Perspektive

Das Massaker in Tuticorin wirft ein Schlaglicht auf Indien unter Modi

Zum vierten Jahrestag ihres Amtsantritts beschworen Premierminister Narendra Modi und die übrige Führung der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata Party (BJP) am Samstag den „Fortschritt“ Indiens.

Fortschritt für wen? Welche Barbarei die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Klassenbeziehungen im heutigen Indien kennzeichnet, wurde durch das Massaker im Bundesstaat Tamil Nadu vom 22. Mai offengelegt. Die Polizei eröffnete das Feuer auf eine Demonstration für die Schließung der Kupferhütte in Tuticorin, die das Grundwasser und die Umwelt mit giftigen Chemikalien verseucht.

Das Massaker, bei dem 12 Menschen starben und mehr als 60 verletzt wurden, weist alle Merkmale einer staatlichen Provokation auf. Die Behörden von Tamil Nadu kriminalisierten die Proteste Tage im Voraus und behaupteten, sie stellten eine Bedrohung für die „öffentliche Ordnung“ dar.

Die Regierung hetzte 1.500 Polizisten auf die „illegale“ Demonstration. Als sich die Menge von 20.000 Menschen (weit mehr, als ursprünglich erwartet) zur Wehr setzte, gab die Polizei entgegen ihren eigenen Vorschriften keine Warnschüsse, sondern gezielte Todesschüsse ab. Wie Videos, Augenzeugenberichte und vor allem die Leichen der Opfer belegen, zielten die Scharfschützen der Polizei nicht auf die Beine, sondern auf die Köpfe und Körper der Demonstranten an der Spitze des Zuges.

Während die Menschen in ganz Indien hell empört sind, erklärten das Modi-Regime und die Regierung des Bundesstaats Tamil Nadu den Polizeieinsatz für verhältnismäßig und angemessen. (Die Regierung von Tamil Nadu wird von der Regionalpartei AIADMK gestellt, die eng mit der indischen Regierungspartei BJP zusammenarbeitet.) Zugleich leiteten AIDADMK und BJP weitere Repressionsmaßnahmen in die Wege: Der Zugang zu den sozialen Medien und zum Internet wurde in den drei südlichen Bezirken von Tamil Nadu für fünf Tage unterbrochen, die paramilitärische Central Reserve Police Force wurde für einen möglichen Einsatz in Alarmbereitschaft versetzt, und der Geheimdienst warnte vor ominösen „Linksextremisten“, die den Unmut der Bevölkerung wegen der Ereignisse in Tuticorin ausnutzen wollten, um sie zu Gewalt anzustiften.

Seit der Eröffnung der Kupferhütte 1996 protestieren die Einwohner von Tuticorin und die Fischer im Südosten von Tamil Nadu gegen die Bedrohung durch Schwefeldioxid, Blei, Arsen und andere Giftstoffe. Die Behörden haben sich nicht im Geringsten um diese Beschwerden gekümmert.

Der Staat genehmigte dem Betreiberunternehmen Vedanta und seinem Besitzer, dem milliardenschweren Industriellen Anil Agrawal, den Ausstoß von Schadstoffen, die Krankheit oder Tod für die Anwohner bedeuten und die Perlen- und Fischereibranche an der Küste der gesamten Region schwer in Mitleidenschaft gezogen haben. Auslöser der jüngsten Forderungen nach der Schließung der Hütte war, dass der Staat Vedanta die Genehmigung erteilt hatte, die Produktionskapazität auf 800.000 Tonnen pro Jahr zu verdoppeln, was die Hütte in Tuticorin zur zweitgrößten Kupferschmelze der Welt machen würde.

Um die Wut der Bevölkerung über das Massaker vom Dienstag vergangener Woche zu besänftigen, haben die Regierung und die Gerichte von Tamil Nadu die Hütte nun auf unbestimmte Zeit geschlossen. Medienwirksam gab die Umweltschutzbehörde bekannt, dass sie vom Stromnetz abgeschnitten worden sei.

Allerdings haben der indische Staat und seine führenden Politiker immer wieder unter Beweis gestellt, dass sie Agrawal und den Konzernchefs nahe stehen und Umweltzerstörung und soziales Elend als wohlfeilen „Preis des Fortschritts“ betrachten. Früher oder später werden sie grünes Licht für die Wiedereröffnung des Schmelzofens geben. Es ist nicht die erste Produktionspause, die sie anordnen mussten, weil Vedanta gegen elementare Umweltauflagen verstieß.

Solche Verbrechen an der Gesellschaft sind in ganz Indien allgegenwärtig. In ihrem Bestreben, Indien zu einem globalen Drehkreuz für billige Arbeitskräfte zu machen, verfolgt die indische Bourgeoisie eine Agenda der Privatisierung, Deregulierung und Senkung der Unternehmenssteuern. Haushaltsmittel, die früher in das Gesundheitswesen, die Bildung und Subventionen für die Landwirtschaft flossen, werden in Infrastrukturprojekte für Großunternehmen und die Modernisierung und atomare Aufrüstung der indischen Streitkräfte umgeleitet.

Die wachsende Opposition der indischen Arbeiter wird mit staatlicher Repression beantwortet. Außerdem schüren die Herrschenden Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und fördern das reaktionäre Kastenwesen.

Ein Beispiel ist der Fall der 13 Arbeiter des Autoherstellers Maruti-Suzuki, die wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, nur weil sie sich gegen die brutalen Billiglöhne in Indiens neuen, global vernetzten Industrien zur Wehr gesetzt hatten. Staatsanwälte und Richter haben diese schreiende Klassenjustiz damit begründet, dass ein Exempel statuiert werden müsse, um Investoren zu beruhigen und Modis „Make in India“-Kampagne voranzutreiben, mit der ausländisches Kapital angezogen werden soll.

Nach einem Vierteljahrhundert neoliberaler „Reformen“ ist die soziale Ungleichheit in Indien so groß wie in kaum einem anderen Land der Welt. Während drei Viertel der Inder von weniger als 2 US-Dollar pro Tag leben, reißt das oberste 1 Prozent 23 Prozent des Gesamteinkommens an sich und verfügt über 60 Prozent des Gesamtvermögens.

Diese soziale Polarisierung wird durch die exponentielle Zunahme der Anzahl indischer Milliardäre verdeutlicht. Während es Mitte der 90er Jahre nur zwei indische Milliardäre gab, sind es heute laut Forbes 131. Indien, dessen Bruttoinlandsprodukt etwas größer ist als dasjenige Kanadas, weist also die weltweit drittgrößte Zahl an Milliardären auf, mehr als Deutschland, Großbritannien und Russland.

Die Modi-Regierung verkörpert diese Ausplünderung der Gesellschaft. Sie verbindet Huldigung für den kapitalistischen Markt und persönliche Bereicherung mit giftigem Chauvinismus.

Indiens Konzernelite brachte Modi und seine BJP im Mai 2014 an die Macht, um den Angriff auf die Arbeiterklasse zu intensivieren und die Großmachtambitionen der indischen Bourgeoisie aggressiver zu verfolgen. Angeführt wurde diese Operation von keinem Geringeren als dem reichsten Milliardär des Landes, Mukesh Ambani. Seither hat die BJP-Regierung die investorenfreundlichen „Reformen“ vorangetrieben, die ohnehin lächerlichen Sozialausgaben Indiens weiter zusammengestrichen und sich für die militärisch-strategische Offensive Washingtons gegen China zur Verfügung gestellt.

Während die große Masse der indischen Bevölkerung von den Vorteilen der kapitalistischen Entwicklung Indiens ausgeschlossen wurde, ist zugleich eine neue und zunehmend rebellische Arbeiterklasse entstanden.

Der südindische Bundesstaat Tamil Nadu hat in den letzten zwei Jahrzehnten die schnellste Urbanisierung Indiens erlebt und sich nicht zufällig zu einem Zentrum der sozialen Opposition entwickelt. Nach Angaben des staatlichen Amts für polizeiliche Forschung und Entwicklung gab es 2016 (dem letzten Jahr, für das solche Statistiken vorliegen) in Tamil Nadu von allen indischen Bundesstaaten die zweithöchste Anzahl an Protesten, seien es Streiks, Demonstrationen oder Veranstaltungen gegen die Regierung, nämlich durchschnittlich 47 pro Tag.

Während die BJP und die Unternehmenselite den „Aufstieg“ Indiens feiern, ist das Land in Wirklichkeit ein soziales Pulverfass, das durch die wirtschaftlichen und geopolitischen Schocks, die vom Zusammenbruch des Weltkapitalismus ausgehen, zunehmend destabilisiert wird.

Dass der Zorn der Massen noch nicht zu einer bewussten politische Kampfansage gegen das Modi-Regime und die indische Bourgeoisie geführt hat, liegt hauptsächlich am Verrat der stalinistischen Parlamentsparteien – der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) und ihres älteren, kleineren Verbündeten, der Kommunistischen Partei Indiens bzw. CPI, sowie deren Gewerkschaften, der CITU und der AITUC.

Seit Jahrzehnten sind die Stalinisten integraler Bestandteil des bürgerlichen Establishments und die wichtigste gesellschaftliche Stütze der indischen Bourgeoisie. Die BJP kam an die Macht, indem sie die Wut der Bevölkerung über Massenarbeitslosigkeit und chronische Armut ausnutzte. Aber die Stalinisten ebneten ihr den Weg, indem sie eine Abfolge von Regierungen – die meisten unter Führung der Kongress-Partei – unterstützten, die neoliberale „Reformen“ einleiteten und engere Beziehungen zu Washington anknüpften. Außerdem führten die Stalinisten in den Bundesstaaten, in denen sie die Regierung stellen, ihre sogenannte „Pro-Investor-Politik“ durch.

Auf die Verschärfung des Klassenkampfs haben die Stalinisten mit einem weiteren Rechtsruck reagiert. Im Namen des Widerstands gegen die BJP verweisen sie die Arbeiterklasse an die verrotteten „demokratischen“ Institutionen des indischen Staates – dieselben Institutionen, die für das Massaker vom 22. Mai und die Verfolgung der Maruti-Suzuki-Arbeiter verantwortlich sind. Sie unterstützen außerdem die Kongresspartei, bis vor Kurzem die bevorzugte Regierungspartei der indischen Bourgeoisie, sowie eine Vielzahl von rechtsgerichteten Parteien, die auf bestimmte Regionen ausgerichtet sind und das Kastenwesen propagieren.

Besonders deutlich wird die Haltung der Stalinisten gegenüber der Arbeiterklasse an ihrer Feindseligkeit gegenüber den verleumdeten Maruti-Suzuki-Arbeitern. Obwohl die Unternehmer Indiens ihren Belegschaften routinemäßig mit „Maruti-Suzuki“ drohen, behandeln die Stalinisten diese Klassenkriegsgefangenen wie die südindischen Parias des 19. Jahrhunderts. Sie weigern sich, ihren Fall bekannt zu machen, geschweige denn die Arbeiterklasse für ihre Freilassung zu mobilisieren. Sie wissen genau, dass eine Kampagne, die die Verteidigung der Maruti-Suzuki-Arbeiter mit dem Kampf gegen Armutslöhne und prekäre Beschäftigung verbindet, ihr Bündnis mit der Kongresspartei und das korporatistische Kungeln ihrer Gewerkschaften mit dem Großkapital sprengen würde.

In Indien, wie überall auf der Welt, besteht die dringendste Aufgabe darin, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse herzustellen, damit sie ein eigenes Programm gegen soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Krieg aufstellen und die Armen in Stadt und Land für den Kampf um Arbeitermacht und Sozialismus gewinnen kann. Die zentrale Aufgabe bei der Umsetzung dieser Perspektive ist der Aufbau einer neuen politischen Führung der Arbeiterklasse in Form einer Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Indien.

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