufserfahrung erklärte gegenüber dem Radiosender LBC, diese Anweisung würde „bei einem normalen Brand“ dafür sorgen, dass das Feuer in einer geschlossenen Wohnung eingedämmt bleibe. Allerdings erklärte er auch, der Brand im Grenfell Tower sei keine normale Situation gewesen.

Als die sozialen Netzwerke immer mehr über den Brand berichteten, bedankten sich tausende von Nutzern in Kommentaren bei den Feuerwehrleuten für ihren heldenhaften Einsatz bei der Rettung der Opfer. Viele verurteilten auch die jüngsten Kürzungen bei der Londoner Feuerwehr. Bisher wurden zehn Feuerwachen geschlossen, 27 Fahrzeuge außer Dienst gestellt und 500 Stellen von Feuerwehrleuten abgebaut. Bis 2019 sollen weitere Kürzungen in Höhe von 23,5 Millionen Pfund folgen.

Laut Augenzeugen breitete sich das Feuer vom zweiten Stock in weniger als fünfzehn Minuten im ganzen Gebäude aus.

Die Überreste der verbrannten Schaum- und Aluminiumverkleidung

Das Feuer breitete sich über die Fassadenverkleidung aus Kunststoff nach oben aus. Die brennbare Verkleidung wurde letztes Jahr im Rahmen der verhassten „Erneuerungsmaßnahmen“ der Verwaltung des Stadtteils Kensington and Chelsea Borough (RBKC) und der Wohnungsverwaltung Chelsea Tenant Management Organisation (KCTMO) angebracht. Wie die Zeitung The Independent berichtete, wurde die Verkleidung letztes Jahr angebracht, um „die Aussicht aus den Luxuswohnungen im Umkreis zu verschönern.“

Nachbarn des Hochhauses erklärten, die Behörden hätten bewusst die Sicherheit vernachlässigt, um das Gebiet aufzuwerten und Bewohner zum Ausziehen zu nötigen. Ein Bewohner des Hochhauses erklärte vor Reportern: „Wir glauben, die Kommune und die Hausverwaltung haben in Wirklichkeit die Qualität der Sozialwohnungen verringert. Damit wollten sie ihre Pläne rechtfertigen, das Gebiet zu erneuern, d.h. alles abzureißen.“

Ein junger Bewohner sagte der BBC, das Haus habe wegen der neu angebrachten „minderwertigen“ Fassadenverkleidung so schnell gebrannt: „Sie haben zwei Möglichkeiten, entweder sie sanieren diese Häuser oder reißen sie ab... Sie wollen uns hier nicht haben, sie wollen hier diese Wohnblocks für Reiche bauen...“

Eine BBC-Reporterin versuchte erfolglos, den jungen Mann zum Schweigen zu bringen und sagte ihm mehrfach, es sei „zu früh, um Schlüsse zu ziehen.“ Der LBC-Radiomoderator James O'Brien erklärte den Zuhörern: „Manchmal ist es einfach Pech.“

Die Tatsachen jedoch widerlegen diese Versuche, den Schaden zu begrenzen.

Die Mietervereinigung Grenfell Action Group (GAG) und Bewohner warnen seit mehr als zehn Jahren, in dem Gebäude bestehe eine erhebliche Brandgefahr. Erst vor sieben Monaten hatten sie gewarnt, die unzureichenden Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen der Hausverwaltung würden „eine größere Katastrophe“ heraufbeschwören. Die Bezirksverwaltung von Kensington und Chelsea hatte diese Warnungen jedoch ignoriert.

Die Aktionsgruppe hatte über Jahre hinweg vor mehreren Feuerrisiken gewarnt, und u.a. auf schadhafte Stromleitungen hingewiesen; sie monierte weiter häufige Stromschwankungen; schadhafte Notfallbeleuchtung; in der Feuerwehrzufahrt geparkte Fahrzeuge; das Fehlen eines Feueralarms für das ganze Gebäude und die Untauglichkeit der Anweisung, im Brandfall in den Wohnungen zu bleiben. Im November 2016 zitierte die Gruppe aus dem Bericht der Hausverwaltung, laut der die Brandschutzausrüstung nicht inspiziert und gewartet wurde: „Bei den Feuerlöschern im Gebäude, dem Heizungsraum im Keller, dem Motorraum des Aufzugs, dem Schaltraum im Erdgeschoss und vielen anderen Bereichen waren laut den Aufklebern des Prüfunternehmens Inspektionen überfällig.“

Die Gruppe berichtet, im Jahr 2013 habe ein Großbrand im Grenfell Tower „gerade noch verhindert werden können.“ Bewohner hatten eine Zeitlang beängstigende Stromstöße gemeldet. Wie sich später herausstellte, wurden sie durch schadhafte Leitungen ausgelöst.

Die Grenfell Action Group erklärte: „Es ist zwar ein wirklich beängstigender Gedanke, doch wir glauben, dass nur eine Katastrophe die Unfähigkeit und Inkompetenz unseres Vermieters, der KCTMO, enthüllen und den gefährlichen Lebensbedingungen und der Vernachlässigung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften ein Ende setzen kann, die sie ihren Mietern und Pächtern zumutet.“

Die ausgebrannte Außenfassade des Grenfell Tower

Die Katastrophe ist das Ergebnis einer Vertuschung, an der Politiker aus dem innersten Kreis der Tory-Regierung von Premierministerin Theresa May beteiligt sind.

Der letzte Großbrand in einem Hochhaus ereignete sich im Juli 2009. Im Lakanal House in Camberwell wurden sechs Menschen getötet, darunter zwei Kinder und ein Säugling. Der Bericht eines Untersuchungsrichters empfahl eine Aktualisierung der Bauvorschriften und rief die Besitzer von Hochhäusern dazu auf, Sprinkleranlagen einzubauen.

Der Tory-Minister Brandon Lewis erklärte vor Abgeordneten, er plane die Abschaffung der Hälfte aller Bauvorschriften. Er erklärte: „Die Kosten für die Installation einer Sprinkleranlage könnten den Wohnungsbau beeinträchtigen, während wir ihn begünstigen wollen. Deshalb müssen wir abwarten, welche Folgen diese Vorschrift haben wird.“

Der ehemalige Wohnungsbauminister Gavin Barwell versprach, die Brandschutzvorschriften zu überprüfen, aber dazu kam es nie. Letzten Samstag wurde Barwell zu Mays neuem Stabschef ernannt.

Am Mittwoch veröffentlichte ein Sprecher des Radical Housing Network, zu dem auch die Grenfell Action Group gehört, eine Stellungnahme: „Der Brand in Grenfell ist eine schreckliche Tragödie, die zu vermeiden gewesen wäre, und für die Behörden und Politiker zur Verantwortung gezogen werden müssen. Die Bewohner von Grenfell Tower sind keine Bürger zweiter Klasse, doch trotzdem haben sie eine Katastrophe erlebt, die in den reicheren Gegenden von Kensington unvorstellbar gewesen wäre.

Weiter hieß es: „Es ist ein Skandal, dass man den britischen Behörden im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht zutrauen kann, für sichere Wohnungen zu sorgen, und dass die Bewohner von Sozialwohnungen ihre Kinder nachts nicht unbekümmert ins Bett bringen können.“

Kensington and Chelsea Borough gehört zu den Stadtteilen mit der größten sozialen Ungleichheit im ganzen Land. Hier befinden sich das bekannte Kaufhaus Harrods, die Wohnsitze mehrerer milliardenschwerer Oligarchen und einige der teuersten Immobilien der Welt. Vor kurzem wurde eine Immobilie am Carlyle Square in Chelsea für 16.500.000 Pfund verkauft. Das Haus brüstet sich mit sich mit einem „preisgekrönten Garten“, einem Kino „mit Stadionbestuhlung“, einer Bar und einem Fitnessstudio. Die Immobilienagentur Engels & Volker lobt Chelsea für seine „lockere Ausstrahlung.“

Doch in dem gleichen Stadtteil müssen tausende von Familien in heruntergekommenen Wohnungen leben, die sich im Ernstfall zu einer Todesfalle entwickeln. Der ganze Wohnblock muss als Tatort behandelt werden. Die Behörden verdienen kein Vertrauen. Die Arbeiter müssen selbst gegen die staatliche Vertuschung vorgehen.

Sie müssen die vollständige und sofortige Enthüllung aller Geschäfte der KCTMO fordern, darunter auch der finanziellen Beziehungen zu den kommunalen Behörden. Die Aufklärung darf jedoch nicht darauf beschränkt bleiben, sondern muss bis auf Regierungsebene fortgesetzt werden. Vor allem muss festgestellt werden, wie Minister Brandschutzmaßnahmen verhindert haben, um die Kosten für Wohnungsbauunternehmen zu senken. Außerdem müssen die Auswirkungen der Kürzungen bei den Feuerwehren untersucht werden.

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