Wurde der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter von einem V-Mann angestiftet?

Letzte Woche berichteten Berliner Morgenpost und Radio Berlin Brandenburg (RBB), dass der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri möglicherweise von einem V-Mann des Landeskriminalamts in Nordrhein-Westfalen zu seiner Tat angestachelt wurde. Der V-Mann „VP 01“ mit dem Decknamen „Murat“, der engen Kontakt zu Amri hatte, soll für Anschläge geworben haben, darunter auch für einen Anschlag mit einem LKW.

Amri war am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gerast und hatte zwölf Menschen getötet und 50 weitere zum Teil schwer verletzt.

Der vom Berliner Senat eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost hatte kurz zuvor in seinem Bericht die Polizeibehörden mehrerer Länder schwer belastet. Der Anschlag hätte dem ehemaligen Bundesanwalt zufolge verhindert werden können.

Am 18. Oktober schrieben wir in einem Artikel zum Bericht des Sonderermittlers, dass „der Schlüssel zum Verständnis des Vorgehens der Behörden höchstwahrscheinlich in dem islamistischen Netzwerk um Ahmad A., genannt Abu Walaa,“ liege. Dem hatte sich Amri angeschlossen und in diesem war auch der LKA-V-Mann „Murat“ aktiv. Im Prozess gegen die Terrorgruppe vor dem Oberlandesgericht Celle war der Verdacht aufgekommen, „dass ‚Murat‘ als Agent Provocateur handelte und zu Anschlägen in Deutschland ermutigte“, wie wir berichteten. Es sei also „nicht auszuschließen, dass ein V-Mann in der Islamisten-Szene Anis Amri zu seinem mörderischen Anschlag bewog“.

Nur einen Tag später erschienen die Recherchen von Berliner Morgenpost und RBB. Sie stützen sich auf interne Ermittlungsakten sowie Aussagen von Anwälten der Mitangeklagten im Prozess gegen Abu Walaa. Die Anklagen gegen Abu Walaa sowie gegen weitere mutmaßliche Islamisten in weiteren Terrorprozessen stützen sich im Wesentlichen auf die Aussagen des LKA-V-Manns.

Die meisten Gruppenmitglieder hatten demnach nach Syrien ausreisen wollen, um dort auf Seiten des IS zu kämpfen. Sie hätten nicht über Anschläge in Deutschland gesprochen. V-Mann „Murat“ habe aber mehrfach zu Mitgliedern der Gruppe gesagt: „Komm, du hast eh keinen Pass, mach hier was, mach einen Anschlag.“

Ein ehemaliger Anhänger einer Islamisten-Gruppe hatte bereits in einer polizeilichen Vernehmung im Dezember vergangenen Jahres von einem Mann namens „Murat“ gewarnt. Dieser sei „äußerst radikal“, sagte der Zeuge nach Angaben aus Ermittlerkreisen. „Murat“ habe zudem immer wieder gesagt, dass man gute Männer brauche, „die in der Lage sind Anschläge zu verüben“.

In einer weiteren Vernehmung soll der Zeuge gesagt haben, dass „Murat“ weniger über Gebete habe reden wollen als über Kalaschnikows. Als er Jugendliche und Eltern auf einer Wiese gesehen habe, soll er gesagt haben, „dass man die töten müsste, weil die Gott verleugneten“.

Ein ehemaliger Anhänger der Abu-Walaa-Gruppe sagte dem RBB, „Murat“ sei „der Radikalste“ gewesen. Ein aus der Szene ausgestiegener Islamist – es ist unklar, ob es sich um den gleichen Mann handelt – bekräftigte Reportern des RBB, dass „Murat“ ihn zu Anschlägen animiert habe: „Ich kann hundertprozentig bezeugen, dass er das auch bei mir versucht hat.“

Mehrere Rechtsanwälte bestätigen die Vorwürfe. „Mein Mandant hat mir berichtet, dass VP-01 mit ihm über mögliche Anschlagsorte gesprochen und ihm den Tipp gegeben hat, sich den Bart abzurasieren, damit er weniger auffällt“, sagte der Düsseldorfer Strafverteidiger Johannes Pausch. Sein Mandant wurde wegen eines Anschlagsplans zu einer Haftstrafe verurteilt. „Murat“ habe seinen damals noch minderjährigen Klienten nicht gebremst, „sondern eher insistiert“.

Ähnliches konnte der Kölner Strafverteidiger Michael Murat Sertsöz dem Rechercheteam von Berliner Morgenpost und RBB berichten. Sein Mandant Mikail S., der kürzlich wegen des Verbreitens von Terrorpropaganda verurteilt wurde, habe ihm berichtet, dass VP-01 ihn mehrfach aufgefordert habe, sich eine Waffe zu besorgen und „Aktionen“ durchzuführen. „So wie Mikail das Verhalten der VP-01 geschildert hat, handelte dieser wie ein Agent Provocateur im Dienste des Staates“, sagte Sertsöz.

Der Rechtsanwalt Ali Aydin aus Frankfurt am Main, der einen der Angeklagten in dem kürzlich eröffneten Verfahren gegen Anhänger der „Abu-Walaa-Zelle“ vertritt, berichtete: „Aus eigener Recherche weiß ich, dass VP-01 zu verschiedenen Leuten gesagt haben soll, lasst uns diese Ungläubigen töten.“

Aydin betont, dass er für diese Aussage nicht nur eine Quelle habe. Für ihn sei klar, dass der V-Mann zu Anschlägen „angestachelt“ habe. Der Rechtsanwalt fordert Ermittlungen, ob der V-Mann auch direkt auf Anis Amri eingewirkt habe, einen Anschlag zu begehen. Wie nun bekannt geworden ist, war der V-Mann häufig mit dem späteren Attentäter Amri unterwegs und hatte ihn in seine Unterkünfte gefahren.

„Murat“ oder VP-01 habe sich mit seinen Äußerungen womöglich wegen Anstiftung, Beihilfe zum Mord und der Unterstützung einer ausländischen Terrorvereinigung strafbar gemacht.

Ein interner Bericht des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes vom September dieses Jahres bestärkt die Vermutung des Anwalts. In dem sogenannten „Behördenzeugnis“, das die Berliner Morgenpost und der RBB einsehen konnten, berichtet der Nachrichtendienst über ein Vier-Augen-Gespräch, in dem VP-01 gegenüber einem Mitstreiter erklärt habe, er suche „nach einem zuverlässigen Mann für einen Anschlag mit einem Lkw“.

Anwalt Aydin folgert: „Es stellt sich also die Frage, ob VP-01 auf Anis Amri eingewirkt hat, und er erst dadurch zu dem Entschluss gekommen sein könnte, einen Anschlag zu begehen.“

Der RBB berichtete, dass „interne Vernehmungsprotokolle zeigen, dass die Vertrauensperson einräumte, über Anschläge gesprochen zu haben“. Bei einer Befragung durch das LKA soll sein V-Mann darauf hingewiesen haben, er habe sich entsprechend seinem Auftrag „immer als anschlagsbereit“ gezeigt, um an Informationen zu gelangen.

Das LKA habe seinen V-Mann gegen die bislang nur intern bekannten Vorwürfe geschützt, schreibt die Berliner Morgenpost. „Aussagen, die dessen Rolle in Zweifel zogen, würdigten die Kriminalisten als unglaubwürdig herab.“ So behaupteten sie, die im Dezember 2016 getätigten Zeugenaussagen, die „Murat“ anstachelndes Verhalten vorwarfen, seien „durch keine weiteren Erkenntnisse zu stützen und widersprechen den hier vorliegenden Erkenntnissen.“ Das LKA unterstellte dem Zeugen stattdessen, mit seiner Aussage von eigenen „strafrechtlich relevanten Taten“ abzulenken. Als Beleg für diese Einschätzung diente dem LKA einzig die Aussage ihres V-Mannes. Unbestätigten Angaben zufolge befindet sich der türkisch-stämmige V-Mann im Zeugenschutzprogramm.

Was der bis Juni 2017 amtierende NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD), oberster Dienstherr des nordrhein-westfälischen LKA und des dortigen Landesamts für Verfassungsschutz, von den Vorgängen wusste, ist bislang unklar. Das LKA NRW verweigerte Antworten auf einen umfassenden Fragenkatalog der Berliner Morgenpost und des RBB mit Verweis auf das laufende Verfahren gegen die Anhänger der „Abu-Walaa-Zelle“ und den Untersuchungsausschuss zum Fall Amri in Nordrhein-Westfalen.

Ein Sprecher des Berliner Innensenators Andreas Geisel (SPD) behauptete, von den V-Mann-Vorwürfen habe man am Donnerstag aus der Presse erfahren. In Berlin tritt am 10. November der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zusammen.

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