Nach dem Scheitern von Jamaika: Rechte politische Manöver in Berlin

Die Manöver, die in Berlin nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition stattfinden, tragen zunehmend den Charakter einer politischen Verschwörung. Hinter dem Rücken der Bevölkerung arbeitet die herrschende Klasse an unterschiedlichen Szenarien, die alle das gleiche Ziel verfolgen: die Bildung einer extrem rechten, neuen Bundesregierung, die die Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialabbaus vorantreibt und jede sozialistische Opposition dagegen unterdrückt.

Am gestrigen Dienstag lud der sozialdemokratische Bundespräsident und frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Grünen-Vorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir und anschließend FDP-Chef Christian Lindner zu Gesprächen ins Schloss Bellevue. Während der genaue Inhalt der Aussprache geheim blieb, ist klar, dass Steinmeier durch seine Intervention mögliche Neuwahlen um jeden Preis vermeiden will. „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält“, hatte er den Parteien in einer grimmig vorgetragenen Erklärung bereits am Montag ins Stammbuch geschrieben.

Als Staatsoberhaupt und führender Sozialdemokrat spricht Steinmeier für einflussreiche Kreise der herrschenden Klasse. Sie fürchten, dass erneute Wahlen und weitere Monate der politischen Unklarheit in Berlin, Europa weiter destabilisieren und die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus empfindlich untergraben könnten.

In seiner Eröffnung der Bundestagssitzung am Dienstag ermahnte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) die Parteien, „Verantwortung für unser Land in Europa und in der Welt wahrzunehmen“. Europa brauche „ein handlungsfähiges Deutschland. Die Reaktionen aus dem Ausland zeigen: Europa und viele andere Staaten in der Welt warten auf uns.“ Die Herausforderungen seien groß und erforderten „eine handlungsfähige Regierung“.

In der anschließenden Bundestagsdebatte über die Verlängerung mehrerer Auslandseinsätze der Bundeswehr äußerte sich der amtierende Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) ähnlich. Man dürfe in den nächsten Wochen auf keinen Fall „Belege schaffen für die, die sich freuen über die Schwächung einer liberalen und freiheitlichen Weltordnung“. Deutschland sei „ein Land, das über viel Einfluss in der Welt verfügt, mehr als uns Deutschen manchmal bewusst ist. Aber damit verbindet sich auch die Erwartung sehr vieler anderer Nationen gegenüber uns, dass wir Deutsche diesen Einfluss nutzen.“

Noch bevor Steinmeier am Donnerstag mit dem SPD-Vorsitzenden Martin Schulz zusammenkommen wird, mehren sich auch in der SPD Stimmen, die für eine Fortsetzung der Koalition mit der Union eintreten. „Wir sind gefordert, zu überlegen, unter welchen Bedingungen wir in eine Große Koalition gehen könnten“, erklärte der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Bernd Westphal.

„Die SPD sollte nicht vorschnell auf Neuwahlen drängen und das Gespräch mit dem Bundespräsidenten ernst nehmen“, pflichtete ihm der Rechtsexperte der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, im Handelsblatt bei. Auch der sozialdemokratische Fraktionschef in Brandenburg, Mike Bischoff, hält es für möglich, dass sich die SPD auf Bundesebene doch noch für die Große Koalition entscheidet.

Bislang lautet die offizielle Position der SPD-Führung, dass sie die Koalition mit den Unionsparteien nicht fortführen wird. Dies hatte der Parteivorstand in Berlin am Montag bekräftigt. Die sogenannten Jamaika-Parteien hätten das Land zwar in eine schwierige Situation manövriert, so Schulz, die SPD stehe aber angesichts ihres historisch schlechten Abschneidens bei der Bundestagswahl „für den Eintritt in eine große Koalition nicht zur Verfügung“.

Schulz und die SPD fürchten, dass eine sozialistische Perspektive an Masseneinfluss gewinnt, wenn sie die unpopuläre Koalition mit der Union fortsetzen und die rechtsextreme AfD zur führenden Oppositionspartei im Bundestag machen. In Deutschland und ganz Europa brodelt es unter der Oberfläche, und der Widerstand gegen die von allen kapitalistischen Parteien unterstützte Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialkahlschlags wächst. So demonstrieren diese Woche Tausende Arbeiter gegen den geplanten Abbau von 6900 Arbeitsplätzen und die Schließung kompletter Werke bei Siemens.

Die Linkspartei ist besonders alarmiert über diese Entwicklung. Wie alle anderen Parteien fürchtet sie Neuwahlen und reagiert auf das Scheitern der Jamaika-Gespräche und die Verschärfung des Klassenkampfs mit einem scharfen Rechtsruck. Am Montag warb der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dietmar Bartsch, für eine von der Linkspartei unterstützte Minderheitsregierung unter Merkel. „Die Linke hat in Sachsen-Anhalt einige Jahre eine Minderheitsregierung toleriert. Das ist denkbar“, erklärte er in einem Interview mit dem Nachrichtensender n-tv. Seine Partei stimme „vernünftigen Vorschlägen immer zu“, aber auch da liege „der Ball bei Bundeskanzlerin Angela Merkel“.

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) trommelt ebenfalls für die schnelle Installation einer handlungsfähigen neuen Bundesregierung. „Die Herausforderungen sind zu groß, als dass sie auf die lange Bank geschoben werden könnten. Weitere Monate der Ungewissheit können wir uns nicht leisten“, erklärte er ganz im Stil eines Steinmeier oder Schäuble. „Eine Minderheitsregierung auch in Deutschland“ halte er „durchaus für denkbar“.

Um welche „Herausforderungen“ es aus Sicht der deutschen Bourgeoisie geht, wurde im Laufe der gescheiterten „Jamaika“-Sondierungen deutlich. Erst vor wenigen Tagen warf die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) den „Jamaika“-Parteien vor, „die deutsche Sicherheit aufs Spiel“ zu setzen und „sich nicht um „die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, unter den Aspekten einer zunehmend gefährlichen Entwicklung der komplexen Weltlage“ zu kümmern.

„Wird die neue Regierung rechtzeitig wirksame Maßnahmen zur Wiederherstellung der in Mitteleuropa benötigten deutschen Verteidigungsfähigkeit planen, einleiten und finanzieren?“ fragte das rechts-konservative Blatt. „Wird Deutschland auf Dauer gewillt und befähigt sein, das ihm wie jedem Staat zugestandene ‚Recht auf materielle Selbstbehauptung‘ [d.h. Krieg zu führen] auf Dauer wahrzunehmen?“

Nun bejubeln die gleichen Kreise die neoliberale FDP für ihren vorzeitigen Abbruch der Sondierungsgespräche. Als Beleg „für ein letztlich unannehmbares Verhandlungspaket“ habe der FDP-Vorsitzende Christian Lindner auf vier Punkte verwiesen: „Soli-Abbau nur zur Hälfte, keine Flexibilität am Arbeitsmarkt, keine EEG-Reform, keine Haltelinien beim Euro“. Sollte dies das letzte Angebot gewesen sein, gebühre „den Freien Demokraten Dank, dass sie dem schwarz-gelb-grünen Experiment nicht an die Macht verhelfen“, schrieb die FAZ am Dienstag.

Auch die rechtsextreme AfD begrüßt das Scheitern der Sondierungen. „Wir finden es gut, dass Jamaika nicht kommt, denn das wäre eine Koalition des Weiter-so gewesen“, erklärte der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, der im Wahlkampf offen eine positive Bewertung von Hitlers Wehrmacht gefordert hatte. Für ihn stehe fest: „Merkel ist gescheitert“. Der AfD-Rechtsaußen André Poggenburg hat bereits angeboten, eine Minderheitsregierung von Union und FDP im Bundestag zu tolerieren, wenn jemand anderes als Merkel das Kanzleramt übernimmt, die Regierung die Innere Sicherheit ausbaut und die Flüchtlingspolitik verschärft.

Noch ist völlig offen, wie es in den nächsten Tagen weitergeht. Wird die Große Koalition fortgesetzt, eine Minderheitsregierung installiert oder letztlich doch die Wahl wiederholt? Eines ist jedoch klar: Bleibt die politische Initiative in den Händen der herrschenden Klasse und ihrer Parteien, ist eine neue Rechtsregierung – ganz gleich welcher Couleur –, die massiv aufrüstet und heftige Angriffe auf die Arbeiterklasse durchführt, unausweichlich.

Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) lehnt das politische Geschacher aller Bundestagsparteien hinter dem Rücken der Bevölkerung strikt ab. Unter Bedingungen politischer und wirtschaftlicher Verwerfungen, die an das Ende der Weimarer Republik erinnern, kämpfen wir für den Aufbau der SGP als neuer Massenpartei der Arbeiterklasse und für eine sozialistische und internationalistische Lösung der Krise.

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