Diese Woche in der Russischen Revolution

19.–25. Juni: Sowjetkongress verbietet bolschewistische Antikriegsdemonstration

Die Provisorische Regierung in Russland bereitet eine große militärische Offensive vor. Die Menschewiki, die Volkstümler und andere kleinbürgerlichen Politiker unterstützen dieses Vorhaben. Die große Mehrheit der Arbeitern, Bauern und Soldaten sind jedoch dagegen und fordern Frieden. Als die Bolschewiki zu einer friedliche Demonstration gegen die geplante Offensive aufrufen, reagieren die menschewistischen Führer empört und drohen ihnen mit Unterdrückung.

In einer Sitzung des Sowjetkongresses verliert der menschewistische Führer Irakli Zeretelli die Fassung und entpuppt sich als Konterrevolutionär. Er erklärt, die Bolschewiki müssten „mit andern Methoden der Kriegsführung“ unterdrückt werden. Aus Protest verlassen die Bolschewiki die Versammlung.

In der Hoffnung, konterrevolutionäre Gewalt vermeiden zu können, sagen Lenin und die bolschewistischen Führer die Demonstration kurzfristig ab. Viele Arbeiter sind konsterniert, auch innerhalb der Bolschwewiki. Zeretellis Rede ist jedenfalls ein Wendepunkt in der Russischen Revolution und alarmiert das ganze Land. Die Rede zeigt, wie weit die angeblich „sozialistischen“ Menschewiki zu gehen bereit sind, um den kapitalistischen Staat und seine Kriegsziele zu verteidigen.

Bern, 19. Juni: Bundesrat Arthur Hoffmann tritt zurück

Karikatur aus Nebelspalter von 1917, zeigt die Spaltung zwischen Mittelmächte-freundlicher Deutschschweiz und Entente-freundlicher Westschweiz (Zentralbibliothek, Zürich, Julius Friedrich Boscovits)

Der Schweizer Bundesrat Arthur Hoffmann, Chef des Politischen Departements, reicht beim Bundespräsidenten, E. Schulthess sein Demissionsgesuch ein. Es ist ein für einen Schweizer Bundesrat höchst ungewöhnlicher Schritt. In dem Gesuch heißt es: „Die unbefugte Veröffentlichung einer chiffrierten Depesche, die ich durch Vermittlung der Schweizerischen Gesandtschaft in Petrograd an den dort anwesenden Herrn Nationalrat Grimm richtete … hat eine Lage geschaffen, die für die innerpolitischen und auswärtigen Beziehungen des Landes verhängnisvoll werden kann.”

Der Rechtsanwalt und Politiker Arthur Hoffmann (1857–1927), Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), hat für Banken und Versicherungen gearbeitet, ehe ihn seine politische Karriere 1911 bis in die Schweizer Regierung geführt hat. Er gilt als stark deutschfreundlich. Im August 1914 hat er in seiner turnusmäßigen Funktion als Bundespräsident dafür gesorgt, dass der in Hamburg geborene General Ulrich Wille, ein berüchtigter Soldatenschinder, das Oberkommando der Schweizer Armee für die Zeit des Kriegs übernimmt.

Als der Sozialist Robert Grimm, Vorsitzender der Zimmerwalder Bewegung, im April 1917 mit Hoffmann Kontakt aufnimmt, um die Heimreise russischer Emigranten durch Deutschland in die Wege zu leiten, ergreift Hoffmann die Gelegenheit beim Schopf und versucht mit Grimms Hilfe, einen Separatfrieden zwischen den Mittelmächten und Russland auszuloten.

Die geheime Telegrammkorrespondenz zwischen der deutschen Botschaft in Bern, dem Schweizer Außenministerium und der Schweizer Botschaft in Petersburg fliegt schnell auf. Die Berichte in der internationalen Presse über die „Grimm-Hoffmann-Affäre“ sorgen für einen handfesten Skandal und rufen die Entente-Mächte Frankreich und England auf den Plan. Der britische Botschafter in Bern, Sir Horace Rumbold, sucht Hoffmann auf und macht ihm klar, dass sich die Schweizer Regierung dem Vorwurf aussetze, die Neutralität faktisch aufzugeben und im Auftrag Deutschlands zu handeln.

Auch in der Romandie, der französischsprachigen Westschweiz, löst die Affäre eine Welle der Kritik aus. Zwischen deutscher und welscher Schweiz besteht schon seit Kriegsbeginn ein gespanntes Verhältnis: Ungeachtet der angeblichen „strikten Neutralität der Schweiz“ steht die deutschsprachige Schweiz eher auf Seiten Deutschlands und die französische eher auf Seiten Frankreichs. Um die innen- und außenpolitischen Wogen zu glätten, entlässt die Regierung Arthur Hoffmann und ersetzt ihn durch den Genfer Gustave Ador, den Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.

Petrograd, 20. Juni (7. Juni): Lenin verurteilt geplante Kerenski-Offensive

Viktor Tschwernow

In seinem Artikel, „Die Erzreaktionäre vom 3. Juni sind für die sofortige Offensive“, verurteilt Lenin Kerenskis geplante Militäroffensive, die eine geheime Duma-Versammlung am 16. Juni (3. Juni) beschlossen hat. Lenin greift in der Prawda den Führer des Petrograder Sowjets und menschewistischen Minister, Irakli Zeretelli, und den sozialrevolutionären Minister Viktor Tschernow mit folgenden Worten an:

Für die sofortige Offensive sein, das bedeutet, dafür eintreten, dass der imperialistische Krieg fortgesetzt wird, dass die russischen Arbeiter und Bauern niedergemetzelt werden, um Persien, Griechenland, Galizien und die Balkanvölker usw. zu versklaven, dafür eintreten, dass sich die Konterrevolution wieder belebt und festigt, dass sich die Phrasen vom „Frieden ohne Annexionen“ endgültig in ein Nichts auflösen, eintreten für den Krieg gerade um der Annexionen willen.

Gegen die sofortige Offensive sein, das bedeutet, dafür eintreten, dass die Sowjets die gesamte Macht übernehmen, dass die revolutionäre Initiative der unterdrückten Klassen geweckt wird und dass die unterdrückten Klassen aller Länder unverzüglich einen „Frieden ohne Annexionen“ anbieten, einen Frieden, der auf den präzisen Bedingungen des Sturzes der kapitalistischen Herrschaft und der Befreiung ausnahmslos aller Kolonien, ausnahmslos aller unterdrückten oder nicht gleichberechtigten Völker beruht …

Nur zwischen diesen beiden Wegen kann man wählen. Zeretelli, Tschernow und Co. lieben Mittelwege. Hier kann es keinen Mittelweg geben, und wenn sie schwanken oder sich mit Phrasen herausreden, so werden sie, die Zeretelli, Tschernow und Co., sich endgültig zu Werkzeugen in den Händen der konterrevolutionären Bourgeoisie erniedrigen.

Petrograd, 21. Juni (8. Juni): Bolschewistische Führer beschließen friedliche Demonstration am 10. Juni

Mitglieder der Militärischen Organisation der Bolschewiki, sitzend v.l.n.r.: K.N. Orlow, K.A. Mechonoschin, W.I. Newski, N.I. Podwojski, P.W. Daschkewitsch, F.F. Raskolnikow. Stehend, v.l.n.r.: B.I. Zanko, M.S. Kedrow, V.L. Panjuschkin und A.I. Tarasow-Rodjonow. Quelle: Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution, Indiana University Press 1991.

Auf einem erweiterten Treffen ihres Zentralkomitees und ihres Petrograder Komitees beschließt die Bolschewistische Partei für den 10. Juni eine friedliche (d.h. unbewaffnete) Demonstration unter dem bolschewistischen Slogan „Alle Macht den Räten“ und „Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten“. Mehrere weitere Organisationen, zum Beispiel der Zentralsowjet der Betriebskomitees und mehrere anarchistische Gruppen, unterstützen diesen Aufruf zur Demonstration. Am nächsten Tag beschließen Trotzkis Interrayonisten (Meschrayonzy), an der Demonstration teilzunehmen. Der Zug soll zum Sowjetkongress marschieren, der noch in Petrograd tagt.

Die Initiative für die Demonstration geht von der Militärischen Organisation der Bolschewiki aus. Sie reagiert damit auf die zunehmend militante Stimmung unter den fortschrittlichsten Schichten der Arbeiterklasse und der Petrograder und Kronstädter Garnison. Nur wenige Tage davor hat die Konferenz der Betriebskomitees mehrere bolschewistische Resolutionen angenommen. Im Petrograder Industrieviertel Wyborg sind 37 Bolschewiki in die Bezirksduma gewählt worden, während es vom Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki nur 22 und von den Kadetten nur vier sind.

In immer mehr Fabriken und Regimentern stimmen die Arbeiter und Soldaten Resolutionen zu, die sich auf die Slogans und Forderungen der Bolschewiki stützen. Am meisten hört man: „Alle Macht den Sowjets“. Besonders die bevorstehende Kerenski-Offensive sorgt für immer größere Unzufriedenheit, vor allem unter den Soldaten der Petrograder Garnison. Später wird Trotzki in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ schreiben:

Der Gedanke, die Petrograder Arbeiter und Soldaten mit dem Kongress zu konfrontieren, hatte sich durch die ganze Situation von selbst aufgedrängt. Die Massen bestürmten die Bolschewiki. Besonders brodelte die Garnison, die befürchtete, man würde sie im Zusammenhang mit der Offensive zerstückeln und an die Fronten verstreuen. Dazu kam die starke Unzufriedenheit mit der „Deklaration der Rechte des Soldaten“, die im Vergleich mit dem „Befehl Nr. 1“ und dem Regime, das sich in der Armee faktisch durchgesetzt hatte, einen großen Schritt rückwärts bedeutete.

Petrograd, 22. Juni (9. Juni): Sowjetkongress verhängt dreitägiges Demonstrationsverbot

Präsidiumsmitglieder des Ersten Allrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten. V.l.n.r.: M.I. Skobelew, N.S. Tschcheїdse, G.W. Plechanow und I.G. Zeretelli. Quelle: Alexander Rabinowitch, The Bolsheviks Come to Power, Haymarket Books 2004)

Der bolschewistische Aufruf zur Demonstration am 10. Juni, der in der Morgenausgabe der Prawda erscheint, platzt wie eine Bombe in den Sowjetkongress. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre in der Sowjetführung sehen in der Demonstration eine direkte Herausforderung nicht nur ihrer eigenen Macht, sondern auch der Provisorischen Regierung. Tschcheїdse, der Führer der Menschewiki, warnt die Delegierten: „Wenn der Kongress keine Maßnahmen ergreift, wird der morgige Tag verhängnisvoll werden.“

Keuchend vor Wut erklärt Zeretelli:

Die Bolschewiki mögen es uns nicht verübeln. Jetzt werden wir zu andern Kampfmethoden greifen … Man muss die Bolschewiki entwaffnen. Man darf jene großen, technischen Mittel, über die sie bis jetzt verfügten, nicht länger in ihren Händen belassen.

Zeretellis Rede wird mit bedrückendem Schweigen aufgenommen. Sogar die Menschewiki und Volkstümler in der Sowjetführung erstarren. Was Zeretelli fordert, ist effektiv die Entwaffnung des Proletariats, wie der Menschewik Suchanow später schreiben wird:

Die Bolschewiki besitzen ja keine besonderen Waffenlager. Die gesamten Waffen sind ja bei den Soldaten und Arbeitern, die in ungeheurer Zahl mit den Bolschewiki gehen. Entwaffnung der Bolschewiki kann nur Entwaffnung des Proletariats bedeuten. Mehr noch – das ist die Entwaffnung der Truppen.

Lew Kamenew, ein Vertreter der bolschewistischen Fraktion, steht auf und fordert Zeretelli stolz heraus: „Herr Minister, wenn Sie Ihre Worte nicht in den Wind streuen, haben Sie nicht das Recht, sich auf eine Rede zu beschränken. Verhaften Sie mich und lassen Sie mich aburteilen wegen Verschwörung gegen die Revolution.“ Die Bolschewiki verlassen die Sitzung. Es folgt eine hitzige Diskussion. Leo Trotzki, der für die Meschrayonzy spricht, greift Zeretelli an und verteidigt die Bolschewiki. Juli Martow, Führer der Menschewiki-Internationalisten, erklärt:

Viel ist hier über das Abenteurertum der Bolschewiki gesprochen worden, aber vergesst nicht, dass ihr es nicht mit einer kleinen Gruppe von Bolschewiki zu tun habt, sondern mit den großen Arbeitermassen, die hinter ihnen stehen. Anstatt zu versuchen, diese Arbeitermassen zu gewinnen und vom Einfluss der Bolschewiki wegzuziehen, ergreift ihr überstürzt Maßnahmen, die zwischen euch und dem aktivsten Teil des Proletariats einen Abgrund aufreißen.

Martow und Fjodor Dan, ein weiterer Menschewik, schlagen eine andere Resolution vor. Sie läuft „nur“ darauf hinaus, drei Tage lang alle Demonstration zu verbieten und jedermann aus dem Sowjet auszuschließen, der sich dem Verbot widersetzt. Diese Resolution gewinnt schließlich die Zustimmung der Mehrheit des Sowjetkongresses.

Wenige Stunden später, am 23. Juni (10. Juni) um zwei Uhr nachts, entscheidet das bolschewistische Zentralkomitee, das Verbot zu beachten und die geplante Demonstration abzusagen, weil es befürchtet, dass die Demonstration benutzt werden könnte, um konterrevolutionäre Gewalt zu entfesseln.

Zur gleichen Zeit schwärmen 500 Sowjetmitglieder in die Petrograder Arbeiterviertel aus, um Arbeiter und Soldaten zu beschwören, der geplanten Demonstration fernzubleiben. Die Arbeiter reagieren feindselig. In einigen Fabriken sagen Arbeiter zu den Sowjetdelegierten: „Wir sind für euch keine Genossen.“ In der Iswestja, der Zeitung des Moskauer Sowjets, wird der nächtliche Ausflug der Delegierten wie folgt beschrieben:

Die Mehrheit des Kongresses, über 500 seiner Mitglieder, hatten die ganze Nacht kein Auge geschossen; in Zehnergruppen aufgeteilt, besuchten sie die Petrograder Fabriken und Truppenteile mit der Aufforderung, von der Demonstration abzusehen. Der Kongress besitzt in einem großen Teil der Fabriken und Werkstätten und auch bei gewissen Teilen der Garnison keine Autorität … Die Kongressmitglieder wurden durchaus nicht immer freundlich, mitunter sogar feindselig empfangen und nicht selten im Bösen verabschiedet.

Die meisten Arbeiter willigen erst ein, die Demonstration abzusagen, nachdem sie am Morgen erfahren haben, dass das bolschewistische Zentralkomitee entschieden hat, das Verbot zu respektieren – und sie folgen ihm nur widerstrebend.

Kiew, 23. Juni (10. Juni): Ukrainische Rada proklamiert Unabhängigkeit

Erstes Generalsekretariat der ukrainischen Rada. Sitzend von links nach rechts: Steschenko, Baranowski, Wynnytschenko, Jefremow, Petljura. Stehend v.l.n.r.: Chrystjuk, Stasjuk, Martos

Die ukrainische Rada (Zentralrat) nimmt die „Universelle Deklaration“ an und proklamiert eine unabhängige Ukraine. Das russische Reich wird durch nationale Spannungen zerrissen, und die Ukraine ist dabei ein neuralgischer Punkt. In der „Universellen Deklaration“ wird die Provisorische Regierung beschuldigt, sie hintertreibe die nationale Unabhängigkeit der Ukraine. Es heißt dort: „Von jetzt an werden wir unser eigenes Leben bestimmen.“ Als Antwort auf die Deklaration verurteilen die Kadetten in Petrograd die ukrainischen Führer als deutsche Agenten, während die Menschewiki und Sozialrevolutionäre in Trotzkis Worten „mit sentimentalen Ermahnungen“ reagieren.

Die Bewegung für nationale Unabhängigkeit ist vor allem in der westlichen Ukraine in der Gegend von Kiew stark, d.h. in einer Gegend, die erst Mitte des 18. Jahrhunderts Teil des russischen Reiches geworden ist. Außerdem ist die Westukraine stärker agrarisch geprägt und hat einen größeren Anteil an ethnischen Ukrainern, während die Ostukraine stärker industriell geprägt ist. Dort sind viele Arbeiter eher russischer oder jüdischer Abstammung. Der Historiker Oliver H. Radkey merkt an, dass aufgrund dieser sozialen und historischen Unterschiede „die Revolution westlich des Dnjepr einen eher nationalen Charakter annahm, und im Osten eher einen sozialen Charakter … Kiew ist das Symbol nationaler Auseinandersetzungen, hier herrscht Waffenstillstand zwischen den Klassen. Dagegen ist Charkow der Nährboden für den Klassenkampf, hier herrscht Waffenstillstand zwischen den Nationalitäten.“

Zahlreiche Arbeiterorganisationen unterstützen die ukrainische Rada. Die Annahme der „Universellen Deklaration“ kommt nach Monaten, in denen die Provisorische Regierung die nationalen Bestrebungen in der Ukraine und anderen Regionen ignoriert hat. Die Provisorische Regierung verweigert den nationalen Minderheiten das Recht auf Lostrennung und auf Bildung eines unabhängigen Staates. Die Menschewiki und russischen Sozialrevolutionäre unterstützen im Wesentlichen diese Linie, da sie vor allem fürchten, dass ein Auseinanderbrechen des russischen Reichs die Niederlage Russlands im Krieg bedeuten könnte, und dass die Existenz des russischen Staates selbst in Frage gestellt würde.

Warschau, 23. Juni: Deutsche Besatzungsbehörden schließen Warschauer Universität

Landkarte des besetzten Mitteleuropa, 1915–1917. (Jesse Kauffman: “Elusive Alliance, The German Occupation of Poland in World War I”, Harvard University Press 2015

Nach wochenlangen Studentenprotesten im von Deutschland besetzten Warschau schließt der deutsche Gouverneur Hans von Beseler die Universität Warschau und das Polytechnische Institut der Stadt. Sie werden erst im November 1917 wieder geöffnet. Der Studentenstreik ist symptomatisch für die wachsende Krise in den deutsch-besetzten Gebieten seit der Februarrevolution in Russland.

Warschau steht seit 1915 unter deutscher Besatzung. Bis zum Kriegsausbruch haben Warschau und das heutige zentrale Polen zum Russischen Reich gehört. Die deutschen Besatzungsbehörden haben die Warschauer Universität und das Polytechnikum wiedereröffnet, um der polnischen Elite zu schmeicheln und sie für die deutsche Besatzung einzunehmen. Die Deutschen kontrollieren den Lehrplan und den Lehrkörper der Universität. Es ist eine Gratwanderung zwischen der Begünstigung polnischen Nationalismus‘ – als Gegengewicht gegen Russland und der sozialistischen Bewegung – und der Unterdrückung nationalistischer Tendenzen, damit sie nicht aus dem Ruder laufen und sich gegen Deutschland richten.

Im Krieg werden die Universitäten zum Nährboden nationalistischer Gruppen, die den polnischen Staat wieder aufbauen wollen. 1916 entsteht ein Konflikt zwischen Studenten, Lehrpersonal und den deutschen Besatzungsbehörden über Berufungen an das theologische Institut. Die Frage ist heikel, da die katholische Kirche eng mit der nationalistischen Bewegung in Polen verbunden ist. Nach der Februarrevolution fühlt sich die polnische Nationalbewegung ermutigt und setzt ihre Hoffnung auf die nationale Anerkennung durch die Provisorische Regierung.

Am 3. Mai, dem Jahrestag der ersten polnischen Verfassung 1791, treten die Studenten in Warschau in den Streik. Nationalistische Kräfte haben im Studentenstreik die Oberhand, und es ereignen sich zahlreiche antisemitische Zwischenfälle. Antijüdische Ausfälle richten sich sowohl gegen Studenten wie auch gegen Lehrende der Warschauer Universität. Viele Studenten unterstützen Josef Pilsudzki, den früheren Führer der Sozialistischen Partei Polens (PPS), der seine militärischen Einheiten, die so genannten „Legionen“, Österreich und Deutschland zur Verfügung stellt. Er hofft, dass die Regierungen dieser Länder die Schaffung eines „unabhängigen“ polnischen Staates unterstützen werden.

Trotz zahlloser Versuche gelingt es den deutschen Behörden nicht, den Streik zu beenden. Ende Mai ändern die Studenten ihre Taktik. Einige gehen wieder in den Unterricht, weigern sich aber, die Gebühren zu bezahlen und sich offiziell einzuschreiben. Schließlich entscheidet der deutsche Gouverneur Beseler, die Universitäten zu schließen und alle Studenten, die nicht eingeschrieben sind, auszuschließen.

Duluth (Minnesota), 23. Juni: Behörden unterdrücken IWW

Cartoon, erschienen am 30. Juni 1917 in der IWW-Zeitung Solidarity. „Die Hand, die die Welt beherrschen wird – eine große Gewerkschaft“

Die Industrial Workers of the World (IWW, „Wobblies“) geraten zusehends ins Visier der Wilson-Regierung und staatlicher und örtlicher Behörden. Die IWW sind eine revolutionäre Gewerkschaftsbewegung und organisieren jene Teile der amerikanischen Arbeiterklasse, die der Facharbeiterverband American Federation of Labor (AFL) links liegen lässt, darunter Eisenerz- und Kupferbergarbeiter, Textil und Bekleidungsarbeiter, neuere Einwanderer und Afroamerikaner.

In Duluth erlässt die Stadt am 23. Juni ein Gesetz, dass es erlaubt, jeden einzusperren, von dem nicht bekannt ist, wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet. Sofort werden die Büros der IWW durchsucht und zehn Personen festgenommen. Die IWW-Aktivistin Elizabeth Gurley Flynn, die in einem Hotel in der Nähe abgestiegen ist, wird ebenfalls festgenommen.

Zwei Tage später werden auch in Rockford (Illinois) 134 Arbeiter verhaftet, viele von ihnen „Wobblies“, die gegen die Wehrpflicht demonstrieren. Ihre Demonstration richtet sich gegen die Verhaftung mehrerer IWW-Mitglieder, die sich am 5. Juni, am nationalen Registrierungstag, geweigert haben, der nationalen Aushebung Folge zu leisten.

Die Verfolgung der IWW entspricht der Strategie des amerikanischen Imperialismus, die Kontrolle über seine so genannten „industriellen Festungen“ sicherzustellen. Am Westende des Lake Superior gelegen, ist Duluth einer der meist frequentierten Wirtschaftshäfen der USA. Ein wichtiges Transportgut ist neben Holz und Weizen auch Stahl. Hier wird der größte Teil des Eisenerzes aus Mesabi Range umgeschlagen, einer Region, die infolge eines Streiks der IWW 1916 komplett zum Erliegen kam. Rockford (Illinois) ist ebenfalls eine große Maschinenbau-Stadt. Die Behörden in Arizona und Montana bereiten sich auf einen Konflikt mit den Kupferbergarbeitern vor.

Petrograd, 24. Juni (11. Juni): Bolschewiki diskutieren Absage der Demonstration

Mitglieder des Petrograder Komitees der Bolschewistischen Partei. Stehend v.l.n.r.: A.G. Schljapnikow, N.K. Antipow, K.I. Schutko, P.I. Stuschka. Sitzend v.l.n.r.: N.K. Agadschanowa-Schutko, M.I. Kalinin, W.W. Schmidt, K.N. Orlow, V.N. Saleschski. Quelle: Alexander Rabinowitch (Ed.): Petersburgskii komitet RSDRP (b) v 1917 godu. Protokoly i materialy zasedanii, St. Petersburg: Beleveder 2003.

Die kurzfristige Absage der geplanten Demonstration vom 10. Juni sorgt unter Arbeitern und Soldaten, sowie auch in der bolschewistischen Partei selbst, für Unzufriedenheit. Aus Frustration und Zorn zerreißen „die hitzigsten Parteimitglieder“ (Trotzki) ihre Mitgliedskarten.

Besonders die Mitglieder des Petrograder Parteikomitees, die unter den militantesten und fortgeschrittensten Arbeiter des ganzen Landes arbeiten, sind mit der Entscheidung des Zentralkomitees (ZK) unzufrieden. Eine besondere Sitzung wird einberufen, um die Sache zu klären. Lenin spricht im Namen des ZK. Er räumt ein, dass die Unzufriedenheit bis zu einem gewissen Grad legitim sei, und erklärt:

Selbst im üblichen Krieg kommt es vor, dass angesetzte Offensiven aus strategischen Gründen abgesagt werden müssen, umso mehr kann das im Klassenkampf … vorkommen. Man muss verstehen, der Situation Rechnung zu tragen und kühn in seinen Entschlüssen sein.

Lenin ist der Ansicht, dass die abgesagte Demonstration vom 10. Juni einen Wendepunkt in der Revolution darstellt. Im Zusammenhang mit Zeretellis „historischer und hysterischer Rede“ erklärt Lenin:

Zeretelli, der sich in seiner Rede als ausgesprochener Konterrevolutionär entpuppte, hat erklärt, dass man die Bolschewiki nicht mit Worten, nicht mit Resolutionen bekämpfen dürfe, sondern ihnen alle in ihren Händen befindlichen technischen Mittel entziehen müsse … Die Arbeiter müssen nüchtern erkennen, dass von einer friedlichen Demonstration jetzt keine Rede mehr sein kann. Die Lage ist viel ernster, als wir angenommen hatten. Wir wollten eine friedliche Revolution durchführen, um auf die Beschlüsse des Kongresses größtmöglichen Druck auszuüben – das ist unser Recht – man beschuldigt uns aber, wir hätten eine Verschwörung angezettelt, um die Regierung zu verhaften.

Eindringlich fordert Lenin das Petrograder Komitee auf, jetzt mit „größter Ruhe, Vorsicht, Ausdauer und Organisiertheit“ vorzugehen.

Wir dürfen keinen Anlass zum Angriff geben, mögen sie angreifen, dann werden die Arbeiter verstehen, dass das ein Anschlag auf die Existenz des Proletariats selbst ist. Doch das Leben ist auf unserer Seite, und es ist noch ungewiss, ob ihnen der Angriff gelingen wird: Die Truppen stehen an der Front, und der Geist der Unzufriedenheit ist unter ihnen sehr stark, im Hinterland herrschen Teuerung, Zerrüttung, usw.

Das ZK will keinen Druck auf Ihre Entscheidung ausüben. Es ist Ihr gutes Recht, gegen die Handlungen des ZK zu protestieren, und Sie sollen frei sein in Ihren Entschlüssen.

Nach längerer und erhitzter Diskussion beschließt das Petrograder Komitee, die Linie des Zentralkomitees zu billigen.

Russland, 24. Juni (11. Juni): Militärberichte enthüllen rebellische Antikriegsstimmung unter den Soldaten

In einem Bericht an das Oberkommando der (russischen) Westfront betont General Anton Denikin, dass die meisten seiner Soldaten von der bevorstehenden Offensive eine schlechte Meinung haben. Der Bericht veranlasst General Alexei Brusilow, die Offensive in Zweifel zu ziehen: „Macht es in Anbetracht dieser Stimmung wirklich Sinn, diesen Schlag [gegen den Feind] vorzubereiten?“

Andere Armeekommandanten machen ähnliche Beobachtungen und stellen fest, dass viele Soldaten die geplante Offensive ablehnen, und dass die bolschewistische Propaganda in vielen Regimentern und Garnisonen um sich greift. So berichtet der Kommandant des 38. Armeekorpses dem Kommandanten der zehnten Armee, dass Soldaten von der 44. Sibirischen Division sich weigerten, ihre Stellung zu verstärken. Ein Soldat soll demnach erklärt haben: „Wir haben die frühere Regierung gestürzt, und wir werden auch die von Kerenski stürzen.“

Saint-Nazaire, 25. Juni: Erste US-Truppen in Frankreich. Alliierte planen große Offensive

Amerikanische Transportschiffe „Henderson“, „Antilles“, „Momus“ und „Lenape“

Nachdem die USA Deutschland am 6. April den Krieg erklärt haben, treffen 14.000 amerikanische Infanteristen in Frankreich ein. Sie stehen unter dem Kommando von General John Pershing. Die Soldaten des Amerikanischen Expeditionskorps (AEF) sind weitgehend unausgebildet, und General Pershings erste Aufgabe besteht darin, Trainingslager aufzubauen und die Soldaten vier Monate lang auszubilden.

Vor Kriegsausbruch unterhielten die USA eine kleine Armee mit weniger Soldaten als dreizehn an dem Konflikt beteiligte Länder. Jetzt hat die Wilson-Regierung eine riesige Armee ausgehoben. Die Opposition in der Bevölkerung dagegen wird mit Polizeistaatsgesetzen unterdrückt. Viele der eingezogenen Rekruten sind Einwanderer, die vor der Wehrpflicht aus ihren Heimatländern geflohen sind.

Amerikanische Truppen werden in Eile nach Frankreich verschifft, um die britische und die französische Armee zu entlasten, die schwere Verluste erlitten und in den ersten Monaten von 1917 so gut wie keine Fortschritte gemacht haben, zum Beispiel bei der Schlacht von Arras und der Nivelle-Offensive. Die französische Armee ist seit einem Monat in offener Revolte, und in den französischen Schützengräben kommt es immer wieder zu Meutereien.

Pershing ist entschlossen, die Kämpfe der US-Armee unabhängig von den anderen verbündeten Armeen zu führen. Daran zeigen sich die zunehmenden Ambitionen des US-Imperialismus. Die Aufforderung britischer und französischer Kommandeure, die alliierten Einheiten, die schwere Verluste erlitten haben, mit US-Soldaten aufzufüllen, weist Pershing zurück. Er besteht darauf, die AEF erst auszubilden und als getrennte Einheiten an die Front zu führen.

Britische Kommandeure legen derweil letzte Hand an die Pläne für ihre nächste große Offensive. Am Tag nach der Ankunft der amerikanischen Truppen bestätigt General Hubert Gough den Plan der 5. Armee, am 31. Juli die deutschen Verteidigungslinien bei Ypres anzugreifen. Dies wird die dritte Schlacht von Ypres werden. In einem Memo vom 30. Juni sagt Gough voraus, die Offensive werde innerhalb von 36 Stunden zum Ausbruch aus den Schützengräben führen und dann in eine offene Feldschlacht münden.

Auch in dieser Woche: Der Maler Félix Vallotton kehrt von der Front zurück

Félix Vallotton: “C’est la guerre” (1916)

Am 23. Juni 1917 kehrt der Maler Félix Vallotton von der Front zurück (1865–1925). Der in Lausanne geborene Künstler ist seit 1900 französischer Staatsbürger.

Bei Kriegsausbruch hatte er sich freiwillig zum Dienst gemeldet, wurde jedoch aus Altersgründen abgelehnt. Er stellt eine Folge von Holzschnitten („C'est la Guerre“, Das ist Krieg) her, in denen er die Schützengräben, die Barbarei des Feindes und die terrorisierte Zivilbevölkerung zeigt.

1917 kann er vom 7. bis 23. Juni mit etwa 100 anderen Künstlern auf Einladung des Kriegsministeriums die Front bei Verdun besuchen. Einige von ihnen gehören wie Vallotton der Künstlergruppe Nabis an, die 1888/1889 von rebellischen Studenten der Pariser Académie Julian gegründet wurde.

Unter großem Zeitdruck schafft Vallotton mehrere Gemälde, in denen er das Kriegsgeschehen stark stilisiert: Verödete, gespenstische Landschaften mit kahlen Bäumen, Blitze von einschlagenden Granaten, senegalesische Soldaten vor Kasernen im Schnee und unendliche Reihen von Gefallenenkreuzen. Er arbeitet bis Ende 1917 an seiner „Vision du Front“.

In Oktober werden seine Gemälde im Musée du Luxembourg ausgestellt, und im Dezember 1917 verfasst er den Text, „Kunst und Krieg“. Darin schreibt er über die Schwierigkeit, ja, eigentlich Unmöglichkeit, den Krieg darzustellen.

Auch in dieser Woche: Scientific American sagt künftige Passagier-Luftfahrt voraus

Ausschnitt aus Scientific American, Ausgabe vom 23. Juni 1917

Der Scientific American berichtet in seiner Ausgabe vom 23. Juni über ein Interview der Vossischen Zeitung mit dem Flugzeugpionier Anthony Fokker. Dieser sagt voraus: „Der Passagierverkehr auf Flugmaschinen wird nach dem Krieg große Bedeutung erlangen. Flugmaschinen werden bevorzugt werden, weil sie über große Distanzen die schnellsten Transportmittel sind. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie sich zu den erfolgreichsten Konkurrenten der amerikanischen Linienschiffe entwickeln werden, weil sie den Ozean in anderthalb oder zwei Tagen überfliegen können. Sofort nach dem Krieg wird man den ersten Flugversuch nach Amerika unternehmen. Fünf Jahre nach dem Krieg wird diese Verbindung eine solche Perfektion erreicht haben, dass sie als die natürlichste Sache der Welt erscheinen wird.“

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