Marokko: Proteste nach zwei Todesfällen in stillgelegtem Bergwerk

Am Freitag legte ein Generalstreik die ostmarokkanische Stadt Jerada lahm, nachdem zwei Männer in einer stillgelegten Kohlegrube tödlich verunglückt waren. Houcine (30) und Jedouane Daioui (23) gehörten zu den Tausenden von Arbeitslosen in Jerada, die aufgrund von Armut und fehlenden Arbeitsplätzen gezwungen sind, für einen Hungerlohn selbständig Kohle abzubauen. Bei den unsicheren Arbeitsbedingungen in den Bergwerken riskieren sie täglich ihr Leben. Beide Opfer waren verheiratet. Houcine hinterlässt zwei Kinder, Jedouane eines.

Im Jahr 2011 waren in der gleichen Weltregion im ehemaligen Phosphatabbaugebiet in Südtunesien Proteste ausgebrochen, die schließlich in die revolutionären Kämpfe mündeten, die zum Sturz von Präsident Zine el-Abedine Ben Ali führten. Seither hat sich die mit den imperialistischen Mächten Nordamerikas und Europas verbündete herrschende Elite in Afrika als unfähig erwiesen, auch nur eines der Probleme zu lösen, die den Aufstand in Tunesien und die darauffolgende revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse in Ägypten ausgelöst hatten.

Am 22. Dezember gingen Houcine, Jedouane und ihr überlebender Bruder Abderrazak (22) Kohle schürfen, um sie an örtliche Händler zu verkaufen. Abderrazak, der den Tod seiner beiden Brüder miterlebte, schilderte den Vorfall gegenüber AFP:

„Wir fuhren in 85 Meter Tiefe. Houcine und Jedouane waren genau unter mir. Einer von ihnen grub horizontal und traf eine Wasserader. Wir wurden völlig überschwemmt. Ich klammerte mich am Seil fest und schaffte es, wieder an die Oberfläche zu kommen.“ Seine Brüder schafften es nicht.

Abderrazak fügte hinzu, er sei nun der alleinige Ernährer seines 80-jährigen Vaters, der früher selbst Bergarbeiter war, seiner sechs Brüder, seiner Frau und seiner Tochter. Abderrazak machte die Armut sowie den Mangel an Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven für den Tod seiner beiden Brüder verantwortlich. Diese Bedingungen zwingen Tausende, in stillgelegten Bergwerken nach Kohle zu schürfen.

„Es gibt keine Alternative, es gibt keine andere Arbeit. Deshalb riskiere ich mein Leben. Ich verdiene zwischen 100 und 150 Dirham (zwischen 9 und 13 Euro) am Tag.“ Er grabe seit „drei oder vier Jahren“ in stillgelegten Minen nach Kohle.

Während der Deregulierung des marokkanischen Strommarkts in den 1990ern wurde die Kohlegrube in Jerada von den Behörden geschlossen. Bis dahin war sie das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt mit ihren 60.000 Einwohnern gewesen und hatte 9.000 Arbeiter beschäftigt. Die Einwohnerzahl von Jerada ist seither auf 43.000 gesunken, da Tausende abgewandert sind, um anderswo Arbeit zu suchen. Die marokkanischen Behörden behaupteten, der Betrieb des Bergwerks sei nicht mehr rentabel. Faktisch weisen sie damit jede Verantwortung für die Sicherheit der Männer von sich, die nun inoffiziell weiter dort arbeiten. Die Preise für die geförderte Kohle werden jetzt von privaten Händlern festgelegt, die Beziehungen zu multinationalen Energiekonzernen unterhalten.

Ein Bewohner von Jerada erklärte gegenüber der marokkanischen Zeitung La Dépeche, das Geld aus der Kohleförderung fließe „in die Taschen der ausländischen Konzerne, während die jungen Leute ihr Leben in inoffiziellen Bergwerken riskieren“. Zu diesen Konzernen zählen französische Firmen wie GDF-Suez and Lafarge; JLEC; der Stromnetzbetreiber von Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten, der bei seinen Geschäften in Marokko mit der französischen Bank Société Générale zusammenarbeitet; und mehrere chinesische Firmen, u. a. Sepco III.

Die inoffiziellen Bergwerke in Jerada werden „Todesminen“ genannt, weil es dort immer wieder zu vermeidbaren tödlichen Unfällen kommt. Abderrazak erklärte, er habe neben zwei seiner Brüder auch seinen Onkel auf diese Weise verloren.

Nach dem Unfall behandelten die marokkanischen Behörden die arbeitende Bevölkerung von Jerada mit unverhohlener Verachtung. Der Katastrophenschutz weigerte sich, bei der Suche nach den Leichen zu helfen, und erklärte, das Betreten des Bergwerks sei zu gefährlich. Die Bewohner von Jerada mussten die Suche selbst organisieren. Nachdem sie die Leichen gefunden hatten, forderten sie von den Behörden vor der Beerdigung die Zusage, dass die Frauen und Kinder von Houcine und Jedouane eine Rente erhalten. Diese Forderung wurde abgelehnt.

Stattdessen versuchten die Behörden in der Nacht zum 23. Dezember, die beiden Toten heimlich zu begraben, ohne die Familie Daioui zu informieren. Ahmed Bousmaha von der marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) erklärte: „Jemand aus der Nachbarschaft sah, dass auf dem Friedhof zwei Gräber direkt neben der Leichenhalle ausgehoben wurden, und alarmierte die Familie.“

Am 24. Dezember versammelte sich ein Großteil der Stadt zu einer Protestkundgebung mit zehntausenden Teilnehmern. Die Demonstranten riefen Parolen, in denen sie nicht nur den Tod der Bergarbeiter anprangerten, sondern auch die unbezahlbaren Preise für Strom und Wasser, wegen denen die Behörden zahlreichen Haushalten Wasser und Strom gesperrt haben. Sie forderten außerdem Arbeitsplätze und die Ansiedlung von Industrie in der Region.

In der Nacht kam es zu Zusammenstößen zwischen starken Polizeieinheiten und Jugendlichen, die den Friedhof von Jerada bewachten, damit die Behörden nicht noch einmal versuchen konnten, die beiden Brüder heimlich zu beerdigen.

Die marokkanische Zentralregierung zeigte den Demonstranten die kalten Schulter. Am 25. Dezember erklärte Premierminister Saâd Eddine El Othmani auf die Frage nach Jerada, es sei eine juristische Untersuchung eingeleitet worden, er werde sich jedoch erst nach dem Befund äußern. Außerdem werde er sich „mit Abgeordneten der Ostregion treffen, um über diese Tragödie, die einige unserer Bürger das Leben gekostet hat, zu sprechen.“

Energie- und Bergbauminister Aziz Rebbah schürte die Hoffnung auf den Bau eines Kohlekraftwerks nahe Jerada, das 500 Arbeitsplätze schaffen würde. Als Partner sei das chinesische Unternehmen Qingdao Huafengweiye Electric Power Technology Engineering Corporation vorgesehen. Dies wäre jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Laut den offiziellen Statistiken ist die Hälfte der Bevölkerung im Alter von über 15 Jahren, die früher Arbeit hatte, mittlerweile arbeitslos.

Die Tragödie in Jerada verdeutlicht nicht nur den bankrotten und verbrecherischen Charakter der marokkanischen Monarchie, die seit langem als Marionette der imperialistischen Mächte agiert, sondern auch des Weltkapitalismus insgesamt. Das europäische, chinesische und arabische Kapital kann den Arbeitern in Nordafrika keine angemessene Beschäftigung bieten. Stattdessen vegetieren sie in Arbeitslosigkeit dahin oder sterben an irregulären Arbeitsstätten wie den „Todesminen“ von Jerada.

Die zentrale Lehre aus diesen Ereignissen, wie auch aus den Aufständen in Tunesien und Ägypten 2011 ist, dass ein internationaler revolutionärer Kampf der Arbeiterklasse der einzige gangbare Weg ist. Sie muss bewusst darauf hinarbeiten, die Kapitalistenklasse zu enteignen, die Macht im Staat zu übernehmen und die Wirtschaft auf der Grundlage sozialer Bedürfnisse umgestalten. Dabei ist der Aufbau einer internationalen revolutionären Führung die wichtigste strategische Aufgabe. Weil eine solche Führung fehlte, konnten das tunesische Ben-Ali-Regime und das ägyptische Militärregime die Macht zurückerobern und die Ausbeutung der Arbeiter in der Region noch verdoppeln.

Die Klassenspannungen haben im ganzen Maghreb ein explosives Niveau erreicht, da keines der Probleme gelöst ist, die vor sechs Jahren den Aufstand in Tunesien ausgelöst hatten. Letztes Jahr kam es in Tunesien erneut zu Massenprotesten gegen die hohe Arbeitslosigkeit.

Die marokkanischen Behörden sind bereits mit immer wiederkehrenden Protestwellen in der nahegelegenen Rif-Region konfrontiert, seit die Polizei letztes Jahr den Fischverkäufer Mouhcine Fikri in der Presse eines Müllwagens zerquetscht hatte. Er war dort hineingeklettert, um eine Ladung Schwertfische herauszuholen, die die Polizei zuvor beschlagnahmt hatte, weil er sie angeblich illegal erworben hatte. Die Proteste gegen den Mord an Fikri breiteten sich auf die großen Städte des Landes aus, u. a. Casablanca, Rabat, Agadir und Marrakesch. Jetzt werden auch die Proteste in Jerada und der umliegenden Region weitergehen.

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