Bestandsaufnahme Gurlitt: „Entartete Kunst“ im Kunstmuseum Bern

Bestandsaufnahme Gurlitt. „Entartete Kunst“, beschlagnahmt und verkauft
Ausstellung im Kunstmuseum Bern
2. November 2017 – 4. März 2018

August Macke, Zwei Mädchen und Davonreitender, 1913

„Zwei Mädchen und Davonreitender“, so nennt August Macke 1913 sein Bild voller lebendiger Farbigkeit. Wenige Monate später stirbt Macke als Soldat im Ersten Weltkrieg. Sein Bild wird 1937 von den Nazis als „entartete Kunst“ beschlagnahmt und ist darauf achtzig Jahre lang verschollen.

Mackes Bild und etwa 160 weitere Meisterwerke werden zurzeit zum ersten Mal in einer vorläufigen „Bestandsaufnahme Gurlitt“ öffentlich gezeigt.

In einer Doppelausstellung im Kunstmuseum Bern und in der Bundeskunsthalle Bonn ist eine Auswahl der über 1500 Werke aus dem Nachlass von Cornelius Gurlitt noch bis Anfang März zu sehen. Im Kunstmuseum Bern finden sich die Bilder, die ab 1937 als „entartete Kunst“ aus deutschen Museen beschlagnahmt wurden, und zeitgleich zeigt die Bundeskunsthalle Bonn Bilder, die den Verfolgten des NS-Regimes geraubt worden waren, oder die im Verdacht der Raubkunst stehen („Der NS-Kunstraub und die Folgen“).

Cornelius Gurlitt, Sohn des Nazi-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, hatte den riesigen Bilderschatz in seiner Wohnung in München-Schwabing versteckt, bis die Staatsanwaltschaft ihn im Februar 2012 entdeckte und beschlagnahmte. Kurz vor seinem Tod setzte Gurlitt das Kunstmuseum Bern als Alleinerbe seiner Werke ein. Grund war wohl vor allem sein Misstrauen gegenüber dem deutschen Staat; auch war das Kunstmuseum Bern Gurlitt von seiner früheren Geschäftsbeziehung zum Kunsthändler Eberhard W. Kornfeld in Bern bekannt.

Viel ist über den „Schwabinger Kunstfund“ geschrieben und spekuliert worden. Mit der Doppelausstellung in Bern und Bonn rücken nun erstmals die Kunstobjekte selbst in den Mittelpunkt. In Umrissen wird sichtbar, was für ein enormer Kulturschatz der Öffentlichkeit seit achtzig Jahren entzogen war.

In Bern sind etwa 160 bisher unbekannte Werke ausgestellt, die den Nazis als „entartet“ galten. Darunter sind Werke von Lovis Corinth, Edvard Munch, Max Liebermann, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Otto Dix, Paul Klee, George Grosz, Franz Marc, Max Beckmann, Erich Heckel, aber auch Oskar Kokoschka, Wassili Kandinski, El Lissitzky und anderen mehr. Es sind Werke des Expressionismus, Dadaismus, der Neuen Sachlichkeit und vom Bauhaus, des Surrealismus, Kubismus, Fauvismus, sowie die Werke jüdischer Künstler.

Ein weiterer Teil der Sammlung umfasst die Werke, die Hildebrand Gurlitt als Chefeinkäufer im Auftrag Adolf Hitlers für das geplante Führermuseum in Linz aus ganz Europa zusammentrug. Viele dieser Kunstwerke wurden aus dem besetzten Paris oder Brüssel „erworben“, d.h. in den meisten Fällen ebenfalls erpresst und geraubt. Das Kunstmuseum Bern präsentiert außerdem eine Abteilung über Provenienzforschung, in der anschaulich gemacht wird, auf welche Weise die Herkunft der Kunstwerke herausgefunden werden kann.

Hinter jedem ausgestellten Bild stehen eine ganze Geschichte und ein Künstlerschicksal.

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis, 1924. Lithographie auf Papier

So ist unter den Bildern in Bern ein wunderschönes Selbstbildnis von Käthe Kollwitz zusammen mit weiteren Werken der Künstlerin zu sehen. Zwar wurde kein Werk von Kollwitz in die Ausstellung „Entartete Kunst“ aufgenommen, doch die Nazis verfolgten sie als radikale Gegnerin von Krieg und Faschismus und machten ihr das Arbeiten unmöglich. Wie auch Max Liebermann wurde sie 1933 gezwungen, ihre Arbeit für die Preußische Akademie der Künste niederzulegen. Sie starb am 22. April 1945, nur wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Naziregimes.

Das Berner Kunstmuseum hat bisher nur den Teil des Gurlitt-Erbes übernommen, der die sogenannten „sauberen“ Bilder umfasst. Alle Kunstwerke, die ihren verfolgten Besitzern entrissen und geraubt, aus Zwangsverkäufen der Geflüchteten oder aus Nachlässen der Deportierten stammten, oder deren Herkunft bis heute ungeklärt ist, sind bisher in Deutschland verblieben. Sie bilden den Grundstock der Bonner Ausstellung.

Es mag erstaunen, dass man die als „entartete Kunst“ beschlagnahmten Kunstwerke zu den „sauberen“ Werken zählt. Diese fragwürdige Definition stützt sich auf eine Entscheidung des Alliierten Kontrollrats von 1945, der zufolge das NS-Gesetz „über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 nicht rückwirkend annulliert werden sollte. Durch diese Entscheidung wurde die Beschlagnahme nachträglich legitimiert.

Die „Entartete Kunst“-Kampagne war im Grunde Teil des umfassenden Nazi-Feldzugs gegen jegliche jüdische, sozialistische, marxistische oder auch nur pazifistisch angehauchte Kultur. Vorausgegangen waren schon die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 und die darauf folgende Aktion „wider den undeutschen Geist“. Im Sommer 1937 wurde in München die Propagandaschau „Entartete Kunst“ eröffnet, die später als Wanderausstellung in zahlreichen Städten Deutschlands und Österreichs gezeigt wurde. Parallel dazu ließ das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMfVP) mehr als 21.000 Werke der modernen Kunst aus deutschen Museen beschlagnahmen.

Am 20. März 1939 wurden auf dem Hof der Berliner Hauptfeuerwache über tausend Gemälde und fast 4000 Grafiken verbrannt. Die verschonten Meisterwerke, die hauptsächlich zum Verkauf im Ausland bestimmt waren, wurden in riesige Depots in Berlin gehortet, wo nur akkreditierte Kunsthändler wie Hildebrand Gurlitt Zugang hatten.

Lovis Corinth, Selbstporträt mit Strohhut, 1923, Öl auf Karton

Ein Bild in der Berner Ausstellung weist darauf hin, dass auch die Schweizer Kunstmuseen an dieser Hehlerei in großem Stil teilnahmen: Es ist das „Selbstporträt mit Strohhut“ (1923) von Lovis Corinth. Dieses Bild weist eine typische Geschichte auf. Der Künstler konnte es wohl selbst 1923 über eine Kunsthandlung an die Berliner Nationalgalerie verkaufen. Am 16. August 1937 wurde es vom Propagandaministerium beschlagnahmt und kam als Teil der „international verwertbaren Kunstwerke“ in das Depot Schloss Schönhausen.

Im Juni 1939 gelangte das Bild in die Auktion der Luzerner Galerie Theodor Fischer, „Gemälde und Plastiken moderner Meister aus deutschen Museen“. Für diese gewinnversprechende Auktion hatte der Reichsführer Hermann Göring eigens 125 besondere Gemälde ausgesucht. Hier wurde das Bild am 30. Juni 1939 durch einen Strohmann im Auftrag des Kunstmuseums Bern ersteigert.

Beim Betrachten vieler Bilder in Bern wird oft deutlich, dass die als „entartet“ verfemten Kunstwerke nicht bloß aus ästhetischen Gründen der Kritik der Nazis anheimfielen. Ihr „undeutscher Geist“ kam oft darin zum Ausdruck, dass sie sich mit sozialen Themen, zum Beispiel mit der Unterdrückung der Arbeiterklasse, der Armut oder der Prostitution befassten oder dass sie den Krieg anprangerten.

Otto Dix, Die Leiche im Drahtverhau, 1924, Zyklus „Der Krieg“, Radierung und Aquatinta auf geripptem Büttenpapier

Ein Beispiel für die Antikriegsbilder sind Otto Dix‘ Bilder „Leiche im Drahtverhau“, „Schütze im Infanterieregiment 103“ oder sein „Sonnenaufgang bei Ypern“ von 1917. Dix hatte sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Die entsetzliche Kriegsrealität prägte dann einen Großteil seines Lebenswerks. In zahlreichen Kunstwerken und in seinem Triptychon („Der Krieg“, 1929–1932) brachte Otto Dix die Kriegsgräuel zum Ausdruck und versuchte, einer erneut erstarkenden Kriegspropaganda entgegenzuwirken.

1933 war Dix einer der ersten Kunstprofessoren, die entlassen wurden. Zusammen mit George Grosz und Max Beckmann sah er sich nach Hitlers Machtantritt von Anfang an einer heftigen Polemik ausgesetzt.

Mehrere Künstler kehrten aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. So fiel August Macke schon im September 1914 als 26-Jähriger an der Westfront und sein Freund Franz Marc zwei Jahre später bei Verdun.

George Grosz, Germanenköpfe, 1919. Photo-Lithographie auf Büttenpapier

Eine Reihe von Bildern von George Grosz in der Berner Ausstellung zeigt das Engagement dieses Künstlers gegen Krieg und soziale Not. Auch George Grosz hatte sich 1914 freiwillig zum Krieg gemeldet, war jedoch rasch von dessen Grauen abgestoßen: „Krieg war für mich Grauen, Verstümmelung und Vernichtung.“ 1916 anglizierte er aus Protest gegen Hurrapatriotismus und Deutschtümelei seinen Namen von Georg Ehrenfried Groß in George Grosz, und im Mai 1917 malt er eine Allegorie der Kriegszerstörung („Explosion“).

Während der deutschen Revolution 1918–1919 schloss sich Grosz dem Spartakusbund in Berlin an. Seine ätzend scharfen Lithographien der Mappe „Gott mit uns“, die 1920 erscheinen, zogen ihm schon früh den Hass der Herrschenden und eine Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr zu. Im Januar 1933 emigriert Grosz vor den Nazis in die USA.

Von 170 Werken aus seiner Berliner Zeit sind etwa siebzig verschollen. Über fünfzig davon hatte er an seinen Galeristen Alfred Flechtheim übergeben, doch dieser musste Ende Mai 1933 ebenfalls flüchten und sah sich gezwungen, seine Galerie weit unter Wert abzuwickeln. Davon haben wiederum Nazi-Kunsthändler wie Hildebrand Gurlitt profitiert.

In Bern sind von Grosz mehrere Berliner Bilder, wie die „Berliner Typen“ (ohne Jahresangabe), die „Friedrichstraße“ (1918) und sein „Straßenbild“ (ohne Jahresangabe). Die „Germanenköpfe“ von 1919 sind eines jener Bilder, mit denen Grosz der arbeitenden Bevölkerung „die wahren Gesichter ihrer Herren zeigen“ wollte.

Emil Nolde, Fischerkinder, 1926

Die Berner Ausstellung enthält auch eine Anzahl Werke der Meister des Expressionismus, dessen Schicksal unter den Nazis nicht von Anfang an klar besiegelt war. So hielt Joseph Goebbels um 1933 den deutschen Expressionismus und besonders die Werke Emil Noldes für „Prototypen des nordischen Künstlers“. Nolde selbst war schon 1920 der NSDAP beigetreten. Er betonte sein „gedankliches Germanentum“ und bekundete, wie auch Ernst Barlach, Erich Heckel und Ludwig Mies van der Rohe, 1933 öffentlich seine Loyalität zu Adolf Hitler.

Dies nützte alles nichts, und Nolde entging nicht dem Schicksal der gesamten modernen Kunst unter dem Nationalsozialismus. Im Jahr 1937 wurden allein von Emil Nolde über tausend Werke aus deutschen Museen beschlagnahmt. Nolde wurde 1941 aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen. Er lebte fortan zurückgezogen in seinem Haus im norddeutschen Seebüll und malte dort seine „Ungemalten Bilder“, einen Zyklus von über 1300 kleinformatigen Aquarellen. Er diente dem Schriftsteller Siegried Lenz als Vorbild für die Figur von Max Ludwig Nansen im Roman „Deutschstunde“.

Ernst L. Kirchner, Kopf Ludwig Schames, 1918, Holzschnitt auf Löschpapier

„Es liegt Krieg in der Luft“, schrieb Ernst Ludwig Kirchner am 12. Mai 1933 an seinen Gönner Carl Hagemann. „In den Museen wird jetzt die mühsam errungene Kultur der letzten 20 Jahre vernichtet.“ Kirchners Bilder in der Ausstellung weisen die charakteristische wechselvolle Provenienz auf: So hält sein Holzschnitt „Kopf Ludwig Schames“ im Jahr 1919 Einzug in das Städelsche Kunstinstitut Frankfurt am Main, wird am im August 1937 vom Propagandaministerium beschlagnahmt und am 22. Mai 1940 von Hildebrand Gurlitt erworben, um für weitere 77 Jahre in der Versenkung zu verschwinden.

Das Schicksal des Künstlers ist tragisch: Auch er meldet sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg. 1915 erkrankt der Künstler im Feld an nervlicher Zerrüttung und wird in der Folge Medikamenten-abhängig. Seit 1917 lebt Ernst L. Kirchner in Davos, von wo aus er den Niedergang in Deutschland miterlebt. 1937 wird er aus der Preußischen Akademie ausgeschlossen. Drogenabhängig und verzweifelt nimmt er sich am 15. Juni 1938 in Davos das Leben.

Die Nazis haben insgesamt 639 Werke Kirchners aus deutschen Museen entfernt und zum Teil vernichtet. In Bern sind mehrere, achtzig Jahre lang verschollene Meisterwerke des Künstlers zu sehen, der zu den wichtigsten Vertretern des Expressionismus gehört.

Ernst L. Kirchner, Zwei Akte auf Lager, um 1908/1908. Schwarze und farbige Kreiden auf geripptem Doppelpapier.

 

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