Diese Woche in der Russischen Revolution

9.–15. Oktober: Lenin drängt mit verdoppelter Kraft auf Machteroberung

Die Bolschewiki sind nun die stärkste Partei in der Russischen Revolution: Trotzki ist Vorsitzender des Petrograder Sowjets, und in immer mehr Sowjets haben die Bolschewiki die Mehrheit. Die Parteiführung ist jedoch in der Frage, was als nächstes zu tun sei, gespalten.

Petrograd: Lenin drängt auf Machteroberung

Iwar T. Smilga

Der Einfluss der Bolschewiki in der Arbeiterklasse wächst. Die Provisorische Regierung bereitet sich darauf vor, die Revolution mit Militärgewalt zu zerschlagen. Lenin, der sich im (damals finnischen) Wyborg verborgen hält, ist überzeugt, dass man eine einmalig günstige Gelegenheit nicht ungenutzt verpassen darf. Am 10. Oktober (27. September nach altem, gregorianischem Kalender) schreibt er einen geharnischten Brief an Iwar Smilga:

Die allgemeine politische Lage beunruhigt mich sehr. Der Petrograder Sowjet und die Bolschewiki haben der Regierung den Krieg erklärt. Aber die Regierung hat das Heer und bereitet sich systematisch vor … Und was tun wir? Nehmen wir nur Resolutionen an? Wir verlieren Zeit, setzen „Termine“ fest (am 20. Oktober ist der Sowjetkongress – ist es nicht lächerlich, die Sache so aufzuschieben? Ist es nicht lächerlich, sich darauf zu verlassen?) Eine systematische Arbeit, um ihre militärischen Kräfte auf den Sturz Kerenskis vorzubereiten, betreiben die Bolschewiki nicht …

Meines Erachtens muss man in der Partei für eine ernste Behandlung der Frage des bewaffneten Aufstands agitieren – zu diesem Zweck sollte man auch diesen Brief auf der Maschine abschreiben und den Petrograder und Moskauer Genossen zustellen.

Lenin betont, dass Smilga soweit irgend möglich Vorbereitungen für einen Aufstand der in Finnland stationierten Truppen und der baltischen Flotte treffen solle. Er schreibt: „Wir können uns als die Genarrten erweisen, wenn wir das nicht tun: mit prächtigen Resolutionen und mit den Sowjets, aber ohne die Macht!“ Inzwischen nehmen die Bauernunruhen auf dem Lande zu. Wo die Bauern Land besetzen, kommt es zu erbitterten und gewaltsamen Konflikten mit den adligen Gutsherren. Da die Kerenski-Regierung dazu übergeht, das Militär gegen die Bauernrevolten einzusetzen, drängt Lenin mit verdoppelter Kraft darauf, dass die Bolschewiki unverzüglich die Macht übernehmen und die Unterdrückung der Bauern stoppen.

Lenin kann in seinem Versteck in Finnland nicht wissen, dass Trotzki tatsächlich schon konkrete Schritte unternimmt und die Roten Garden bewaffnet, um die Machteroberung vorzubereiten. Lenin fürchtet, dass konservative Tendenzen in der Partei, die sich um Kamenew und Sinowjew scharen, dazu führen könnten, hinter den Aufgaben zurückzubleiben, welche die Krise der Arbeiterklasse stellt.

All seine Warnungen sind darauf gerichtet, die Bolschewiki auf die Machteroberung vorzubereiten. In dieser Stimmung wettert er gegen alle, die bereit sind, „drei weitere Wochen des Kriegs hinzunehmen“, und fordert sofortige Vorbereitungen für die Erstürmung der Regierungsgebäude in Moskau und Petrograd. Lenin ist jedoch mit seiner Haltung in der Minderheit. Das Zentralkomitee hat mehrere Briefe Lenins, die zur sofortigen Erhebung aufrufen, unterdrückt.

Nur zwei Tage nach seinem Brief an Smilga schreibt Lenin den Artikel, „Die Krise ist herangereift“, in dem er die Bolschewiki „im ZK und in den Parteispitzen“ verurteilt, die für „das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand“ eintreten. Er schreibt:

Unter solchen Umständen ist ein „Abwarten“ des Sowjetkongresses usw. Verrat am Internationalismus, Verrat an der Sache der internationalen sozialistischen Revolution.

Denn der Internationalismus besteht nicht in Phrasen, nicht in Solidaritätsbeteuerungen, nicht in Resolutionen, sondern in Taten.

Die Bolschewiki wären Verräter an der Bauernschaft, denn die Niederwerfung des Bauernaufstands … dulden … heißt die ganze Revolution zugrunde richten, sie für immer und unwiderruflich zugrunde richten. Man zetert über Anarchie, über wachsende Gleichgültigkeit der Massen: Wie sollten auch die Massen den Wahlen nicht gleichgültig gegenüberstehen, wenn die Bauernschaft in einen Aufstand getrieben wird und die sogenannte „revolutionäre Demokratie“ seine militärische Niederwerfung geduldig hinnimmt!!

Die Bolschewiki wären Verräter an der Demokratie und an der Freiheit, denn die Niederwerfung des Bauernaufstands in einem solchen Augenblick dulden heißt zulassen, dass die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung genau ebenso – und noch schlimmer, gröber – verfälscht werden, wie die „Demokratische Beratung“ und das „Vorparlament“ verfälscht wurden.

Die Krise ist herangereift. Die ganze Zukunft der russischen Revolution steht auf dem Spiel. Es geht um die Ehre der bolschewistischen Partei. Die ganze Zukunft der internationalen Arbeiterrevolution für den Sozialismus steht auf dem Spiel …

[Es wäre] ein vollendeter Verrat an der Bauernschaft. Die Niederwerfung des Bauernaufstands zulassen, obwohl wir beide hauptstädtischen Sowjets in Händen haben, heißt jedes Vertrauen der Bauern verlieren …

Den Sowjetkongress „abwarten“ ist vollendete Idiotie, denn das heißt Wochen verlieren, Wochen und sogar Tage aber entscheiden jetzt alles … Den Sowjetkongress „abwarten“ ist Idiotie, denn der Kongress wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!

… Der Sieg des Aufstands ist den Bolschewiki jetzt sicher: 1. wir können (wenn wir nicht auf den Sowjetkongress „warten“) plötzlich und von drei Stellen aus, in Petrograd, Moskau und der Baltischen Flotte, losschlagen; 2. wir haben Losungen, die uns Unterstützung gewährleisten: Nieder mit der Regierung, die den Aufstand der Bauern gegen die Gutsbesitzer unterdrückt! 3. wir haben die Mehrheit im Lande; 4. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind in voller Auflösung; 5. wir haben die technische Möglichkeit, die Macht in Moskau zu ergreifen (Moskau könnte sogar beginnen, um den Feind durch Überraschung zu überrumpeln); 6. wir haben in Petrograd Tausende bewaffneter Arbeiter und Soldaten, die mit einem Schlage den Winterpalast, den Generalstab, die Telefonzentrale und alle großen Druckereien besetzen können; von dort kann man uns nicht mehr vertreiben …

Lenin schließt seinen Artikel mit einer offiziellen Rücktrittserklärung aus dem Zentralkomitee. „Ich bin gezwungen, meinen Austritt aus dem ZK zu beantragen, was ich hiermit tue, und mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten“, schreibt er. „Denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass wir die Revolution zugrunde richten, wenn wir den Sowjetkongress ‚abwarten‘ und jetzt den Augenblick verpassen.“

Nun, da Trotzki an der Spitze des Petrograder Sowjets steht, und da die bolschewistische Partei in immer mehr Sowjets die Mehrheit hat, sind die Bolschewiki die stärkste Partei in der Russischen Revolution. Doch die Parteiführung ist in der wichtigen Frage, welcher Kurs einzuschlagen sei, nach wie vor gespalten.

Auf dem „gemäßigten“ Flügel der bolschewistischen Partei hält eine Fraktion um Kamenew dafür, dass die Bolschewiki an einer breiten Koalition „demokratischer“ Kräfte teilnehmen sollten. Diese solle solange regieren, bis die Konstitutionelle Versammlung zusammentreten kann. Diese Strategie zielt auf die Bildung einer bürgerlichen Republik ab, in der die Bolschewiki eine der herrschenden Parteien stellen würden.

Auf dem entgegengesetzten Parteiflügel rufen Lenin und seine Unterstützer zur unverzüglichen Machteroberung in Moskau und Petrograd, gestützt auf die bewaffnete Arbeiterklasse, die Soldaten und Matrosen, auf. Die bolschewistische Regierung soll sofort Frieden schließen, das Land konfiszieren und an die Bauern verteilen, die Ernährungsfrage lösen und möglichst weitreichende sozialistische Maßnahmen ergreifen.

Die „Leninisten im Geiste“, geführt von Trotzki, rufen die Bolschewiki dazu auf, am kommenden Sowjetkongress, der für den 2. November (20. Oktober) geplant ist, die Macht zu ergreifen. Trotzki argumentiert, dass die Massen den Machtübergang während dieses Kongresses als legitim verstehen und als Ausdruck des populären Slogans „Alle Macht den Sowjets!“ auffassen werden. Mit folgenden Worten wird Trotzki seine Position in der „Geschichte der Russischen Revolution“ erläutern:

Indem sie die revolutionären Bemühungen der Arbeiter und Soldaten des ganzen Landes koordinierte, ihnen Zieleinheit und Zeiteinheit verlieh, verdeckte die Losung des Sowjetkongresses durch ständige Appellation an die legale Vertretung der Arbeiter, Soldaten und Bauern gleichzeitig die halbkonspirative, halboffene Vorbereitung des Aufstandes. Indem er die Kräftesammlung für die Umwälzung erleichterte, musste der Sowjetkongress dann deren Resultate sanktionieren und eine neue, für das Volk unbestrittene Macht aufrichten.

Washington, 9. Oktober: Zensor im Weißen Haus verbietet, dass Zeitungen schreiben, die Wall Street kontrolliere die Regierung

Albert S. Burleson

Der Postmaster General Albert Burleson erläutert heute ein neues Dekret Präsident Wilsons: Es fordert ein scharfes Durchgreifen gegen Zeitungen, die Insubordination ermutigen. Das Weiße Haus stützt sich dabei auf Vollmachten aus dem jüngst verabschiedeten „Trading with the Enemy Act“ (Gesetz über Geschäfte mit dem Feind) und dem schon vorher verabschiedeten Spionagegesetz. Burleson erklärt:

Wir werden darauf achten, dass unser Vorgehen sich nicht gegen Kritik richtet, die persönlich oder politisch anstößig ist. Aber wenn Zeitungen so weit gehen, dass sie die Motive der Regierung anzweifeln und auf diese Weise Insubordination ermutigen, dann werden sie die ganze Strenge des Gesetzes spüren.

Zeitungen dürfen zum Beispiel nicht schreiben, dass die Regierung von der Wall Street oder von Munitionsfabrikanten, oder von anderen Sonderinteressen kontrolliert werde. Die Veröffentlichung von Nachrichten, die darauf gerichtet sind, Menschen zu veranlassen, das Gesetz zu brechen, würde als ausreichender Anlass für ein drastisches Vorgehen gesehen. Wir werden keine Kampagne dulden, die sich gegen die Wehrpflicht, gegen Einberufungen, gegen den Verkauf von Wertpapieren oder Schatzanleihen richtet. Wir verhindern, dass irgendetwas veröffentlicht oder verbreitet wird, das die Kriegsanstrengung untergräbt oder unsere Verbündeten unbotmäßig kritisiert.

Um die Dienste der Post zu nutzen, müssen fremdsprachige Zeitungen zuerst eine Lizenz der Bundesregierung haben, und sie müssen von jeder Ausgabe ihres Organs eine englische Übersetzung vorlegen. Ob sie eine Lizenz bekommen, hängt laut New York Times von ihren „früheren Äußerungen“ ab. Die Times selbst wird voraussichtlich kaum von diesen Regeln betroffen sein.

Besonders betroffen sind sozialistische Zeitungen. Die Times erklärt, dass sozialistische Zeitungen nicht von den Postdiensten ausgeschlossen werden, außer wenn sie „verräterisches oder aufrührerisches Material enthalten“. Allerdings erklärt Burleson, das Problem bestehe eben gerade darin, dass die meisten sozialistischen Zeitungen solches Material beinhalten.

Burlesons Leistungen für die Wilson-Regierung werden auch dadurch zu trauriger Berühmtheit gelangen, dass er bei den Beschäftigten der Bundesregierung die Rassentrennung wieder einführt.

Berlin, 9. Oktober: Regierungskrise als Spätwirkung des Matrosenaufstands

Reichskanzler Georg Michaelis

Auf einer turbulenten Reichstagssitzung gelingt es der Regierung nicht, Unterstützung für ihr Vorgehen gegen die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) zu gewinnen. Im Zusammenhang mit einer größeren Aufstandsbewegung unter den Matrosen wirft sie der USPD Hochverrat vor. Es kommt zu einer weiteren Regierungskrise, in deren Verlauf der deutsche Reichskanzler zurücktreten wird.

Reichskanzler Georg Michaelis und Marinestaatssekretär Eduard von Capelle erhalten frühmorgens vor der heutigen Reichstagssitzung ein Telegramm des Kriegsgerichtsrats Dr. Loesch, der zusammen mit Dr. Dobring in Wilhelmshaven die „Ermittlungen“ gegen Teilnehmer der Matrosenbewegung vom Sommer führen und bereits mehrere Todesurteile erwirkt haben.

In dem Telegramm wird mitgeteilt, dass der angeklagte Heizer Calmus gestanden habe, sich mit den USPD-Reichstagsabgeordneten Dittmann und Ledebour getroffen zu haben. Diese seien im Verein mit englischen und französischen Offizieren die Urheber der Matrosenbewegung und hätten einen gewaltsamen Umsturz geplant.

Die Reichstagssitzung verläuft sehr stürmisch, nimmt jedoch einen unerwarteten Verlauf. Der USPD-Abgeordnete Dittmann stellt eingangs an den Reichsmarinestaatssekretär die Frage, ob es wahr sei, dass in der Marine mehrere Hundert Jahre Zuchthausstrafen verhängt, Todesurteile ausgesprochen und zwei davon bereits vollstreckt worden seien. In der Bevölkerung herrsche größte Verbitterung über diese Vorgänge. Es antwortet ihm sofort der Reichskanzler selbst: Er, Dittmann, habe nicht das geringste Recht, über die Vorgänge in Heer und Marine zu sprechen. Er gehöre einer Partei an, die den Bestand des Deutschen Reiches gefährde. Diese kurze Antwort löst einen „Sturm der Entrüstung“ (so das Sitzungsprotokoll) nicht nur bei der USPD, sondern auch bei der SPD, dem Zentrum und der Fortschrittspartei aus – den Parteien, die im so genannten Interfraktionellen Ausschuss zusammenarbeiten.

Nur die rechten Konservativen und Nationalliberalen, eine kleine Minderheit im Reichstag, unterstützen den Angriff der Regierung auf die USPD.

Was die rechte Fortschrittspartei und die sozialchauvinistische SPD plötzlich mit der USPD zusammenschweißt, sind nicht demokratische Prinzipien gegen den deutschen Militarismus oder gar solidarisches Mitgefühl mit den verurteilten und hingerichteten Matrosen. Es ist vielmehr die Furcht, dass eine offene Unterstützung der Reichsregierung in dieser Frage dazu führen könnte, dass die brodelnde, rebellische Stimmung in der Bevölkerung in eine revolutionäre Bewegung mündet. Diese Furcht hat in den letzten Tagen infolge der Nachrichten aus Russland über den Aufstieg der Bolschewiki stark zugenommen.

Die Parteien des Interfraktionellen Ausschusses wollen die Reichsregierung zu innenpolitischen Reformen, insbesondere einer Reform des preußischen Wahlrechts und einer Lockerung des Belagerungszustandes zwingen, um den Burgfrieden aufrechtzuerhalten und die „bolschewistische Gefahr in Deutschland zu bannen“.

Michaelis ist zu diesem Kurswechsel bereit, aber nicht in der Lage. Seine Position wird unhaltbar, als sich das Geständnis des Heizers Paul Calmus, auf das er seinen Vorwurf des Hochverrats der USPD gebaut hat, als reine Erfindung herausstellt. Es war durch die Drohung erpresst worden, Calmus werde sonst ebenfalls zum Tod verurteilt werden. Calmus hat jedoch schlauerweise als Datum für sein angebliches Treffen mit den USPD-Politikern in Berlin einen Tag angegeben, von dem er wusste, dass diese zu diesem Zeitpunkt in Wirklichkeit bei der „Friedenskonferenz“ in Stockholm weilten.

Kiew, 10. Oktober: Erklärung der Rada kündigt Lostrennung der Ukraine von Russland an

Die ukrainische Rada, 1917

Das Generalsekretariat der nach der Februarrevolution gegründeten ukrainischen Rada (Zentralrat) unternimmt einen weiteren Schritt, um die Ukraine vollständig von Russland loszutrennen. In einer Erklärung ruft es zu einer ukrainischen konstitutionellen Versammlung auf und fordert Agrarreformen und die Reorganisation des Bankwesens, der Steuern und des Bildungssystems. Die Rada-Sekretariate für Ernährung, Kommunikation, Post und Telegraph, die Justiz und das Kriegswesen werden neu aufgestellt, wodurch de facto eine unabhängige Regierung der Ukraine geschaffen wird.

Die wachsende separatistische Bewegung in der Ukraine ist seit Monaten eine Ursache der immer tieferen politischen Krise der Provisorischen Regierung. Diese weigert sich, der ukrainischen Nationalbewegung irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Als im Juni in der Ersten Universellen Deklaration die Unabhängigkeit der Ukraine proklamiert wurde, trug dies zum Sturz der zweiten Koalitionsregierung bei. Die Beziehungen zwischen Petrograd und der Rada haben sich seither noch verschlechtert. Die ukrainische Nationalbewegung, welche die Ziele der Bolschewiki zutiefst ablehnt, hat auch vom gescheiterten Kornilow-Putsch profitiert.

Die Kadetten, die eine unabhängige Ukraine heftig ablehnen und um jeden Preis die territoriale Integrität Russlands erhalten wollen, verlassen die Rada als Reaktion auf die Deklaration. Vertreter der zwei großen nationalen Minderheiten in der Ukraine, der Juden und der Polen, sind ebenfalls von der Resolution überrascht. Sie lehnen eine Trennung von Russland ab und fürchten – nicht ohne Grund – dass die ukrainisch-dominierte neue Regierung die Rechte der nationalen Minderheiten beschneiden wird, und dass die ethnischen und religiösen Konflikte sich verschärfen werden.

Die Provisorische Regierung in Petrograd, selbst in einer tiefen Krise, reagiert rasch, um eine Lostrennung der Ukraine zu verhindern. Sie ordnet eine Untersuchung über das Generalsekretariat der Rada an und versucht, das Sekretariat vor Gericht zu zerren.

Flandern, 12. Oktober: Tausende im Schlamm nahe Passchendaele abgeschlachtet

Neuseeländische Artillerie in Flandernschlacht

Die erste Schlacht von Passchendaele bricht zwischen australisch-neuseeländischen Kräften und deutschen Truppen an der Westfront nahe dem Dorf dieses Namens aus. Die Alliierten hoffen, dieses Dorf unter ihre Kontrolle zu bekommen, um den Nachschub der Deutschen stören zu können. Der Angriff wird zu einem schrecklichen Debakel, teilweise aufgrund falscher Informationen über bisherige Fortschritte, und teilweise weil das Wetter immer schlechter wird.

Allein an diesem 12. Oktober, an dem 846 Tote gezählt werden, verliert Neuseeland ein Tausendstel seiner Bevölkerung. Mehr als zweitausend Neuseeländer werden dazu noch verwundet. Neuseelands schwärzester Tag wird 2007 von dem Historiker Glyn Harper so beschrieben: „In diesen wenigen Stunden wurden mehr Neuseeländer getötet oder verstümmelt, als an irgendeinem anderen Tag der Geschichte des Landes.“

Auch wenn das deutsche Oberkommando die Schlacht als einen defensiven Erfolg wertet, sind die Verluste unakzeptabel hoch. Die 195. Division erleidet vom 9. bis 12. Oktober schwere Verluste und verliert 3325 Männer. Offizielle Schätzungen der gesamten deutschen Verluste vom 11. bis 20. Oktober belaufen sich auf 12.000. Außerdem werden noch 2000 Mann vermisst.

Britische, australische und neuseeländische Kommandeure bestehen auf der Fortsetzung der Angriffe, obwohl es heftig regnet. Der Boden hat sich seit Anfang Oktober in eine einzige Schlammwüste verwandelt. Dadurch wird der Einsatz der Artillerie sehr schwierig, da die Kanonen nicht in Position gebracht werden können. Selbst die Geschütze, die noch feuern können, schießen ihre Granaten in den schlammigen Untergrund, was ihnen viel von ihrer Wirksamkeit nimmt.

Am 13. Oktober sagen die britischen Kommandeure alle weiteren Angriffe ab, nachdem diese am Vortag gescheitert sind. Neue Kräfte werden herangeführt, darunter das kanadische Corps, um die Front für die nächsten Angriffe im weiteren Verlauf des Monats zu stärken. Derweil setzen die Deutschen am 12. Oktober ihre sämtlichen Reserven ein, um ihre Positionen zu halten. Sie müssen ihre Pläne aufgeben, zwei Divisionen nach Italien zu schicken, um die dortigen Linien zu stärken.

Lübeck, 15. Oktober: SPD-Presse sammelt und trommelt für Fortsetzung des Kriegs

Anzeige auf Seite 3 des Lübecker Volksboten vom 15. Oktober 1915

Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote veröffentlicht an prominenter Stelle einen Aufruf zur Zeichnung der neusten Kriegsanleihe. Die Kriegsanleihe soll mit dem Geld der Bevölkerung neue Kriegsoffensiven und eine „Fortsetzung des Krieges bis zum Sieg“ finanzieren helfen.

In dem Aufruf der SPD heißt es:

Mütter, denkt an eure Kinder! Als sie noch ganz klein und hilflos waren, hat sicher jede von euch irgendeinmal gedacht: „Mein Kind soll‘s gut haben im Leben!“ Wieviel mehr gilt das jetzt, ihr Mütter! Eure Kinder müssen bessre Zeiten sehen, als wir sie durchmachen. Wehe uns, wenn sie einmal kommen und uns sagen: warum habt ihr‘s uns nicht leichter gemacht und damals bis zum Ende ausgehalten?

Mütter, jeder Pfennig, den ihr dem Vaterlande leiht, erleichtert euern Kindern die Zukunft! Darum helft, dass sie dereinst nicht darben müssen und ein freies, starkes Volk werden können: Zeichnet die Kriegsanleihe!

Der Lübecker Volksbote, eine der zahlreichen Provinzzeitungen der SPD, bringt Tag für Tag Berichte über die „siegreichen“ Schlachten des deutschen Heeres und bejubelt die hohen Verluste des Feindes. Die ganze Zeitung ist völlig der Kriegspropaganda der Obersten Heeresleitung (OHL) und ihren Lügen und Durchhalteparolen gewidmet. Diese werden inhaltlich eins-zu-eins, zu großen Teilen sogar wortwörtlich übernommen. Vereinzelt werden die Meldungen „sozialdemokratisch“ aufbereitet, womit die Zeitung den Schein eines „Organs für die Interessen des werktätigen Volks“ zu wahren versucht. So wird in dem Artikel über die Flandernschlacht die „maßlose Aufopferung“ des Bluts der englischen Arbeiter beklagt, das angesichts der unbesiegbaren militärischen Stärke der deutschen Arbeiter und ihrer moralischen Überlegenheit – sie führen ja angeblich einen Verteidigungskrieg – völlig umsonst vergossen werde.

Die Berichterstattung des Volksboten ist typisch für die gesamte sozialdemokratische Presse. Seit Kriegsbeginn unternimmt diese alles, die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass sie sich für die „Verteidigung des Vaterlands“ opfern müsse. Über 100 Tageszeitungen, der im internationalen Vergleich hohe Bildungsgrad der Arbeiter, ihre Disziplin und Kampfbereitschaft, Millionen von Reichsmark an Beiträgen und Parteispenden: Alles was die Arbeiter sich in Jahrzehnten erkämpft haben, wird der Kriegsmaschinerie in den Rachen geworfen. Niemals hätte die OHL mit ihren Durchhalteparolen und Siegeslügen all die Arbeiterhaushalte in den Groß- und Provinzstädten und Dörfern erreicht, wenn nicht die SPD mit ihrem Apparat und ihren Tageszeitungen diese Aufgabe übernommen hätte. Ohne die SPD und ihren Propagandaapparat hätte der Krieg an allen Fronten im Westen, Osten, Süden und Norden nicht so lange geführt werden können.

Russland, 15. Oktober: Anti-jüdisches Pogrom in südwestrussischer Kleinstadt Roslawl

In der südwestrussischen Kleinstadt Roslawl bricht gegen Abend ein anti-jüdisches Pogrom aus. Einen Tag zuvor hat der Stadtsowjet eine Resolution gegen Spekulanten verabschiedet. Die meisten Pogromisten sollen angeblich Soldaten sein. Der Mob fordert Galoschen, schreit: „Schlagt die Juden“ und plündert jüdische Geschäfte und Wohnhäuser. Mindestens zwei Männer werden getötet, zwölf Personen verletzt. Viele Juden fliehen in Panik aus der Stadt.

Versuche von Mitgliedern des Sowjets und der bolschewistischen Partei, die Aufständischen zu beruhigen, haben offensichtlich keinen Erfolg. Soldatenpatrouillen verhalten sich bewusst passiv und lassen die Plünderungen zu.

Die Stadt befindet sich inmitten einer ernsten wirtschaftlichen und sozialen Krise. Zusätzlich zu 10.000 Zivilisten sind hier auch 15.000 Soldaten in einer Garnison stationiert. Die Stadt, die an einer Durchgangsroute für Kriegsflüchtlinge liegt, beherbergt auch mehrere tausend polnische Flüchtlinge.

Dies ist das erste anti-jüdische Pogrom in der Stadt, Heimat der zweitgrößten jüdischen Population der Region. Es ist Teil einer Welle antisemitischer Gewalt und Pogrome, die das krisengeschüttelte Land seit einigen Wochen heimsucht. Bisher ist es schon in Charkow, Odessa, Kiew und Tiraspol zu gewaltsamen Übergriffen auf Juden gekommen.

Wie in der Revolution von 1905 bedienen sich die Regierung und reaktionäre soziale Kräfte der antisemitischen Agitation gegen die revolutionären Massen. Schwarzhunderter versuchen, die wachende politische und wirtschaftliche Frustration der Bauern-Soldaten und der Arbeiter durch das Schüren von Antisemitismus in rechte Kanäle zu lenken. Seit Jahrzehnten wurde antisemitische Propaganda als Waffe gegen die sozialistische Bewegung eingesetzt und die jüdische Bevölkerung systematisch für alles wirtschaftliche Elend verantwortlich gemacht. Das hat besonders in der Bauernschaft, die das Groß der russischen Armee ausmacht, Spuren hinterlassen. Im Krieg ist es in Osteuropa immer wieder zu Pogromen russischer Soldaten gekommen, und während des Rückzugs 1916–1917 hat sich das noch verstärkt.

Vincennes, 15. Oktober: Mata Hari in Frankreich hingerichtet

Mata Hari am Tag ihrer Festnahme, am 13. Februar 1917

Um 6.15 Uhr führt ein zwölfköpfiges Erschießungskommando die Exekution von Margaretha Geertrudia Zelle aus, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Mata Hari. Als exotische Tänzerin hat sie in dem Jahrzehnt vor dem Krieg in einflussreichen Zirkeln Frankreichs und anderer europäischer Hauptstädte Popularität genossen. Im Juli ist sie zum Tode verurteilt worden, weil sie für die Deutschen als Doppelagentin spioniert haben soll.

Die Fakten von Mata Haris Karriere als Spionin bleiben im Dunkeln. Unbestritten ist, dass Hari Ende 1915 in den Dienst des deutschen Geheimdienstes tritt. Ihr werden 20.000 Franc geboten, die sie akzeptiert, weil sie von ihrer Karriere als Tänzerin nicht mehr leben kann. Wie bekannt, hat ihr auch der französische Geheimdienst später Geld überwiesen.

1916 reist Hari aus den Niederlanden nach Frankreich und später nach Spanien, wo sie in der deutschen Botschaft einen Kontaktmann hat. Der französische Geheimdienst hat inzwischen von ihrer Geheimdiensttätigkeit erfahren, verhaftet sie aber nicht sofort bei ihrer Rückkehr nach Paris, im Januar 1917, sondern erst Mitte Februar. Im Juli findet ihr Prozess statt. Nach nur eineinhalb Tagen wird sie des Hochverrats und der Tätigkeit als Doppelagentin schuldig gesprochen.

Später kommen stark divergierende Interpretationen von Mata Haris Schuld und ihrer Spionagetätigkeit auf. Die Behauptung, sie habe den Deutschen wertvolle Erkenntnisse liefern können, die zum Tod von tausenden Soldaten geführt hätten, sind offenbar weitgehend widerlegt. Sam Waagenaar, Autor eines Buchs zu dem Thema in den 1960er Jahren, vertritt die Position, Hari sei unschuldig gewesen. Auch andere meinen, Frankreich habe sie 1917 als Sündenbock benutzt, um die Verschlechterung der militärischen Lage zu rechtfertigen und der wachsenden Anti-Kriegsstimmung in der Bevölkerung entgegenzuwirken.

Die Arbeitsgruppe Mata Hari in Leeuwarden, ihrem Geburtsort, kommt zum Schluss, dass diverse Geheimdienste die Tänzerin als politischen Spielball benutzt haben, und dass es schließlich ihre Kenntnisse kompromittierender Informationen über hochstehende Politiker waren, die ihr den Kopf kosteten. Die Informationen, die sie den Deutschen geliefert hatte, waren offenbar von keinem großen Wert.

Die französischen Behörden wiesen drei Versuche zurück, Haris Verurteilung zu kippen und ihren Tod als Justizmord anzuerkennen. Der letzte Versuch scheiterte 2001.

Die vielen ungelösten Fragen brachten eine große Anzahl von Büchern und Filmen hervor, darunter auch den Film Mata Hari von 1931 mit Greta Garbo in der Titelrolle.

Auch in diesem Monat: Andreas Latzkos Antikriegsbuch wird Bestseller

Andreas Latzko

Zu den Autoren, die im Krieg in der Schweiz für den Frieden eintreten, gehört auch der österreichisch-ungarische Autor Andreas Latzko. Er schreibt sechs Novellen, die zunächst in René Schickeles Weißen Blättern erscheinen. Später im Jahr 1917 werden sie als Buch eines anonymen Autors unter dem Titel „Menschen im Krieg“ herausgegeben. Der Band wird ein durchschlagender Erfolg und mit der dritten Auflage von 20.000 Exemplaren im Oktober zum Bestseller. Er wird in 19 Sprachen übersetzt.

Latzko verarbeitet darin sein eigenes Kriegstrauma. Romain Rolland gibt später in seinem Tagebuch wieder, was Latzko ihm darüber erzählt hat: „Er hatte einen schweren Nervenschock. Er hat gesehen, wie zwei Ochsen und drei Männer von einer Granate in Stücke gerissen wurden. Im ersten Augenblick spürt er nichts. Aber zwei Tage später, als man eine Platte mit noch blutigen Steaks auf seinen Tisch stellte, begann er zu heulen, spie, wurde von Krämpfen geschüttelt. Sechs Monate zitterte er am ganzen Leibe und verweigerte jede Nahrung.“ Er magert ab bis auf 39 Kilo und wird in die Schweiz zur Erholung geschickt, wo er bis Kriegsende bleibt.

Latzkos Schilderungen sind von einer Intensität und großem psychologischen Einfühlungsvermögen. Sie zeigen verschiedene Facetten des Kriegs und was dieser mit den Menschen macht. So im ersten Kapitel, „Der Abmarsch“:

Es war im Spätherbst des zweiten Kriegsjahres, im Lazarettgarten einer kleinen österreichischen Provinzstadt, die am Fuße bewaldeter Hügel, wie hinter einer spanischen Wand verkrochen, ihr verschlafen friedfertiges Dreinschauen noch immer nicht abgelegt hatte … Jeder menschliche Laut, der durch die offenen Fenster [des Krankenhauses] drang, fiel wie ein wütender Angriff die Stille an, war wilde Anklage gegen den Krieg, der da vorne seine Arbeit tat, und zerfetzte Menschenleiber wie Abfall hinter sich warf, alle Häuser mit seinem blutigen Kehricht füllend.

Ganz unterschiedliche Typen von Verwundeten gibt es da, viele, die wie der Rittmeister mit dem Gipsbein, ihre Verletzung als Glücksfall begreifen:

…fröhlich plaudernd auf vier, zu einem Quadrat zusammen geschobenen Bänken vor dem Hause, sprachen sie vom Krieg und – lachten, wie vergnügte Schulkinder, die freudig von überstandenen Prüfungsängsten schwatzen. Jeder hatte seine Pflicht getan, sein Teil abbekommen, und saß nun, im Schutze seiner Wunde, in molliger Erwartung auf Heimurlaub, Wiedersehen, Gefeiertwerden, und wenigstens zwei ganze Wochen als unnumerierter Mensch.

Im Gegensatz dazu der irrsinnig gewordene „Kriegszitterer“ mit seinem Trauma, der die Frauen, Ehefrauen, Mütter und Bräute anklagt, weil sie es zugelassen haben, dass ihre Männer, Söhne und Geliebten in den Krieg abmarschieren konnten. Er schildert, wie die frisch angetraute Ehefrau seines Kameraden Dill diesem beim Abmarsch Rosen nachgeworfen habe. Dill wird unmittelbar neben ihm getötet, als er ihm gerade ein Bild seiner Frau zeigt:

Und der Dill fällt um, mit dem Bild von seiner feschen Frau in der Hand – und im Kopf steckt ihm ein Stiefel, ein Bein, ein Stiefel mit dem Bein von einem Trainsoldaten, den die Achtundzwanziger zerrissen hat, ganz weit von uns.

Auf der anderen Seite, in dem Kapitel „Der Sieger“, die Etappe und der märchenhafte „Tischlein deck’ dich“-Reichtum für Oberbefehlshaber und Kriegsgewinnler:

Statt Ärger, Streit, notwendige Knauserei seufzend zu tragen, stopfte man sich die Taschen gelangweilt mit den Scheinen voll, die ja doch gänzlich überflüssig waren in dem Schlaraffenland, das der Krieg seinen Vasallen erschlossen hatte … Der General wusste, was die Menschenmenge, die da lustig in der Sonne wimmelte, erst am nächsten Morgen aus den Zeitungen erfahren sollte, dass draußen an der Front seit zwanzig Stunden eine erbitterte Schlacht im Gange war; dass, kaum sechzig Kilometer von dem Promenadenkonzert, die Geschütze ohne Atempause tobten, ein dichter Hagel von glühendem Eisen zischend auf seine Soldaten niederprasselte.

Latzkos Anklagen gegen die Herrschenden, die für den Krieg verantwortlich sind, waren jahrzehntelang so gut wie vergessen. Sie sind von einer Eindringlichkeit, wie sie kaum ein anderes Anti-Kriegsbuch bietet:

„Front“ – „Feind“ – „Heldentod“ – „Sieg“ – mit hängender Zunge und rollenden Augen rasen die Köter durch die Welt. Millionen, die man vorsorglich gegen Typhus, Pocken und Cholera geimpft, hetzt ihr bis in Raserei! Millionen werden in Züge gepfercht, – hüben und drüben, – fahren singend einander entgegen, – und hacken, stechen, schießen aufeinander los, sprengen sich gegenseitig in die Luft, geben ihr Fleisch und ihre Knochen her für den blutigen Brei, aus dem der Friedenskuchen gebacken werden soll für jene Glücklichen, die ihre Kalbs- und Rindshäute gegen hundert Prozent Nutzen dem Vaterlande opfern, statt die eigene Haut auf den Markt zu tragen, für dreißig Heller täglich!

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