Perspektive

Ein Jahr seit dem Grenfell-Inferno

Vor einem Jahr kostete der schlimmste Hochhausbrand der britischen Geschichte im Grenfell Tower 72 Menschen das Leben.

Was in den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2017 geschah, war sozialer Mord. Dieser Begriff wurde erstmals von Friedrich Engels in seiner berühmten Studie Die Lage der arbeitenden Klasse in England geprägt. Zu Beginn des industriellen Kapitalismus erklärte er 1845: „Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, dass sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen … und doch diese Bedingungen bestehen lässt - so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen“.

Engels' Anklage gegen ein ganzes Gesellschaftssystem – den Kapitalismus – ist heute so aktuell wie vor 150 Jahren.

Denn sie spricht für die gemeinsame Erfahrung der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt. Von vergiftetem Wasser in der amerikanischen Stadt Flint in Michigan, über einstürzende Müllhalden und Schlammlawinen in Colombo und Sierra Leone, die viele Menschen getötet haben, bis hin zu einem völlig vermeidbaren Hochhausinferno in London, einer der reichsten Städte der Welt – das Leben von arbeitenden Menschen wird von einer parasitären Finanzoligarchie, die jeden Aspekt des sozialen und wirtschaftlichen Lebens der eigenen Bereicherung unterordnet, als entbehrlich angesehen.

Grenfell war ein direktes Ergebnis der Deregulierungspolitik, die von aufeinanderfolgenden Regierungen, sowohl unter der Labour Party als auch unter den Konservativen, durchgeführt wurde.

Von Margaret Thatchers programmatischem Ausspruch „Es gibt keine Gesellschaft“, über das Beharren der Blair-Regierung darauf, dass sie „auf Menschen, die sich schmutzig bereichern, überaus gelassen“ reagiere, bis hin zu David Camerons Versprechen, der „Bürde, die britischen Unternehmen durch exzessive Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen auferlegt“ sei, „den Garaus zu machen“: Die Lebensstandards und Lebensbedingungen der Arbeiter wurden ausgeweidet, um die Bankkonten der großen Konzerne und der Superreichen zu füllen.

Diese Offensive gegen die Arbeiterklasse fand ihren bösartigen Ausdruck im Royal Borough of Kensington and Chelsea (RBKC), in Londons reichstem Wahlkreis.

Um Geld zu sparen und gleichzeitig dessen Äußeres zu verschönern, wurde der Grenfell Tower mit einer leicht entflammbaren Isolierung und Verkleidung versehen, die ihn in eine Todesfalle verwandelten. Das Innere des Gebäudes war kein bisschen sicherer. Es gab keine zentrale Brandmeldeanlage, keine Sprinkleranlage und lediglich ein einziges schmales Treppenhaus als Fluchtmöglichkeit. So breitete sich innerhalb weniger Minuten ein kleiner Brand in einer einzigen Wohnung über das vierte Stockwerk aus und verschlang das gesamte 24-stöckige Gebäude. Die Feuerwehrleute versuchten verzweifelt, den Brand einzudämmen.

Die überlebenden Bewohner des Grenfell Tower und der Umgebung wurden von den Behörden im Stich gelassen, viele hatten nur dank der selbstlosen Bemühungen der Anwohner Zugang zu Essen, Unterkunft und Kleidung. Die Regierung räumt ein, dass 69 Haushalte noch immer in provisorischen Unterkünften untergebracht sind. Gleichzeitig drohte Berichten zufolge die Stadtverwaltung 74 Haushalten damit, dass sie nun in die Wohnungen zurückkehren müssten, aus denen sie geflohen sind, oder andernfalls mit Obdachlosigkeit auf unbestimmte Zeit und dem Verlust ihrer Rechte als Mieter konfrontiert sind.

Nach dem Brand forderten Überlebende, deren Angehörigen und andere, dass die verantwortlichen Politiker und Unternehmen vor Gericht gestellt werden, wodurch sich Premierministerin Theresa May zur Ankündigung einer „vollständigen und unabhängigen öffentlichen Untersuchung“ gezwungen sah, die „bis spätestens zum Ende des Sommers einen Zwischenbericht erstellen“ solle. Es müsse sichergestellt werden, „dass diese Tragödie vollständig untersucht wird.“

Die Socialist Equality Party warnte: „Nichts dergleichen wird jemals passieren. Wie bei jeder öffentlichen Untersuchung, die auf Initiative der herrschenden Elite zustande kommt, wird sie mit Schönfärberei enden.“

Fast ein Jahr später hat die öffentliche Untersuchung, die von einem Vertreter des Establishments, Sir Martin Moore-Bick, geleitet wird, nichts gebracht. Ihr Ziel besteht nicht darin, die Wahrheit zu enthüllen, sondern sie zu verschleiern; nicht darin, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern die Kriminellen in der Zentral- und Kommunalverwaltung sowie in den Unternehmen zu schützen, die die „Renovierung“ von Grenfell vereinbart haben.

Dieses Ziel wird durch den Inquiries Act (Untersuchungsgesetz) von 2005 klargestellt. Darin heißt es: „Ein Untersuchungsausschuss hat nicht über die zivil- oder strafrechtliche Haftung einer Person zu befinden und keine Befugnis, diese zu bestimmen“. Moore-Bick selbst hat im Einvernehmen mit May empfohlen, dass Fragen „sozialer, wirtschaftlicher und politischer Natur“ nicht behandelt werden sollten.

Sozialer Mord ist mit Klassenungerechtigkeit eng verbunden.

Während man bei der Verfolgung von einer Handvoll Personen, die betrügerische Behauptungen im Zusammenhang mit dem Brand im Grenfell Tower aufgestellt haben, keine Zeit verstreichen ließ, hat die Kriminalpolizei bei der Untersuchung des Infernos, das zum Tod von 72 Menschen geführt hat, nicht eine einzige Person festgenommen, von einer Anklage ganz zu schweigen!

Um diesem Schlag ins Gesicht noch die Krone aufzusetzen, wurde bei der Eröffnung der Untersuchung angekündigt, dass die Metropolitan Police die Londoner Feuerwehr wegen möglicher Straftaten ins Visier nehmen werde, da diese die Mieter des Gebäudes anwies, in ihren Wohnungen zu bleiben. Kein Wort darüber, dass sich der Ratschlag deshalb als so katastrophal erwies, weil gleich „mehrfache“ Sicherheitsmängel das Gebäude zu einer „hochentzündlichen Todesfalle“ machten, wie ein Anwalt der Gewerkschaft der Feuerwehren erklärte. Die Feuerwehrleute seien dadurch in eine "unmögliche Situation" gebracht worden.

Die Weigerung der herrschenden Elite, die wahren Kriminellen zu verfolgen, die sich der Gräueltat von Grenfell schuldig gemacht haben, steht zudem in krassem Gegensatz zu ihrer Entschlossenheit, jeden zum Schweigen zu bringen, der für die Wahrheit über die Ereignisse kämpft.

Hysterische Hexenjagden wurden von den rechten Medien gegen Joe Delaney und Edward Daffarn veranstaltet, die beide der Grenfell Action Group angehören. Die Gruppe warnte vor der Gefahr eines „katastrophalen“ Brandes, die sich aus der Politik des Stadtrats und seiner Gebäudeverwaltung ergab. Delaney, der in unmittelbarer Nachbarschaft des Grenfell Tower lebte, kämpfte jahrelang für die Rechte der lokalen Mieter auf anständige und sichere Wohnungen. Daffarn entkam aus seiner Wohnung im 16. Stock des Hochhauses.

Unter denjenigen, die an den Pranger gestellt wurden, war auch der Filmemacher Daniel Renwick und der Anwohner Ishmael, deren Verbrechen darin bestand, einen ehrlichen und wahrheitsgetreuen Film über Grenfell zu drehen – Failed by the State.

Nichts daran ist zufällig. Der Höhepunkt dieser Kampagne zur Unterdrückung der Wahrheit ist der anhaltende und grausame Versuch, Julian Assange zum Schweigen zu bringen. Der Gründer und Herausgeber von WikiLeaks ist nun seit sechs Jahren in der ecuadorianischen Botschaft gefangen, die weniger als fünf Kilometer von Grenfell entfernt liegt. Assange droht die Verhaftung und Deportation in die USA, um dort wegen Spionage vor Gericht gestellt zu werden, weil er die Kriegsverbrechen von Washington und London aufgedeckt hat.

Derweil geht es weiter wie bisher. Die Reichen werden reicher, während aus den Arbeitern jeder Cent gepresst wird. Moore-Bicks Untersuchung hatte kaum begonnen, als Prinz Harry und Meghan Markle in ihr „Cottage“ auf dem Gelände des Kensington Palace zurückkehrten, das nur wenige Kilometer von Grenfell entfernt liegt. Rund 30 Millionen Pfund an Steuergeldern wurden für ihre Hochzeit verschwendet. Allein das Kleid der Braut kostete Berichten zufolge 300.000 Pfund – die gleiche Summe, die durch die Verwendung billiger, brennbarer Verkleidung am Grenfell Tower eingespart wurden.

Die geldgierige und soziopathische herrschende Klasse jedes Land ist vollkommen unfähig, etwas anderes auf die Tagesordnung zu setzen als die weitere Übertragung von Reichtum in die Hände der Superreichen und die Vorbereitung von Kriegen, die die Menschheit mit der Vernichtung bedrohen.

Um die sozialen Ressourcen für die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung freizusetzen, ist es notwendig, den Würgegriff der Finanzaristokratie und ihrer politischen Vertreter zu brechen und die Gesellschaft auf sozialistischer Grundlagen neu zu organisieren. Das ist die Perspektive der Socialist Equality Party.

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