Nach Italiens Veto-Drohung: EU unterstützt Deal gegen Immigranten

In den frühen Morgenstunden des gestrigen Freitags, 29. Juni, einigten sich die Unterhändler beim EU-Gipfeltreffen in Brüssel auf eine gemeinsame Haltung zur Flüchtlingskrise. Zuvor hatte Italien die ungewöhnliche Drohung ausgesprochen, sein Veto gegen ein gemeinsames Statement einzulegen und den Gipfel damit zum Scheitern zu bringen. Die Übereinkunft läuft darauf hinaus, dass die EU die flüchtlingsfeindlichen Forderungen der rechtsextremen Regierungen in Italien, Österreich und mehreren osteuropäischen Ländern weitgehend übernimmt.

Berichten zufolge sieht die Übereinkunft vor, dass von der EU Internierungslager für Flüchtlinge in der Türkei und Nordafrika finanziert, geschlossene Haftlager in Europa für Asylbewerber gebaut und im Bereich von Fluchtrouten weitere Lager, so genannte „regionale Ausschiffungsplattformen“ errichten werden. Auch will die EU die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen zwischen ihren Staaten abschaffen. Als letzten Punkt sieht der Plan eine Änderung des so genannten Dublin-Verfahrens vor, laut dem die Flüchtlinge ihr Asyl-Verfahren im Erstankunftsland durchlaufen müssen.

Alle Einzelheiten des Plans sind noch unklar: Zum Beispiel, wo und mit welchem Geld die Gefangenenlager gebaut werden sollen, wie man innereuropäische Grenzübertritte von Flüchtlingen verhindern will und auf welche Weise die Dubliner Übereinkunft abgeändert werden soll. Klar ist nur, dass die Polizeistaatsmaßnahmen und die Angriffe auf demokratische Grundrechte in Europa drakonisch verschärft werden.

Dennoch haben alle EU-Vertreter das Abkommen begrüßt, wobei Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, es sei „noch viel zu tun, um die verschiedenen Sichtweisen zu überbrücken“.

Der französische Präsident Emmanuel Macron twitterte: „Einigung zur Migration erzielt: europäische Herangehensweise bestätigt, vollständige Agenda festgelegt (externes Handeln, Grenzschutz, Verantwortung für europäische Solidarität). Französische Vorschläge wurden angenommen.“

Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte konstatierte befriedigt, dass der Deal der EU den Kurs seiner Regierung übernommen habe: „Wir sind zufrieden. Es waren lange Verhandlungen, aber ab heute steht Italien nicht mehr alleine da.“

Drohend deutete Conte an, seine Regierung werde den Bau von geschlossenen EU-Haftzentren auf seinem Boden nicht erlauben. Der Grund ist, dass laut EU-Plan die Flüchtlinge in diesen Gefangenenlagern theoretisch Asyl beantragen könnten. Conte sagte über den Bau dieser Lager: „Wir werden diese Entscheidung zusammen mit der Regierung fällen. Dabei werden wir uns nicht unter Druck setzen lassen.“

EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte im Vorfeld des Gipfels eine Einladung verschickt, in der er stolz erklärte, die Politik der EU habe den Zustrom von Migranten gegenüber 2015 um 96 Prozent gesenkt. Tusk schlug nicht nur die Ausweitung von Haftlagern in Libyen und ganz Nordafrika und eine verstärkte Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache gegen Flüchtlingsboote vor, sondern forderte auch zusätzliche Mittel für ein hartes Durchgreifen gegen Flüchtlinge. In seinem Brief forderte er: „Im nächsten mehrjährigen EU-Haushalt sind designierte Mittel für den Kampf gegen illegale Migration zu schaffen“, wobei die Rede von sechs Milliarden Euro sein soll.

Angesichts des wachsenden Widerstandes in der Öffentlichkeit verteidigte Tusk den Bau von Massenlagern und die Abschaffung des Asylrechts: „Jede politische Autorität hat die Aufgabe, das Gesetz durchzusetzen, ihre Gebiete und Grenzen zu schützen. Schließlich wurde der Grenzschutz extra dazu gegründet: um die Grenzen zu schützen.“

Tusk argumentierte in Orwellscher Weise, die Übernahme von rechtsextremer Politik gegen Migranten sei von entscheidender Bedeutung, um demokratische Herrschaftsformen gegen die Rechtsextremen zu schützen. Er sagte: „Es gibt in Europa und weltweit Stimmen, die behaupten, unsere Ineffizienz beim Schutz der Außengrenzen sei eine inhärente Eigenschaft der Europäischen Union oder, allgemeiner, der liberalen Demokratie.“

Nicht verwunderlich, stärkte Tusks reaktionäre Haltung gegen Flüchtlinge und sein heuchlerisches Gerede von „liberaler Demokratie“ nur die Befürworter weit brutalerer Maßnahmen gegen Migranten.

Am Donnerstag drohte Conte damit, gegen die EU-Abschlusserklärung das Veto Italiens einzulegen. Dabei handelt es sich ebenfalls um ein reaktionäres Dokument, das die militärische Aufrüstung der EU beschleunigt, die amerikanischen Handelszölle gegen EU-Exporte verurteilt und die Vergeltungszölle gegen amerikanische Exporte nach Europa befürwortet. Conte erklärte: „Falls wir uns diesmal nicht die Zusammenarbeit der anderen europäischen Staaten sichern können, dann werden wir den Gipfel beenden, ohne gemeinsame Beschlüsse zu unterstützen (...) Einen faulen Kompromiss werden wir nicht akzeptieren. Italien hat immer seinen guten Willen gezeigt.“

Dieses Ergebnis bestätigt die Warnungen der WSWS im Vorfeld des Gipfels über die reaktionäre Rolle der EU. Wir hatten geschrieben: „Moralische Appelle an die eine oder andere Fraktion der herrschenden Elite, die allesamt die Verfolgung der Flüchtlinge unterstützen, sind keine Lösung (…) Diese faschistoide Offensive kann nur durch die unabhängige, internationale Mobilisierung der Arbeiterklasse im Kampf für ein sozialistisches und Anti-Kriegs-Programm abgewehrt werden.“

Bei den erbitterten Konflikten innerhalb der EU geht es nicht darum, ob Flüchtlinge verfolgt werden sollen oder nicht. Nach den umfangreichen Berichten der UN und von Menschenrechtsorganisationen ist in den herrschenden Kreise Europas allgemein bekannt, dass sie Milliarden Euro in Gefangenenlager wie in Libyen investieren, in denen Flüchtlinge vergewaltigt, versklavt und ermordet werden. Die Konflikte in den herrschenden Kreisen Europas werden von erbitterten inner-imperialistischen Rivalitäten um Geld und strategische Vorteile angetrieben.

Die Financial Times erklärte, die Regierung in Rom werde möglicherweise die Aufhebung des Verbots von Krediten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) an Russland vorschlagen. Diese sind momentan illegal, weil die EU auf Geheiß von Washington und Berlin Sanktionen gegen Russland verhängt hat.

Italien pflegt enge wirtschaftliche Beziehungen mit Russland, vor allem in der Energiebranche. Schon während der Verhandlungen über die Regierungsbildung schrieben die rechtsextreme Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), dass sie die Sanktionen abschaffen würden. Lega-Chef Matteo Salvini bezeichnete sie als „Wahnsinn gegen einen freundschaftlichen, benachbarten Markt“. In den russischen Medien hieß es, französische Regierungsvertreter würden gemeinsam mit der italienischen Regierung Druck auf Berlin ausüben, um die EU-Sanktionen aufzuheben.

Die US-amerikanische Regierung reagierte darauf mit einer nachdrücklichen Warnung. Am 16. April erklärte der amerikanische Abgesandte in der Ukraine, Kurt Volker, der italienischen Tageszeitung La Stampa: „Die EU hat sich auf den Rahmen und den Inhalt der Sanktionen geeinigt. Würde Italien sich nicht daran halten, hätte es zuerst ein Problem mit Brüssel. Das stimmt mich trotz der Position der Lega optimistisch, denn Italien kann diese Maßnahme praktisch nicht ohne schwerwiegende Folgen ergreifen.“ Und Volker wiederholte gegenüber La Stampa: „Italien kann die Sanktionen gegen Russland nicht ohne schwerwiegende Folgen aufheben.“

Einige finanzielle und strategische Streitfragen zeigten sich in Brüssel am Donnerstag in den Fragen des italienischen Journalisten Giuseppe di Vittorio an den EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani. Di Vittorio fragte: „Werden die sechs Milliarden Euro an Italien gehen? (…) Werden die Franzosen oder andere Geld bekommen, oder wird Geld an Mali, den Tschad oder den Sudan gehen? Wo geht das Geld hin?“

Er stellte Tajani auch Fragen nach dem Handelsbilanzüberschuss Deutschlands, gegen den Italien protestiert hatte, sowie nach den Defiziten der andern Länder. Frankreich hatte ja vorgeschlagen, dass die EU-Mächte Gelder für die Bankenrettung im Falle eines neuen Finanzcrashs bereitstellen müssten. Di Vittorio fragte: „Da wären noch die Defizite in einigen Ländern und der deutsche Überschuss. Sie haben von einem Europäischen Währungsfonds gesprochen. Aber würde Italien dem zustimmen, da es ja momentan sehr damit beschäftigt ist, seine Schulden umzustrukturieren?“

Tajani antwortete di Vittorio nur nebulös, aber es besteht kaum ein Zweifel, dass in den herrschenden Kreisen Europas die Debatte über die Verteilung der Milliarden Euro für immigrantenfeindliche Maßnahmen weiter tobt.

Indessen ist eins sonnenklar: Der Kampf gegen die Verfolgung der Flüchtlinge und die drakonische Verschärfung der Polizeistaats- und Austeritätsmaßnahmen kann nicht innerhalb des reaktionären Rahmens der EU stattfinden. Er erfordert einen unabhängigen Kampf der europäischen Arbeiterklasse gegen alle Fraktionen der herrschenden Elite.

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