Wahl im Irak offenbart tiefe politische und soziale Krise

Die Parlamentswahl vom 12. Mai im Irak enthüllte die große Unzufriedenheit der Bevölkerung und eine zutiefst instabile politische Situation. Kein Parteienbündnis erhielt auch nur annährend die Unterstützung, die ausreichen würde, um in dem 329-köpfigen Parlament eine Regierung zu bilden.

Landesweit gaben nur 44,52 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Bei früheren Wahlen waren es noch mindestens 60 Prozent. In der Hauptstadt Bagdad lag die Wahlbeteiligung bei kaum 32 Prozent.

Das Ergebnis wird die politischen Konflikte in allen Regionen des Iraks weiter anheizen. In dem Land, das seit fünfzehn Jahren von den USA und ihren Verbündeten verwüstet wird, treten die sozialen Gegensätze und Klassenkonflikte immer stärker hervor.

Von den zwei Millionen Menschen, die seit 2014 durch den US-gestützten Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, waren nur 300.000 überhaupt als Wähler zugelassen. In den stark vom Krieg betroffenen Provinzen mit überwiegend sunnitischer Bevölkerung, zum Beispiel in Anbar im Westen und Ninive im Nordwesten, war die Wahlbeteiligung besonders gering.

In den drei Provinzen der autonomen Region Kurdistan und in der Provinz Kirkuk soll es zu Unregelmäßigkeiten der dominierenden Patriotische Union Kurdistans (PUK) gekommen sein. Ihre Gegner beschweren sich inzwischen über Wahlbetrug und Vetternwirtschaft und fordern Neuwahlen oder eine Neuauszählung der Stimmen. Gegen Demonstrationen wurde die Polizei aufgeboten, und es droht eine weitere Eskalation der Gewalt.

Vor der Wahl hatte man der schiitischen Koalition unter Führung des scheidenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi gute Chancen eingeräumt. Al-Abadis Koalition, die von den USA unterstützt wird, erlitt jedoch ein Fiasko und gewann nur noch 42 der 329 Sitze. Ein Versuch, Abadi weiterhin als Ministerpräsidenten beizubehalten, wird wochen- und monatelange Verhandlungen hinter den Kulissen erfordern.

Die rivalisierende schiitische Koalition unter der Führung von Nuri al-Maliki gewann nur 25 Sitze. Maliki trat 2014 auf Druck Washingtons als Premierminister zurück, nachdem der IS die Kontrolle über den Westen und Norden des Landes erobert hatte.

Die „Fatah“-Koalition unter Hadi al-Amiri wurde mit 47 Sitzen zum zweitgrößten Block im Parlament. Amiri ist der Anführer der Badr-Organisation, einer schiitisch-fundamentalistischen Bewegung mit Beziehungen zum Iran, die neben der PUK und anderen kurdisch-nationalistischen Parteien nach dem Einmarsch der USA 2003 als die stärksten Unterstützer der US-Besatzung auftraten.

Die Badr-Bewegung stellte das Personal für die von den USA ausgebildeten Todesschwadronen der irakischen Spezialtruppen, die Zehntausende mutmaßlicher Gegner der Besatzung und Unterstützer des ehemaligen Baath-Regimes von Saddam Hussein ermordeten.

Allerdings schickte Badr in den Jahren 2011 und 2012 ihre Kämpfer zusammen mit andern schiitischen Milizen nach Syrien, um an der Seite der Regierungstruppen gegen die von den USA unterstützten „Rebellen“ zu kämpfen. Nachdem der IS im Jahr 2014 auch in den Irak eingefallen war, stellte Badr wiederum viele Milizionäre, die an der Seite der US-amerikanischen und irakischen Regierungstruppen den IS bekämpften. Amiris Koalition profitierte bei der Wahl vor allem von der Rolle ihrer Miliz bei der Niederschlagung des IS.

Am meisten Stimmen gewann die „Allianz der Revolutionäre für Reform“; sie wird mit 54 Sitzen den größten Block im Parlament stellen. Diese hochgradig instabile Gruppierung wird von der Sadr-Bewegung des bürgerlich-nationalistischen Geistlichen Muktada al-Sadr angeführt, der sich mit der stalinistischen Kommunistischen Partei des Irak (KP) zusammengeschlossen hat. Die „Allianz“ erhielt breite Unterstützung in den Arbeitervororten und Slums von Bagdad und anderen Großstädten.

Dieser Block ist von Widersprüchen zerrissen. Die irakische KP hatte den US-Einmarsch und die Besatzung im Jahr 2003 uneingeschränkt unterstützt. Die Sadr-Bewegung, deren wichtigste Basis in den ärmsten Arbeitergebieten von Bagdad liegt, hatte die Besatzung anfangs abgelehnt. Im Jahr 2004 rief Sadr zum bewaffneten Widerstand auf. Seine Mahdi-Armee erlitt in offenen Schlachten mit den amerikanischen und britischen Truppen in Bagdad, Basra, Nadschaf und anderen Städten in den mehrheitlich schiitischen Provinzen des Iraks schwere Verluste.

In Worten leistete Sadr auf der Grundlage einer irakisch-nationalistischen Perspektive weiterhin Widerstand gegen die amerikanische Besatzung, doch ab 2006 wandte sich seine Bewegung auf der Grundlage religiöser Gewalt vor allem gegen die Sunniten. Sadrs Mahdi-Armee war für einige der schlimmsten Gräueltaten verantwortlich, als ein Großteil der sunnitischen Bevölkerung Bagdads gezwungen wurde, sich in konfessionell getrennte Bezirke niederzulassen. Nach 2007 stellten die Sadristen ihren Widerstand größtenteils ein und kandidierten für das Parlament. Unter der US-Besatzung übernahmen sie mehrfach Ministerposten in der schiitisch dominierten Regierung.

Im Jahr 2016 schloss Sadr ein Bündnis mit der KP. Die Allianz trat lautstark gegen die schreckliche Armut der Arbeiterklasse auf und strebte gleichzeitig still und leise bessere Posten und Privilegien für ihre Führungskräfte an. Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den USA und dem Iran hat Sadr seine nationalistischen Angriffe gegen den Einfluss des Irans auf die schiitischen Parteien im Irak verstärkt. Er wirft Teheran vor, es wolle das Land und seine Rohstoffe übernehmen.

Der scheidende Ministerpräsident Abadi hat seine Bereitschaft angedeutet, mit den Sadristen über die Bildung einer neuen Regierung zu verhandeln. Die Fatah hat jedoch erklärt, sie lehne jede Regierungsbeteiligung von Parteien wie der KP ab, die eine nominell säkulare Perspektive vertreten. Dieser Standpunkt soll wohl eher Abadi und andere politische Gruppen dazu bringen, die Sadristen und ihre anti-iranische Position auszuschließen.

Es ist durchaus vorstellbar, dass die amerikanischen Behörden auf die Bildung eines Blocks zwischen Abadi, Maliki und den Sadristen drängen. Sadr wird in den etablierten Medien zwar als „Antiamerikaner“ dargestellt, er hat jedoch in der Vergangenheit seine Bereitschaft gezeigt, mit den USA zusammenzuarbeiten, um die Interessen einer Schicht der schiitischen Elite zu schützen, die er vertritt.

Vor dem Hintergrund von Trumps Rückzug aus dem Atomabkommen mit dem Iran aus dem Jahr 2015 und angesichts der rapide zunehmenden Spannungen in der Region könnte Washington die Sadristen möglicherweise als Gegengewicht gegen Teherans Einfluss unterstützen.

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