Deutsche Autoindustrie steht vor gewaltigen Erschütterungen

Die deutschen Automobilhersteller stehen vor gewaltigen Erschütterungen und einem tiefgreifenden Umbruch, der Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Arbeitsplätze bedroht. Lange galt die Autoindustrie als Vorzeigemodell und Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Doch mit dem Ausbruch wirtschaftlicher Konflikte, insbesondere zwischen den USA und Europa, geraten die deutschen Hersteller gleichzeitig an mehreren Fronten unter Beschuss.

Sollte US-Präsident Donald Trump Strafzölle auf deutsche Autos erheben, würde das die hiesigen Hersteller Milliarden kosten und einen Handelskrieg in Gang setzen. Die negativen Auswirkungen des Diesel-Abgasbetrugs bei Volkswagen weiten sich auch drei Jahre nach seiner Entdeckung weiter aus und haben mittlerweile auch Audi, Porsche und Daimler erfasst. Gleichzeitig bedroht die Umstellung von Verbrennungs- auf Elektromotoren Zehntausende Arbeitsplätze.

Am Montagmorgen ließ die Staatsanwaltschaft München den Vorstandschef von Audi, Rupert Stadler, festnehmen. Es handelt sich bereits um den dritten Top-Manager einer VW-Tochter, der in Deutschland im Gefängnis sitzt. Mitte April war in Stuttgart ein leitender Porsche-Mitarbeiter verhaftet worden, weil er während einer Razzia einen Assistenten angewiesen haben soll, bestimmte Unterlagen beiseite zu schaffen. Der frühere Audi-Manager und spätere Porsche-Vorstand Wolfgang Hatz sitzt seit knapp einem Dreivierteljahr wegen des Vorwurfs der Verdunkelung in München in Untersuchungshaft.

Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik aber einmalig, dass mit Stadler der amtierende Chef eines Großkonzerns mit 60 Milliarden Euro Umsatz und weltweit 90.000 Beschäftigten eingesperrt wird.

Die Staatsanwaltschaft verdächtigt Stadler des Betrugs. Sie wirft ihm vor, er habe ab Ende 2015 bewusst in Kauf genommen, dass Audi-Diesel-Fahrzeuge mit überhöhten, gesundheitsschädlichen Schadstoffwerten hergestellt und verkauft wurden, obwohl er Hinweise gehabt habe, dass ihr Abgassystem manipuliert sei. Damit habe er die Kunden getäuscht und betrogen. Die Premiummarke Audi ist das technische Entwicklungszentrum des VW-Konzerns und gilt damit als Urheber der betrügerischen Software.

Eine Woche vor Stadlers Verhaftung hatten Ermittler sein Haus in Ingolstadt durchsucht und vor und nach der Razzia sein Telefon abgehört. Dabei hatte sich offenbar der Verdacht ergeben, dass der Audi-Chef mögliche Zeugen oder Mitbeschuldigte beeinflussen und so die Ermittlungen behindern wolle. Dieser Vertuschungsvorwurf ist der Grund für seine Festnahme.

Strafrechtliche Ermittlungen laufen auch gegen den Vorstandschef des VW-Gesamtkonzerns Herbert Diess und Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch. Hier ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen des Verdachts der Marktmanipulation.

Letzten Mittwoch hatte die Staatsanwaltschaft Braunschweig den VW-Konzern zur Zahlung eines Bußgeldes in Höhe von einer Milliarde Euro aufgefordert. Das sei „eine der höchsten Geldbußen, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland einem Unternehmen auferlegt worden ist“, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Weil VW damit aber dennoch relativ gut weggekommen ist, willigte der Konzern in die Zahlung ein.

Die Braunschweiger Staatsanwälte haben die Vergehen VWs als Ordnungswidrigkeit eingestuft. Der Autokonzern habe seine Aufsichtspflichten verletzt, so dass von Mitte 2007 bis 2015 insgesamt 10,7 Millionen Diesel-Fahrzeuge mit „einer unzulässigen Softwarefunktion“ in den Verkehr gebracht worden seien.

VW hofft, dass sich die Anerkennung des Bußgeldes positiv auf weitere Verfahren in Deutschland und Europa auswirkt. So wird in Braunschweig ein weiteres Verfahren geführt, in dem Anleger Schadensersatz für Kursverluste ihrer VW-Aktien fordern. In Stuttgart verlangen Anleger der Eigentümergesellschaft Porsche SE, die über die Hälfte der VW-Stammaktien hält, ebenfalls Schadensersatz. Zudem gibt es zahlreiche Klagen von Autobesitzern, die ihre Fahrzeuge zurückgeben wollen.

Anfang letzter Woche hatte sich der Diesel-Betrugsskandal auch auf den Daimler-Konzern ausgeweitet. Entgegen den ständigen Behauptungen von Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche, der seit drei Jahren gebetsmühlenartig wiederholt, Daimler habe weder manipuliert noch betrogen, hat offensichtlich auch sein Konzern eine ähnliche Software wie VW verbaut, um die Abgaswerte in den Tests zu manipulieren.

Nach einem Treffen mit Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) am Montag wurde bekannt, dass der Konzern 774.000 Autos in Europa umrüsten muss, davon 238.000 in Deutschland. Modelle des Transporters Vito, des SUV-Modells GLC und der Limousinen der C-Klasse enthalten aus Sicht des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) nicht genehmigte Abschalteinrichtungen der Abgasanlagen.

Die Bundesregierung tat bisher alles, um die Autokonzerne zu schützen, sieht sich aber aus gesamtwirtschaftlichen Gründen gezwungen, den Autokonzernen nun zu diktieren, den Diesel-Skandal durch Umrüstungen schnellstens ad acta zu legen. „Die Manipulationen beschädigten die Marke ‚Made in Germany‘,“ zitierte die Süddeutsche Zeitung ein Regierungsmitglied.

Die Anordnung der Rückrufaktion durch die Bundesregierung setzt Daimler auch in den USA unter Druck. Dort wird es schwierig werden, die Behauptung aufrecht zu erhalten, die Daimler-Fahrzeuge hätten keine betrügerische Abgas-Software verbaut. Daimler hatte bereits im Februar seine Rückstellungen „für rechtliche Risiken“ um 1,2 Milliarden Euro auf insgesamt 17,2 Milliarden Euro erhöht.

Zu den Kosten des Diesel-Betrugs kommt nun auch noch ein neues Testverfahren für benzingetriebene Fahrzeuge, das die Autokonzerne unter Druck setzt. Auf Anordnung der EU-Kommission müssen ab September Spritverbrauch und damit Kohlendioxidausstoß (CO2) per „Worldwide Harmonized Light-Duty Vehicle Procedure“, kurz WLTP, nachgewiesen werden. Beim bisherigen sogenannten NEFZ-Prüfzyklus konnten die Autobauer ganz legal tricksen. Die damit ermittelten Werte hatten mit der Realität nichts zu tun.

WLTP soll den Kraftstoff- und damit den CO2-Verbrauch etwas realistischer – wenn auch nicht real – angeben. Daher lassen die Hersteller ihre Wagen rund um die Uhr in den Prüfständen messen. VW kommt nicht nach, so dass VW-Chef Herbert Diess letzte Woche angekündigt hat, die Produktion in einigen Fabriken tageweise einzustellen, weil man mit den Messungen nicht nachkomme.

Die Autohersteller wussten bereits seit mehreren Jahren, dass die Messmethode umgestellt wird, aber sie hatten sich auf die nationalen Regierungen und die EU-Kommission verlassen, die den Autokonzernen bislang beinahe alles hatte durchgehen lassen. Das gleiche gilt für eine weitere Verschärfung bei Abgas-Grenzwerten. Für Benzinmotoren gilt ebenfalls ab Herbst ein neuer Feinstaub-Grenzwert, der nur zu erreichen ist, wenn ein Filter eingebaut wird. Die Autohersteller sind im Verzug, diese Filter zu entwickeln, einzubauen und zu testen. Mehrere deutsche Hersteller haben deshalb den Verkauf einiger Modelle stoppen müssen, BMW beispielsweise die Benziner-Modelle der 7er-Reihe.

Die erhöhten Werte nach dem neuen WLTP-Verfahren wirken sich wiederum auf die Vorgabe der EU aus, den CO2-Ausstoß zu verringern. Um die von der EU vorgegebenen so genannten Flottenwerte (der CO2-Ausstoß aller Modelle eines Herstellers darf einen bestimmten Grenzwert nicht übersteigen) in den nächsten Jahren zu erreichen und so milliardenschwere Strafzahlungen zu vermeiden, müssen die Autoproduzenten dringend mehr Elektro-Autos anbieten.

Alle Hersteller arbeiten daher fieberhaft an ihrer „Elektromobilitäts-Offensive“. Doch – man ahnt es schon – auch hier haben die deutschen Hersteller aufgrund ihrer bisherigen unangefochtenen wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft die Entwicklung verzögert.

Dass VW und andere Hersteller auf den Diesel-Motor als „saubere“ Alternative setzten, zu kriminellen Betrugsmethoden griffen, als dies nicht einzuhalten war, und damit Hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel setzten, bezeugt einmal mehr die dreiste und verantwortungslose Haltung der Multimillionäre in den Vorstandsetagen und Aufsichtsräten der Autohersteller. Bis heute tun sie sich schwer, sich von ihren fossilen Verbrennungsmotoren zu trennen. Nur halbherzig verfolgen die deutschen Hersteller den Aufbau einer Massenproduktion von Elektro-Autos.

Diese sollen aber angeblich der deutschen Autoindustrie wieder zu alter Größe verhelfen. Auf die Umwälzung hin zu den Elektro-Antrieben seien die Unternehmen vorbereitet, erklärte der Verband der Automobilindustrie (VDA).

Die Umstellung auf E-Autos könnte laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) Zigtausende Jobs kosten. Die von der Autoindustrie und der IG Metall angestoßene Aktualisierung einer bereits 2012 erfolgten Studie kommt zum Schluss, dass selbst in einem günstigen Szenario 100.000 von derzeit 800.000 Arbeitsplätzen in der deutschen Autoindustrie verloren gehen, aber nur 25.000 neue entstehen.

Dies würde vor allem die derzeit 210.000 Arbeiter in der Antriebstechnik treffen. Laut VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh hat ein Elektroantrieb nur ein Sechstel so viele Teile wie ein Benzin- oder Dieselantrieb und ein Elektro-Auto erfordert ein Drittel weniger Arbeitszeit. Aber auch andere Branchen, wie Stahlhersteller oder Maschinenbauer, würden getroffen.

Bosch-Konzernbetriebsrat Hartwig Geisel hat darauf hingewiesen, dass im saarländischen Homburg und im fränkischen Bamberg 13.000 Beschäftigte nahezu ausschließlich Teile für Verbrennungsmotoren bauen: „Da wird die Luft extrem dünn.“

Alle Berechnungen der IG Metall und der Konzerne sind Makulatur, wenn US-Präsident Trump Strafzölle auf deutsche Autos erlässt.

Als VW im September 2015 gegenüber den US-Behörden zugeben musste, eine illegale Software zur Abgasmanipulation eingebaut zu haben, trug das Vorgehen der amerikanischen Behörden unter Präsident Barack Obama bereits Züge eines heraufziehenden Handelskriegs. Insgesamt musste VW in den USA rund 25 Milliarden an Strafen zahlen.

Nun twitterte Trump nach dem jüngsten G-7-Gipfel: „Wir werden uns Zölle auf Autos anschauen, die den US-Markt fluten.“ Seit Monaten droht er mit der Verzehnfachung der Zölle auf 25 Prozent.

Die USA, nach China der zweitgrößte Automarkt der Welt, sind für deutsche Hersteller das wichtigste Auto-Exportland. 2017 verkauften sie dort 1,35 Millionen Neuwagen. „Kein Land hätte höhere absolute Verluste durch einen solchen Zoll zu befürchten als Deutschland“, sagte Gabriel Felbermayr, Leiter des Zentrums für Außenhandel am Münchener Ifo-Institut.

Zwar haben die großen Autohersteller wie Daimler und VW in den USA selbst große Werke. BMW hat sogar sein weltweit größtes Werk in Spartanburg im US-Bundesstaat South Carolina und ist der größte Auto-Exporteur der USA. Doch höhere Zölle – auch auf Auto-Komponenten – würden für alle Autohersteller höhere Kosten bedeuten und den Absatz auf dem wichtigen Markt schmälern.

Leidtragende wären Hunderttausende Autoarbeiter, die den Handelskrieg mit ihren Arbeitsplätzen und -bedingungen bezahlen. Die IG Metall hatte bei VW bereits im November 2016 im Zuge des Diesel-Betrugs den so genannten Zukunftspakt geschlossen, dem 30.000 Arbeitsplätze zum Opfer fallen.

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