Diese Woche in der Russischen Revolution

25. September – 1. Oktober: Lenin drängt auf Vorbereitung der Machtübernahme

Da die Bolschewiki mittlerweile die Mehrheit in den Sowjets von Petrograd und Moskau erobert haben, geht Lenin dazu über, die Partei auf einen geplanten Aufstand vorzubereiten. Kerenski und seine Anhänger versuchen, eine neue „Koalitions“-Regierung zusammenzustellen, die den Krieg fortsetzt.

Petrograd, 26.–29. (13.–16.) September: Lenin erklärt dem Zentralkomitee, die Bedingungen seien reif für die Machteroberung

Seite aus Lenins Notizbuch zu „Staat und Revolution“

Während sich Lenin immer noch in Finnland versteckt hält, schreibt er zwei Briefe: „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen“, und: „Marxismus und Aufstand“. Darin drängt er das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei, sofort Vorbereitungen auf einen bewaffneten Aufstand zu treffen und die Macht zu übernehmen. Er argumentiert, dass sich das Gleichgewicht der Kräfte im Land, besonders seit dem Sieg über Kornilows Putschversuch, stark zu Gunsten der Bolschewiki verschoben habe.

In der schwierigen Zeit, die auf den Aufstand der Juli-Tage folgt, als Lenin untertauchen und um sein Leben fürchten muss, schreibt er: „… sollte man mir den Garaus machen“, dann solle die Partei sein Heft „Der Marxismus über den Staat“ (das in Stockholm zurückgeblieben ist) veröffentlichen. In den darauf folgenden Wochen hat Lenin das Material in diesem Notizbuch überarbeitet und daraus sein wohl berühmtestes Werk, „Staat und Revolution“, gemacht.

„Die Frage des Verhältnisses der sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat“, schreibt Lenin im Vorwort, „gewinnt somit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine höchst aktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen darüber, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der nächsten Zukunft zu tun haben.“

Das Werk „Staat und Revolution“ ist Richtschnur für die Kampagne, die Lenin jetzt führt, um die bolschewistische Partei auf die Machteroberung vorzubereiten. In dem Brief „Die Bolschewiki müssen die Macht übernehmen“ schreibt Lenin:

Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.

Sie können das, denn die aktive Mehrheit der revolutionären Elemente des Volkes beider Hauptstädte genügt, um die Massen mitzureißen, den Widerstand des Gegners zu brechen, ihn zu zerschlagen, die Macht zu erobern und zu behaupten. Denn indem sie unverzüglich einen demokratischen Frieden anbieten, unverzüglich den Bauern den Boden geben, die von Kerenski böse zugerichteten und zerschlagenen demokratischen Einrichtungen und Freiheiten wiederherstellen, werden die Bolschewiki eine Regierung bilden, die niemand stürzen kann.

Die Mehrheit des Volkes ist für uns. Das hat der lange und schwere Weg vom 6. Mai bis zum 31. August und 12. September bewiesen. Die Mehrheit in den hauptstädtischen Sowjets ist das Ergebnis der Entwicklung des Volkes zu uns hin … Das Volk ist der Schwankungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre müde. Nur unser Sieg in den Hauptstädten wird die Bauern mitreißen …

Es geht darum, der Partei die Aufgabe klarzumachen: Auf die Tagesordnung ist der bewaffnete Aufstand in Petrograd und Moskau (samt Gebiet), die Eroberung der Macht, der Sturz der Regierung zu setzen. Man muss überlegen, wie man hierfür agitieren kann, ohne sich in der Presse in dieser Form auszudrücken.

Die Machteroberung müsse, so Lenin weiter, sich auf die Sowjets und demokratischen Organisationen stützen, die seit der Februarrevolution entstanden seien. So erläutert er in „Marxismus und Aufstand“:

Um erfolgreich zu sein, darf sich der Aufstand nicht auf eine Verschwörung, nicht auf eine Partei stützen, er muss sich auf die fortgeschrittenste Klasse stützen. Dies zum ersten. Der Aufstand muss sich auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen. Dies zum zweiten. Der Aufstand muss sich auf einen solchen Wendepunktin der Geschichte der anwachsenden Revolution stützen, wo die Aktivität der vordersten Reihen des Volkes am größten ist, wo die Schwankungen in den Reihen der Feinde und in den Reihen der schwachen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am stärksten sind. Dies zum dritten. Durch diese drei Bedingungen eben unterscheidet sich der Marxismus in der Behandlung der Frage des Aufstands vom Blanquismus

Alle objektiven Voraussetzungen eines erfolgreichen Aufstands sind gegeben. Wir befinden uns in der außerordentlich günstigen Lage, dass nur unser Sieg im Aufstand den für das Volk so qualvollen Schwankungen, dieser unerträglichsten Sache in der Welt, ein Ende setzen wird; dass nur unser Sieg im Aufstand der Bauernschaft unverzüglich Boden geben wird; dass nur unser Sieg im Aufstand das Spiel mit dem Separatfrieden gegen die Revolution vereiteln wird, vereiteln durch das offene Angebot eines umfassenderen, gerechteren, baldigeren Friedens, eines Friedens zum Nutzen der Revolution.

Lenins Briefe schockieren viele bolschewistische Führer. Ganz ähnlich wie schon im April, als er seine „Briefe aus der Ferne“ schickte, versuchen sie, die darin enthaltenen Ansichten so rasch in Vergessenheit geraten zu lassen. Später wird Nikolai Bucharin schreiben: „Wir waren alle bestürzt.“ Die Briefe werden nicht unter den Parteimitgliedern verbreitet, obwohl Lenin den ersten Brief ausdrücklich nicht nur an das Zentralkomitee, sondern auch an die Parteiorgane in Petrograd und Moskau richtet. Auf einer Dringlichkeitssitzung am Abend des 28. (15.) September drängen mehrere Teilnehmer eines erweiterten Zentralkomitees darauf, die Briefe „stillschweigend zu vernichten “. Das Resultat mehrerer Abstimmungen auf diesen Treffen lautet: Es soll nur eine Kopie jedes Briefs erhalten werden, und diese sollen nicht unter Arbeitern verbreitet werden.

Bis Lenin und Trotzki die Parteiführung von der Notwendigkeit, die Machteroberung vorzubereiten, überzeugt haben, werden noch ein paar Wochen ins Land gehen.

(Melde dich hier zum Vortrag über Lenins „Staat und Revolution“ an.)

London, 26. September: Times-Reporter warnt vor Stärkung des Sozialismus in Großbritannien

In einem Sondertelegramm an die New York Times warnt ein Reporter der London Times vor dem zunehmenden Einfluss des Sozialismus und äußert sich erschreckt über eine „heranreifende Revolution in Großbritannien“. Der Warnung gehen monatelange Streiks voraus; in der britischen Arbeiterklasse und der Armee nimmt die Antikriegsstimmung zu.

Am gleichen Tag verhaftet die Militärpolizei bei einer Massenversammlung in Rochdale im britischen Nordwesten den Soldaten Charles James Simmons, der im Arbeiter- und Soldatenrat (Workers and Soldiers Council, WSC) die Midlands vertritt. Der WSC ist am 3. Juni auf einer Konferenz in Leeds gegründet worden, um die russische Februarrevolution zu unterstützen. Simmons ist ein unermüdlicher Kämpfer für seine Ziele.

Obwohl die WSC-Führung in den Händen von Labour-Politikern, Pazifisten und Gewerkschaftsbürokraten verbleibt, ist die britische Regierung besorgt, dass diese Räte der Antikriegsstimmung und den sozialistischen Hoffnungen unter Arbeitern und Soldaten Schwung verleihen könnten. Die Lloyd George-Regierung, die Geheimdienste und rechtsradikale Mobs tun alles, um die geplanten zwölf regionalen WSC-Konferenzen zu verhindern. Die Versammlungen in London und Newcastle sind im Juli gewaltsam auseinandergetrieben worden, wobei es viele Verletzte gegeben hat. In Glasgow, Manchester und Yorkshire sind die regionalen WSC-Versammlungen im August verboten worden. Nur in drei der zwölf Regionen im ganzen Land haben die Versammlungen stattfinden können.

Die britische herrschende Klasse hat allen Grund, besorgt zu sein. Trotz massiver Unterdrückung gibt es Berichte, dass Soldaten die Initiative zur Bildung von Soldatenräten ergreifen. In Tunbridge Wells gründet der Obergefreite Dudley am 24. Juni an der Spitze von sechs Bataillonen einen WSC. Nachdem die Gruppe ein Soldatenmanifest verabschiedet hat, wird sie von Offizieren unterdrückt und Dudley wird an die Front geschickt.

Bis Ende September ist es allen zwölf Regionen des WSC gelungen, Delegierte zu wählen. Aber der bestimmende Einfluss von Labour-Politikern und Antisozialisten in der Führung entmannt die Bewegung. Das ist schon am ersten Punkt ihres Programms zu erkennen, das auf dem nationalen WSC-Treffen Anfang Oktober beschlossen wird: „Der Arbeiter und Soldatenrat ist vor allem als Propagandagruppe gegründet, und nicht als Konkurrenz oder Ersatz für bestehende Organisationen der Arbeiterklasse, sondern um sie mit einem kämpferischeren Geist der Freiheit zu erfüllen.“

Kiew, 26. (13.) September: Arbeiter- und Soldatendelegierte weigern sich, Kornilows Generäle auszuliefern

Anton Denikin

Arbeiter und Soldatendelegierte in Kiew verhaften die zaristischen Generäle Anton Denikin und Sergej Markow, beides Mitverschwörer Kornilows. Kerenski schickt eine Regierungskommission, um die Häftlinge zu übernehmen. Die Arbeiter und Soldaten verstehen, welches Schicksal ihnen gedroht hätte, hätte man Kornilows Staatsstreich zugelassen. Sie trauen Kerenski nicht. Sie weigern sich, die Generäle der Regierungskommission auszuliefern, und schlagen stattdessen vor, sie vor ein revolutionäres Tribunal zu stellen.

Beide zaristischen Generäle sind Ultra-Reaktionäre. Nach der Oktoberrevolution entfliehen sie beide aus der Gefangenschaft. Zusammen mit Kornilow und mit Unterstützung ausländischer imperialistischer Mächte organisieren sie den Weißen Terror und verüben Pogrome und Massenmorde in der Ukraine und in Westrussland, wohin die weißen Partisanen ausgesendet werden, um „die üble Macht im Herzen der Juden-Kommunisten“ auszurotten. Markow stirbt im Kampf gegen die Bolschewiki in Russland, aber Denikin lebt bis 1947. Er stirbt im Alter von 74 Jahren während eines Urlaubs in Ann Arbor (Michigan) am Herzschlag.

Petrograd, 27. (14.) September: „Demokratische Staatskonferenz“. Kerenskis Versuch einer weiteren Regierungsumbildung

Das Alexandrinski-Theater um 1917

Der Zweck der „Demokratischen Staatskonferenz“ in Petrograd soll angeblich darin bestehen, alle „demokratischen“ Kräfte im Land gegen die Konterrevolution auszurichten. Wieder ist eine neue „Regierungskoalition“ im Gespräch, und die Konferenz beschließt, ein „Vorparlament“ zu wählen, das die Zeit bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung überbrücken soll. Die politische Orientierung der Staatskonferenz, einschließlich der Bezeichnung „demokratisch“, bleibt von Anfang an vage. Geladen sind eine große Zahl an Vertretern verschiedenster politischer Richtungen, von den Menschewiki und Sozialrevolutionären bis hin zu den Verwaltern der Dorfgenossenschaften. Die Kadetten, geführt von Miljukow, boykottieren die Konferenz.

Kerenski ist seit den Juli-Tagen scharf nach rechts gegangen. Er hat sich selbst zum „Oberhaupt“ einer Diktatur von „Blut und Eisen“ erklärt und die bolschewistischen Führer ins Gefängnis geworfen. Jetzt versucht Kerenski, die Unterstützung der Linken für sein Regime zu gewinnen, indem er sich als Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie darstellt.

Die Konferenz findet im Zuschauerraum des Alexandrinski-Theaters statt. Die Atmosphäre in der Hauptstadt ist sehr angespannt. Etwa 1775 Vertreter sind offiziell zugelassen. Die Organisatoren achten peinlich darauf, dass die bolschewistische Delegation nicht zu groß wird und nicht etwa der wirklichen Stärke der Bolschewiki entspricht, die mittlerweile in jedem zweiten Sowjet die Mehrheit haben. Dennoch sind die Bolschewiki in der Lage, in gewissen Fragen über ein Drittel der Delegiertenstimmen auf sich zu vereinigen.

Trotzki stellt in der Beratung im Wesentlichen drei Gruppierungen fest. Der schwache rechte Flügel ist ohne Einschränkung für Kerenski und für eine Koalition mit den Kadetten. Der wesentlich stärkere linke Flügel, wo auch die Bolschewiki sitzen, tritt für die Macht der Sowjets oder eine sozialistische Regierung ein. Das umfangreiche Mittelfeld stimmt einer neuen Koalition zu, aber misstraut den Kadetten, die generell den Kornilow-Putsch unterstützt haben.

Trotzki ist vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden. Auf der Staatskonferenz liest er eine Deklaration der bolschewistischen Fraktion vor. Darin fordern die Bolschewiki die Konferenz auf, die Arbeiter sofort als Bollwerk gegen die Konterrevolution zu mobilisieren und zu bewaffnen. Weiter heißt es darin: „Kämpfend um die Macht, im Namen der Verwirklichung ihres Programms, strebte und strebt unsere Partei nicht danach, sich die Macht gegen den organisierten Willen der Mehrheit der werktätigen Massen des Landes anzueignen.“ Diese Formulierung bedeutet: In Übereinstimmung mit dem „organisierten Willen der Mehrheit der werktätigen Massen des Landes“ sind die Bolschewiki durchaus bereit, die Macht zu übernehmen. Die Gegner der Bolschewiki reagieren alarmiert.

In seiner Rede auf der Konferenz distanziert sich Trotzki von der Vorstellung einer „Koalition“ mit den Kräften, die Kornilow begeistert unterstützt haben, da „die gesamte bürgerliche Presse entweder offen Kornilow begrüßte oder aus Vorsicht schwieg, um Kornilows Sieg abzuwarten … Und deshalb sage ich euch, ihr habt keine Konter-Agenten für eine Koalition.“

Trotzki greift Kerenski an, er messe mit zweierlei Maß. Obwohl die Kadetten die Machtübernahme durch den Kornilow-Putsch begrüßten, hat Kerenski sie eingeladen, sich an seiner Koalitionsregierung führend zu beteiligen. Die Bolschewiki jedoch, die in den Juli-Tagen (zu Unrecht) beschuldigt worden sind, sie wollten die Regierung übernehmen, hat Kerenski nicht in die Regierung eingeladen, sondern ins Gefängnis geworfen.

Als Kerenski den Saal betritt, tauschen die bolschewistischen Führer auf der Bühne kurze Blicke aus und verabreden, ihm die Hand nicht zu reichen. Vor aller Augen boykottieren sie bei seinem Vorbeigehen seine ausgestreckte Hand.

Kerenski macht seinerseits den unaufrichtigen Versuch, sich vom Kornilow-Putsch zu distanzieren (dem er in Wirklichkeit in einem geheimen Telegramm an Kornilow zugestimmt hatte). „Ich weiß, was sie wollten“, versucht Kerenski der Konferenz zu versichern. „Ehe sie zu Kornilow gingen, kamen sie zu mir und schlugen mir diesen Weg vor.“ Seine Worte, auf Beschwichtigung der Konferenz gerichtet, provozieren stattdessen einen Aufschrei: „Wer kam? Wer schlug vor?“ Wenn er das alles im Voraus gewusst hat, warum hat er nichts gesagt und niemanden gewarnt?

Viele Delegierte verurteilen Kerenski auch, weil er gegen sein eigenes Versprechen die Todesstrafe in der Armee wiedereingeführt hat, was den unbeständigen Kerenski aus der Fassung bringt. Falls sein Auftritt darauf abgezielt haben sollte, ihm mehr Unterstützung zu verschaffen, sind seine Bemühungen gescheitert.

In der Frage einer neuen Regierungsbildung halten sich die zwei Seiten der Konferenz fast die Waage. 766 Deputierte stimmen für eine Koalition, 688 dagegen, bei 38 Enthaltungen. Ein Zusatz zu dieser Resolution, der den Ausschluss der Kadetten aus einer solchen Koalition fordert, wird mit 595 Stimmen gegen 493 angenommen, bei 72 Enthaltungen.

Diese Abstimmung reduziert die Hauptresolution der Staatskonferenz auf eine Absurdität: Sie läuft auf eine Koalition mit der Bourgeoisie hinaus, aus der die Bourgeoisie selbst ausgeschlossen werden soll. Aus diesem Grund wird der Zusatz schließlich mit 813 gegen 133 wieder zu Fall gebracht, bei 80 Enthaltungen. Dabei stimmen der rechte und der linke Flügel gegen das Zentrum. Anders ausgedrückt, stimmt die Konferenz nur darin stark überein, dass die zwei Seiten, Rechts und Links, nicht versöhnt werden können.

Einmal wenden sich mehrere Matrosen, von Kerenski zum Schutz der Konferenz gegen die Bolschewiki aufgestellt, an Trotzki und fragen ihn, mit den Bajonetten fuchtelnd: „Nun, gibt es bald für dies Ding Arbeit?“

Berlin, 28. September: SPD-Parteivorstand wirft Karl Kautsky aus der Redaktion der Neuen Zeit

Karl Kautsky

Der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokraten kündigt mit einem Schreiben Friedrich Eberts vom 28. September Karl Kautsky zum 1. Oktober als leitendem Redakteur der Wochenzeitschrift Die Neue Zeit. Als Chefredaktor wird ab Oktober Heinrich Cunow eingesetzt, der seit 1898 bis Anfang des 20. Jahrhunderts der Redaktion angehört hat.

Ebert begründet die Entscheidung, Kautsky zu entlassen, in dem Schreiben: „Seit längerer Zeit sind Sie ebenso wie ihr Kollege [Emanuel] Wurm aus der sozialdemokratischen Partei ausgetreten und haben sich der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei [USPD] angeschlossen … Es ist nicht angängig, ein Organ der Sozialdemokratischen Partei redigieren zu lassen von dem Mitglied einer anderen Partei …“

Kautsky hat die Zeitschrift 1883 während der Zeit des Sozialistengesetzes im Einvernehmen mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht zunächst unabhängig von der SPD mit dem bewusst unpolitischen Untertitel Revue des geistigen und öffentlichen Lebens gegründet und seitdem geleitet. Sie soll dazu dienen, sozialistisches Bewusstsein zu fördern. Um das Proletariat „auf die Höhe seiner Aufgabe zu erheben, muss ihm alles Wissenswerte auf allen Gebieten des Wissens zugänglich gemacht werden“, heißt es in dem von Liebknecht verfassten Programmartikel zum Erscheinen der Zeitschrift.

Sie entwickelt sich zum wichtigsten theoretischen Organ der Partei mit hoher internationaler Anerkennung. Zu den Autoren gehörten u. a. Karl Marx, Friedrich Engels, Paul Lafargue, Franz Mehring, Georgi Plechanow, Rosa Luxemburg und Leo Trotzki.

Nach den Massenkämpfen der Arbeiterklasse 1905 kommen in der Neuen Zeit zunächst schleichend und stillschweigend, ab etwa 1910 aber immer offener revisionistische Standpunkte und Autoren zu Wort. Das führt unter anderem dazu, dass sich Franz Mehring, der nach Kautsky wichtigste Marxist, aus der Redaktion der Zeitung zurückzieht.

Kautsky selbst verbreitet sich in immer langatmigeren wissenschaftlichen Abhandlungen ohne politische Schärfe. Um die Jahrhundertwende hat Kautsky den Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus in der Zeitung noch angeführt. In den Jahren vor dem Weltkrieg hat sich der Charakter der Zeitschrift jedoch verändert, und sie hat ihre Seiten sogar Eduard Bernstein zur Verfügung gestellt. Lenin dagegen bietet sie keinerlei Raum.

Rosa Luxemburg kommentiert Kautskys Redaktionsführung der letzten Jahre in einem Brief an Mehring vom 8. September 1917: „Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolge ich auch den unerschöpflichen Born der Kautskyschen Feder, die nie müde wird, weiter ruhig ein Thema nach dem andern mit der Geduld einer Spinne auszuarbeiten, alles sauber in Kapitelchen mit Untertiteln zerlegt und alles „historisch“ betrachtet, das heißt vom Urnebel angefangen bis auf den heutigen Tag.“ Nur in der Hauptsache wisse er leider nicht, worauf es ankomme.

Sarkastisch wird sie in einem Brief an Martha Rosenbaum am 12. November zu den Nachrichten, die sie aus Russland über die Oktoberrevolution erreichen, vermerken:

Kautsky allerdings weiß nichts Besseres, als statistisch zu beweisen, dass die sozialen Verhältnisse Russlands für die Diktatur des Proletariats nicht reif sind! Ein würdiger ‚Theoretiker‘ der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei! … Zum Glück geht die Geschichte schon längst nicht nach Kautskys theoretischen Rezepten, also hoffen wir das Beste.

Irak, 28. September: Briten erobern Ramadi von den Osmanen

Einmarsch britischer Truppen in Bagdad, März 1917

Britische Truppen nehmen in der zweiten Schlacht um Ramadi innerhalb von weniger als drei Monaten die Stadt von den osmanischen Soldaten ein.

Anfang Juli hatten es indische und britische Truppen nicht geschafft, die türkische Garnison zu knacken, die eine strategische Position am Euphrat einnimmt. Beim zweiten Versuch ändern die Angreifer ihre Taktik und schneiden den Osmanen überraschend die Rückzugswege ab. Am frühen Morgen des 29. September besetzen britische Truppen die letzte in die Stadt führende Brücke. Kurz danach kapitulieren die Osmanen.

Die Eroberung fordert einen hohen Blutzoll. Die britischen und die indischen Truppen verlieren mehr als 900 Mann. 120 türkische Soldaten werden getötet und 190 verwundet. Die Angreifer machen mehr als 3.400 Gefangene und erbeuten große Mengen militärischen Materials und Verpflegung. Soldaten berichten über Kämpfe in sengender Hitze.

Der britische Vormarsch ermutigt arabische Stämme, die Seiten zu wechseln und den Vorstoß der Briten und Inder zu unterstützen. Er ist auch ein schwerer Schlag gegen die türkisch-deutschen Pläne, britische Positionen im Irak anzugreifen. Die Lage ist schon durch das Scheitern der Verlängerung der Eisenbahnlinie kompliziert, die für die Versorgung der Truppen wichtig ist.

Anderswo in der Region greift die britische Marine osmanische Positionen in Beirut an und beschießt die Stadt mit Granaten.

Chicago, 28. September: IWW-Führung verhaftet und nach Espionage Act angeklagt

IWW-Führer im Paterson Streik (1913). V.l.n.r. Pat Quinlan, Carlo Tresca, Elizabeth Gurley Flynn, Adolph Lessing und „Big Bill“ Haywood

Eine Grand Jury erhebt Klagen gegen 168 Führer der Industrial Workers of the World (IWW). Unmittelbar danach werden Führer der „Wobblies“ in allen Teilen des Landes verhaftet, darunter William „Big Bill“ Haywood. Wie die New York Times berichtet, fallen Bundesagenten in zehn Autos im IWW-Hauptquartier in Chicago, 1001 Madison Avenue, ein. Als die Agenten in Haywoods Büro stürmen, „schwingt er in seinem Drehstuhl herum und grinst den Special Agent Sweep an, der das Expeditionskommando anführt“.

Gegen Haywood wird eine Kaution von 25.000 Dollar verhängt. Alle anderen müssen eine Kaution von 10.000 Dollar hinterlegen, darunter auch Elizabeth Gurley Flynn und die beiden führenden italienischen Einwanderer in der IWW-Führung, Carlo Tresca und Arturo Giovanitti. Alle drei sind in New York verhaftet worden. Weitere IWW-Führer und militante Arbeiter werden in Minneapolis, Cleveland, Milwaukee, Des Moines, Rockford, Youngstown, Pittsburgh, Buffalo, Huntington, Philadelphia, Scranton, Los Angeles, San Jose, Portland, Astoria und Butte verhaftet. Außerdem wird an der Harvard Universität ein Zweitsemester-Student festgenommen.

Angeblich soll es „Beweise“ geben, auf denen die Anklagen der Grand Jury beruhen. Sie wurden am 5. September bei Durchsuchungen gestohlen, die Präsident Wilson angeordnet hatte. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass der wirkliche Grund für die Verhaftungen der IWW-Führer ihre Opposition gegen den Großen Krieg ist, wie auch ihre Absicht, die amerikanische Arbeiterklasse dagegen zu mobilisieren. In dem berüchtigten Spionageabwehrgesetz heißt es:

Befinden sich die Vereinigten Staaten im Krieg, so wird jedes bewusste Schüren oder Anzetteln von Befehlsverweigerung, jede Illoyalität, Meuterei oder Pflichtverweigerung im Militär und den Seestreitkräften der Vereinigten Staaten sowie der Versuch dazu; ebenso jede bewusste Behinderung oder jeder Versuch der Behinderung der Rekrutierung zu den Streitkräften der Vereinigten Staaten; sowie das bewusste Äußern, Abdrucken, Schreiben oder Veröffentlichen illoyaler, profaner, verleumderischer oder beleidigender Sprache, welche die Regierungsform und die Verfassung der Vereinigten Staaten, das Militär und die Marine oder die Flagge der Vereinigten Staaten oder die Uniform der Armee oder Marine der Vereinigten Staaten verächtlich oder abschätzig behandelt, schmäht oder herabwürdigt; oder die bewusste Äußerung, das Abdrucken, Schreiben oder Veröffentlichen aller Äußerungen, die Widerstand gegen die Vereinigten Staaten anzetteln, provozieren oder ermutigen oder die Sache ihrer Feinde fördern … oder durch Worte oder Taten die Sache der Vereinigten Staaten kritisieren, zu einer Geldstrafe von bis zu 10.000 Dollar, einer Haftstrafe von bis zu zwanzig Jahren oder beidem verurteilt.

Zwei Tage später werden in Oklahoma 120 Erntehelfer und Pächter wegen ihrer Rolle bei der Antikriegs-Corn-Rebellion vom 2. und 3. August angeklagt. Sie gehören alle der „Gewerkschaft der Arbeiterklasse“ (Working Class Union, WCU) an, die sich an den IWW orientiert.

Westfront, 30. September: Über 104.000 britische Verluste bei Kämpfen im September

Passendale, Ende 1917

Ein offizieller Bericht über britische Opfer gibt für September die Zahl von 104.598 Toten, Verwundeten oder Vermissten an.

Den größten Teil dieses schrecklichen Blutzolls fordert die dritte Flandernschlacht, die den ganzen Monat wütet. In den letzten zehn Tagen sind die Kämpfe noch einmal voll entflammt. Erneute britische Offensiven bringen nur geringe Gewinne, weil die deutschen Truppen immer wieder Gegenangriffe führen.

Allein bei der Schlacht im Polygon-Wald fordert eine Offensive britischer und alliierter Truppen am 26. September mehr als 15.000 britische Opfer, darunter mindestens 1.200 Tote. Mehr als 5.700 Australier werden ebenfalls getötet.

Auch an vielen andern Fronten kommen britische Soldaten zum Einsatz, so im Nahen Osten, Afrika, Italien und auf dem Balkan.

New York City, 1. Oktober: Columbia University entlässt Kriegsgegner

James McKeen Cattell

Am 1. Oktober entlässt die Columbia University zwei Professoren unter dem Vorwurf, sie hätten „Lehren verbreitet, die den Geist der Illoyalität gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten ermutigen“. Es handelt sich um Professor James McKeen Cattell vom Institut für Psychologie und den Assistenzprofessor für Englisch und vergleichende Literatur, Henry Wadsworth Longfellow Dana. Sie werden ohne Abfindung und Pensionsansprüche vom Hof gejagt. Um zu verhindern, dass sie anderswo Arbeit finden, werden die Entlassungen mit großer Öffentlichkeit zelebriert.

Das Verbrechen Cattells, des vielleicht führenden akademischen Psychologen in den USA, besteht aus zwei Briefen, die er im August 1916 an den Präsidenten Wilson und an Kongressabgeordnete geschrieben hatte. Darin erinnerte er die Herrschaften daran, dass sie nicht dafür gewählt worden seien, „Wehrpflichtige nach Europa zu schicken“. Die Verfehlung Danas bestand in der Mitgliedschaft im pazifistischen Volksrat. Dana ist der Enkel sowohl von Henry Wadsworth Longfellow als auch von Richard Henry Dana, dem Autor von „Two Years Before the Mast“.

Dieses Vorgehen der Kuratoren der Columbia University wird später zum Anlass für ein Gesetz, das an amerikanischen Universitäten und Colleges Schutz vor Entlassung aufgrund politischer Meinungsäußerungen gewährt.

Auch in dieser Woche: Neue Enthüllungen über Gräueltaten gegen die Armenier in Kleinasien

Hilfskampagne für armenische Flüchtlinge in Petrograd (Photo aus Journal Armjanski Westnik des Moskauer Armenien-Komitees, Mai 1916)

Ein Bericht in dieser Woche in der New York Times beschreibt den Mord an 1.200 Menschen im Anatolia College in Merzifon im osmanischen Reich, wo sämtliche armenischen Schüler und Lehrkräfte umgebracht wurden. Der Präsident des College, der amerikanische Missionar George E. White gibt eine Darstellung des Massakers aus erster Hand.

„Diese Lehrer waren Männer von Charakter und Bildung, sie brachten nützliche Fähigkeiten mit. Einige verkörperten die feine Art, die eine gute Ausbildung an amerikanischen und europäischen Universitäten verleiht“, berichtet White. „Die Männer wurden von den Frauen getrennt. Die Hände wurden ihnen auf den Rücken gefesselt, und sie wurden abgeführt …

Dann hat man die Männer und Jungen mit Äxten abgeschlachtet und ihre Kleidung und ihr übriges Eigentum gnadenlos geplündert.“ White musste auch mit ansehen, wie armenische Frauen für zwei bis vier Dollar in die Sklaverei verkauft wurden. „Staatliche Angestellte pflügten den armenischen Friedhof um und säten ihn mit Getreidesamen ein als Symbol dafür, dass hier kein Armenier je wieder leben, sterben und begraben werden sollte. Kein armenischer Student oder Lehrer des anatolischen Colleges wurde verschont“, fährt White fort. „Das war von Anfang bis Ende eine Regierungsaktion, eine Aktion gegen das armenische Volk.“

Vor und während des Kriegs hat das russische Reich die armenische nationalistische Bewegung in Kleinasien unterstützt, um mithilfe der christlich-orthodoxen Minderheit das schwankende, multiethnische Osmanen-Reich zu destabilisieren. Die bürgerlich-nationalistische Regierung der „Jungtürken“, die 1908 an die Macht gekommen war, beginnt eine systematische Vernichtungskampagne und ethnische Säuberungen auf, die sich im Verlauf des Kriegs immer weiter verschärfen.

Die Regierung macht die armenische Bevölkerung, die seit den Zeiten Herodots ohne Unterbruch hier lebt, für Krisen und militärische Niederlagen des osmanischen Reichs verantwortlich. Dem Völkermord fallen schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Mehr als 800.000 Armenier müssen fliehen. Viele von ihnen lassen sich in der späteren Sowjetunion nieder.

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