Die #MeToo-Bewegung und die Anklagen gegen Charlie Chaplin: Wie und warum das amerikanische Establishment Sexskandale erfindet

Der Komiker und Regisseur Charlie Chaplin war in den 1920er Jahren und darüber hinaus die weltweit führende Filmpersönlichkeit und galt manchem als der beliebteste Mann der Welt. In einer Epoche, in der zahlreiche Giganten dieses Genres am Werk waren, bezeichnete ihn ein Zeitgenosse als „zweifellos das einzige Komiker-Genie unserer Zeit“, und fügte hinzu: „Er wird der Einzige sein, über den man noch länger als hundert Jahre sprechen wird.“ Letzteres mag sich als etwas übertrieben erwiesen haben (an andere, darunter Buster Keaton, erinnert man sich ebenfalls noch), aber die Aussage ist klar.

Aufgrund einer in Armut verbrachten und oft bedrückenden Kindheit im Süden Londons entwickelte Chaplin allgemein linke Ansichten. Er sympathisierte mit der Russischen Revolution und wurde in den 1930er Jahren (nachdem er 1913 in die USA gezogen war) zu einem der führenden „Freunde der Sowjetunion“ in der amerikanischen Filmindustrie. Bereits 1922 wurden J. Edgar Hoover und das Bureau of Investigation des Justizministeriums (seit 1935 offiziell FBI genannt) auf ihn aufmerksam. Chaplins sozialkritische Filme Moderne Zeiten (1936), Der große Diktator (1940) und Monsieur Verdoux (1947) riefen innerhalb des amerikanischen politischen Establishments enorme Ablehnung und Ängste hervor. Die FBI-Akte über Charlie Chaplin umfasste am Ende mehr als 2.000 Seiten.

Wie John Sbardellati und Tony Shaw in ihrem Aufsatz Booting a Tramp: Charlie Chaplin, the FBI, and the Construction of the Subversive Image in Red Scare America („Rauswurf eines Vagabunden: Charlie Chaplin, das FBI und die Erfindung einer subversiven Gefahr im Amerika der Kommunistenhatz“) feststellten, war die Bundespolizei sehr sensibel für die kulturelle und politische Bedrohung, die von Chaplin ausging. Sbardellati und Shaw berichten, dass Richard B. Hood, der für das FBI-Büro in Los Angeles zuständig war, Hoover im März 1944 einen Artikel aus einer linken Publikation schickte, in dem folgender Absatz hervorsticht: „In weiten Teilen der Welt gibt es Männer und Frauen, die noch nie von Jesus Christus gehört haben; dennoch kennen und lieben sie Charlie Chaplin. Wenn Chaplin also den ,Großen Diktator‘ mimt, erreichen seine Gedanken ein weitaus größeres Publikum als die Zeitungen, die Magazine oder das Radio – und mit Bildern schafft er Worte, die alle verstehen.“

Im Gegensatz zu „linken“ Intellektuellen wie Theodor Adorno, der die „Kulturindustrie“ als bloße Fabrik für Konsumgüter abtat, die angeblich die Massen in Passivität versetzte, zeigen Sbardellati und Shaw auf, dass scharfsinnige FBI-Beamte Hollywood als eine der wichtigsten amerikanischen Institutionen betrachteten, „denn sie schrieben der Filmindustrie einen der größten, wenn nicht den größten Einfluss auf den Geist und die Kultur von Menschen auf der ganzen Welt zu“. [FBI-Bericht vom August 1943]

J. Edgar Hoover vom FBI

Mit Hilfe von rechten Klatschkolumnisten wie Hedda Hopper und den amerikanischen Medien im Allgemeinen heckten Hoover und das FBI eine aus sexuellen und politischen Aspekten bestehende Verleumdungskampagne aus, die Chaplins Filmkarriere beschädigte, ihn von seinem Publikum isolierte und ihn schließlich 1952 aus den USA vertrieb.

Sbardellati und Shaw argumentieren, dass „Charlie Chaplins Probleme in den 1940er und 1950er Jahren eine aufschlussreiche Fallstudie über die Verfolgung durch den McCarthyismus darstellen“. Sie weisen darauf hin, dass Chaplin „wegen seiner linken Ansichten und Assoziationen nicht nur als politisch, sondern auch als sexuell Subversiver angegriffen wurde“. Mit seinen Ansichten und seinem „sexuellen Fehlverhalten“ lieferte er Munition „für diejenigen, die Chaplins Bild vom populären Star zum verachteten Subversiven umwandeln wollten“.

Die Kampagne gegen Chaplin wirft ein erhellendes Licht auf die heutige sexuelle Hexenjagd durch #MeToo und deren Auswirkungen. In unserem ersten Kommentar zur Harvey-Weinstein-Affäre im vergangenen Oktober haben wir festgestellt: „Es gibt eine lange Geschichte von Sexskandalen in Hollywood (und in Amerika zu Charlie Chaplin und anderen), von denen keiner in eine progressive Richtung geführt hat. Ein Sexskandal ist ein Mechanismus, durch den andere Fragen gelöst werden, oft im Interesse mächtiger wirtschaftlicher Interessen und generell mit dem Ergebnis, dass Politik nach rechts gedrängt wird. Die Clinton-Lewinsky-Affäre, die von der Rechten und den unterwürfigen Medien manipuliert wurde, stand fast zwei Jahre lang im Mittelpunkt des amerikanischen politischen Lebens und führte in einer Art versuchtem Staatsstreich fast zur Absetzung des zweimal gewählten Präsidenten.“

Sexuelle Skandale haben einen sehr schlechten Ursprung. Es sind fast immer Operationen der Rechten, die darauf abzielen, rückständige Emotionen zu schüren, von brennenden sozialen Widersprüchen abzulenken, verschiedene politische und finanzielle Probleme zu lösen, die Kräfte von Recht und Ordnung und bürgerlicher Seriosität zu stärken und „Häretiker“ und sozial Unkonventionelle, oft mit antisemitischen oder rassistischen Untertönen, zu verteufeln. Im Süden der USA wurden häufig Vergewaltigungsvorwürfe gegen schwarze Männer erhoben, unter anderem im berüchtigten Fall Scottsboro Boys. Harper Lees berühmter Roman To Kill a Mockingbird wurde teilweise durch diesen Fall inspiriert. Die Nazis porträtierten jüdische Männer als Sexualstraftäter, die darauf aus waren, arische Frauen zu vergewaltigen, und so weiter.

Das wesentliche Ergebnis der anhaltenden Welle von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung ist, dass weitere elementare demokratische Rechte in den USA untergraben werden, einschließlich der Unschuldsvermutung, des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren sowie der Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, eine Schuld zweifelsfrei nachzuweisen. Diejenigen „Linken“, die den Angriff auf diese Rechte gutheißen, treiben ein äußerst gefährliches und reaktionäres Spiel. Wie Leo Trotzki einmal geltend machte, „bezeugen sowohl die Theorie als auch die historische Erfahrung, dass jede Einschränkung der Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft schließlich gegen das Proletariat gerichtet ist, so wie die Steuern am Ende stets auf die Schultern des Proletariats fallen“.

Zahlreiche Karrieren und Leben wurden in den letzten acht Monaten durch unbegründete Behauptungen zerstört, die die Medien sofort als Tatsache akzeptierten – Medien, wie Trotzki ebenfalls betonte, die „geschäftsmäßig lügen, ohne zu zögern oder nach Gründen zu fragen“. Wie wir geschrieben haben: „Wieder einmal ist ,Schurkenzeit‘. Die Filmwelt hat nichts aus der McCarthy-Ära gelernt. Der gleiche wesentliche Modus operandi ist am Werk: die Nennung von Namen, Schuldzuweisung durch Anspielungen, Zeugen, die nicht befragt werden können, reaktionäre Politiker, die sich einmischen, Studios, die die Beschuldigten sofort auf die schwarze Liste setzen.“

Die sozialen Bedingungen für Frauen aus der Arbeiterklasse sind kein bisschen besser geworden, lediglich die Aussichten für eine ohnehin reiche Schicht weiblicher Führungskräfte in verschiedenen Bereichen haben sich verbessert. Die Zeitschrift Hollywood Reporter (übrigens einer der führenden Hexenjäger während der McCarthy-Periode) stellte am 6. Juni 2018 fest, dass die Schauspielerin Jessica Chastain von ihrer lautstarken Unterstützung für die Kampagne gegen sexuelle Belästigung profitiert habe: „Diese öffentlichen Auftritte des Feminismus haben automatisch die Art und Weise gefördert, wie Chastain Geschäfte macht, was wiederum ihr Profil in New Hollywood über das hinaus erhöht hat, was selbst ihre beiden Oscar-Nominierungen und mehr als eine Milliarde Dollar an Karrierekassen möglich erscheinen ließen. Im Jahr 2016 gründete sie die von ihr selbst und der ehemaligen Weinstein Co-Produzentin Kelly Carmichael geführte feministische Firma Freckle Films, die durch ihr Engagement für gleiche Bezahlung und eine Reihe von hochkarätigen Geschäften, zuletzt durch den internationalen Spionagethriller 355, auf sich aufmerksam machte.“

Unterdessen versucht die Demokratische Partei durch diese Hexenjagd ihren Einfluss auf die obere Mittelschicht zu festigen und jede Opposition gegen Donald Trump in eine rechte, antidemokratische Richtung zu lenken.

Sbardellati und Shaw haben ebenso wie Richard Carr in Charlie Chaplin: A Political Biography from Victorian Britain to Modern America (Charlie Chaplin: Eine politische Biographie vom viktorianischen Großbritannien bis zum modernen Amerika) und andere nachvollzogen, wie Hoover und das FBI sich gegen Chaplin verschworen.

In der Einleitung zu seinem Buch stellt Carr die These auf, dass Chaplins „Weltbild“ in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von Personen wie dem „radikalen Aufklärer Max Eastman“ und dem Sozialisten Upton Sinclair geprägt wurde. Er schreibt, dass „diese Leute Chaplins vage Sympathien für den amerikanischen (und britischen) Arbeiter zu einer entschiedeneren Unterstützung der damaligen kommunistischen Machtübernahme in Russland motivierten. Laut einem Brief des US-Justizministeriums an J. Edgar Hoover, Direktor des FBI, zählte Chaplin 1922 zum aktiven Teil der roten Bewegung in diesem Land.“

Der von Millionen geliebte Filmemacher war in den 1920er und frühen 1930er Jahren eine weitgehend unangreifbare Größe. Die Bedingungen der Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg des Faschismus in Europa haben Chaplin sicherlich zu einer Themenfindung veranlasst, die deutlich politischer und damit kontroverser war.

Chaplin und Max Eastman, 1919

Der Film Moderne Zeiten rief in bürgerlichen Kreisen Nervosität hervor, weil er einen Arbeiter zeigte, der „allen möglichen Erniedrigungen ausgesetzt ist, einschließlich der ständigen Überwachung durch einen übertrieben misstrauischen Chef (der fast aussieht wie Henry Ford) und einer Zwangsernährungsmaschine“ (Carr). Chaplin erzählte Eastman später, dass der Film „von einer abstrakten Idee ausging ... einem Impuls, etwas über die Art und Weise zu sagen, wie das Leben standardisiert und kanalisiert wird, wie Männer zu Maschinen wurden und wie ich mich dabei fühle“.

In Der große Diktator verspottete Chaplin die faschistischen Herrscher Deutschlands und Italiens bitterlich in einer Zeit, in der die Hollywood-Studios mit solcher Kritik sehr zurückhaltend waren. Er spielt zwei Rollen in dem Film, einen jüdischen Barbier und den Hitler-ähnlichen rachenkranken Hynkel. Die Furcht vor Chaplins Werken und anderen Anti-Nazi-Filmen hatte Hitler so verunsichert, dass er in einer Rede vom 30. Januar 1939, so Carr, „donnerte, dass die Ankündigung amerikanischer Filmfirmen, Anti-Nazi-Filme zu produzieren, dazu führen wird, dass unsere deutschen Produzenten in Zukunft antisemitische Filme kreieren werden“.

Der große Diktator (1940)

Während des Zweiten Weltkriegs, zu einer Zeit, als die USA in einem Bündnis mit der UdSSR standen, gab Chaplin verschiedene pro-sowjetische, pro-stalinistische Erklärungen ab, die ungestraft blieben. Aber das FBI behielt ihn weiterhin im Auge. Im Oktober 1942 sagte Chaplin zum Beispiel in einer Rede in der Carnegie Hall, „dass behauptet wird, dass sich der Kommunismus als Folge des Krieges über die ganze Welt ausbreiten müsse. Und ich sage, na und?“

Ein paar Monate später, ergänzend zu seiner schändlichen Verteidigung der Moskauer Schauprozesse, erklärte Chaplin bei anderer Gelegenheit: „Ich bin kein Kommunist, aber ich bin stolz zu sagen, dass ich mich ziemlich prokommunistisch fühle. Ich will keine radikale Veränderung – ich will eine evolutionäre Veränderung. Ich will nicht zurück in die Zeit des rauen Individualismus ... Ich will nicht zurück in die Zeit von 1929 ... Nein, das müssen wir besser machen.“ Ein FBI-Informant schrieb mit.

Sbardellati und Shaw weisen in ihrem Essay Booting a Tramp darauf hin, dass sich der Großteil von Chaplins FBI-Akte „auf die Zeit nach 1942 konzentriert und die erschöpfenden Bemühungen der FBI-Beamten dokumentiert, Chaplin mit Bewegungen, Organisationen, Ideen oder Individuen in Zusammenhang zu bringen, die sie als subversiv betrachteten“. Die Beamten verbanden Chaplin „mit verschiedenen kämpferischen Gruppen wie dem National Council of American-Soviet Friendship (dem nationalen Rat für amerikanisch-sowjetische Freundschaft), Russian War Relief (der Russischen Kriegshilfe), Artists' Front to Win the War (der Künsterfront für den Sieg), dem Joint Anti-Fascist Refugee Committee (dem vereinigten Komitee für antifaschistische Flüchtlinge) und anderen Organisationen, zu denen Kommunisten gehörten“, mit „radikalen Emigranten wie Hanns Eisler, Lion Feuchtwanger und Lubomir Linhart, Arbeiterführer Harry Bridges“ und „Hollywood-Radikalen wie Paul Jarrico, Herbert Biberman und Dalton Trumbo“.

Der große Diktator (1940)

Hoover und das FBI suchten in den 1940er Jahren nach Beweisen dafür, dass Chaplin Mitglied der Kommunistischen Partei oder sogar, laut einem FBI-Memo von 1948, „an sowjetischen Spionageaktivitäten beteiligt“ war. Im selben Jahr teilte Hoover „anderen FBI-Beamten mit, dass eine Sicherheitskartei, auf der Chaplin als ausländischer Kommunist verzeichnet ist, vorliegt, wodurch er zu den Personen gehört, die im Notfall zu verhaften sind“ (Booting a Tramp).

Der Wunsch, Chaplins allgemein antikapitalistische Ansichten zu diskreditieren und sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu untergraben, war die treibende Kraft hinter dem Angriff der US-Behörden. Doch das Element des Sexskandals lieferte dem FBI die Waffe, um Chaplin als „Perversen“ bzw. „Bestie“ zu brandmarken, der es verdiente, geächtet, eingesperrt oder deportiert zu werden (der Komiker und Regisseur hatte seine britische Staatsbürgerschaft beibehalten).

Wie Carr bemerkt, sollten Chaplins „Neigung zu jungen Frauen (oder, in einigen Fällen, ,Mädchen‘)“ und generell seine „Aktivitäten mit dem anderen Geschlecht bald die Aufmerksamkeit eines mächtigen Feindes, J. Edgar Hoover hervorrufen … Kurz gesagt, Chaplin wäre politisch nicht so angreifbar gewesen, wenn er nicht sexuell angreifbar gewesen wäre, und das war ein Trend, der in den wilden zwanziger Jahren tief verwurzelt war.“

1918 heiratete Chaplin die 16-jährige Mildred Harris. Sie ließen sich bald scheiden. 1924 heiratete er in Mexiko Lita Grey, die ebenfalls 16 Jahre alt war. Auch diese Ehe war nicht von Dauer, und der Scheidungsfall von 1927 lieferte den Medien viel Aufsehen erregenden Stoff. Grey beschuldigte Chaplin des seriellen Ehebruchs und „sexueller Abweichungen“ wegen seines Interesses an Oralverkehr.

Die Rollschuhbahn (1916)

Die größten Schwierigkeiten hatte Chaplin in den 1940er Jahren. Wie in Booting a Tramp erklärt wird, „hat seine Affäre mit Joan Barry während des Krieges seinem Ruf am meisten geschadet. Chaplin lernte die 22-jährige Schauspielerin 1941 kennen, und schon bald entwickelte sich eine Romanze. Aufgrund von Barrys langjährigen psychischen Erkrankungen wurde die Affäre für Chaplin bald zum Problem (bei einer Gelegenheit hatte sie Chaplin hysterisch mit einer Waffe bedroht und Selbstmord angedroht). Er versuchte, die Beziehung zu beenden, aber Barry weigerte sich, tauchte immer wieder in seinem Haus auf, und als sie schwanger wurde, behauptete sie, das Kind sei von ihm. Von Chaplin des Hauses verwiesen, beschloss Barry, eine Vaterschaftsklage gegen ihn einzureichen. Um ihre Seite der Geschichte herauszustellen, wandte sie sich an die Hollywood-Klatschkolumnisten Hedda Hopper und Florabel Muir.“

Hoover bekam Wind von dem Skandal, und bald eröffnete das Justizministerium eine Untersuchung. Wie Carr in A Political Biography aufgezeigt hat, „verklagte im Februar 1944 die Federal Grand Jury in Los Angeles Chaplin auf Grund der Bestimmungen des sog. Mann Act (s.u.). Dies geschah größtenteils auf Geheiß des FBI und Hoovers, um die Untersuchung von Chaplins Aktivitäten in dieser Hinsicht zu beschleunigen.“

Der „Mann Act“ von 1910 – ein Gesetz, das angeblich der Bekämpfung der Prostitution diente und es verbot, Frauen zu sexuellen Zwecken von einem Bundesstaat in den anderen zu bringen – war zu einem Mittel für politische Verfolgung oder rassistische Vendetten geworden. Es wurde zum Beispiel gegen den afroamerikanischen Schwergewichtsboxmeister Jack Johnson wegen seiner einvernehmlichen Beziehungen zu weißen Frauen eingesetzt.

Im Wesentlichen wurde Chaplin des Verstoßes gegen den Mann Act angeklagt, weil er Barry, seiner damaligen Freundin, eine Reise von Los Angeles nach New York bezahlt hatte! Nach einem zweiwöchigen Prozess, so Sbardellati und Shaw, „sprach die Jury ihn bald frei, aber sein Image war angekratzt“. Wäre Chaplin verurteilt worden, hätte er eine Freiheitsstrafe von bis zu 23 Jahren erhalten können.

Wie bereits erwähnt, hatte die emotional instabile Barry (die auch eine Affäre mit J. Paul Getty hatte) 1943 eine Vaterschaftsklage eingereicht und behauptet, Chaplin sei der Vater ihrer Rochter Carol. Carr merkt an, dass „der zweite Barry-Prozess zur Klärung der Vaterschaft ihrer Tochter Charlie mehr Ärger bereitete und seinem Ruf in der Öffentlichkeit mehr schadete als Lita Greys Scheidungsantrag von 1927“.

Blutproben schlossen Chaplins Vaterschaft aus, aber solche Beweise waren vor kalifornischen Gerichten damals noch nicht zulässig. Barrys Anwalt Joseph Scott bediente sich abscheulicher persönlicher Angriffe auf Chaplin, die unweigerlich ihren Weg in die Tagespresse fanden.

So sagte Scott gegenüber der Jury zum Beispiel: „Diese Pest, dieser geile Hund ... Es tut mir leid, dass er nicht hier ist, damit ich es ihm direkt aufs Kinn geben kann ... Kennen Sie die Geschichte von Svengali und Trilby? Dieser Kerl ist nur eine Zwergenausgabe eines Svengali. Er ist nicht mal ein Monster ... nur ein kleiner Kümmerling ... Dieser Kerl lügt nicht wie ein Gentleman. Er lügt wie ein billiger, schurkenhafter Londoner Prolet .... Dieser Mann fickt herum ... mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der der Durchschnittsbürger Speck und Eier zum Frühstück bestellt. Er ist ein ergrauter Raubvogel mit den Instinkten eines jungen Bullen ... ein Meister in der Kunst der Verführung.“

Die erste Jury konnte sich nicht einigen. „Barrys Anwaltsteam bestand auf der Wiederaufnahme des Verfahrens, so dass nach wiederholter Theatralik von Barrys Team am 17. April 1945 ein Urteil gefällt wurde. Diesmal mit neun zu drei Stimmen gegen Charlie.“ (Carr). Er sollte bis zum 21. Geburtstag des Kindes Unterhalt zahlen.

In ihren Kolumnen „vermengte“ Hedda Hopper „Chaplins angebliche politische und sexuelle Subversionen und kritisierte sofort seine Reden zur zweiten Front [der Forderung, dass die Alliierten eine zweite Front in Europa eröffnen sollten, um die sowjetischen Streitkräfte zu entlasten] und seine ,moralische Verdorbenheit‘, ihrer Meinung nach ,ein ausreichender Grund für die Abschiebung eines Ausländers‘.“

Die Klatschkolumnistin Hedda Hopper

In den amerikanischen Massenmedien nahmen die die Angriffe auf Chaplin um diese Zeit zu und ebbten in der Nachkriegszeit im Wesentlichen nie ab. Vordergründung richteten sich die Vorwürfe oft gegen sein unkonventionelles Sexualleben, doch das zugrundeliegende Motiv war politisch und ideologisch. Es ging darum, die amerikanische Filmindustrie – und-die amerikanische Gesellschaft – von einem hartnäckigen radikalen Kritiker zu befreien. In diesem Zusammenhang sollte man die aktuellen Kampagnen gegen Woody Allen, Roman Polanski und andere ins Auge fassen, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass aus bestimmten historischen Gründen keiner der heutigen Angriffe hoch „politisch“ ist.

Aber die Angriffe auf Chaplin zeigen ebenso wie die aktuelle #MeToo-Kampagne, wie die amerikanischen Medien funktionieren, wie sie ihre Opfer verunglimpfen, erniedrigen und in den Schmutz ziehen, wie sie ohne Scham lügen und verleumden, wie sie mit Schmutz werfen, die öffentliche Meinung manipulieren, die Leichtgläubigen an der Nase herum führen, die allgemeine Atmosphäre vergiften und von dem Verfall und der Krise der Gesellschaft ablenken.

Carr schreibt über die Barry-Affäre: „Die Chicago Tribune widmete dem Fall Schlagzeilen auf der Titelseite, und auf dem Höhepunkt der jeweiligen Welle der Veröffentlichungen waren diese fast durchgängig negativ. Newsweek-Schlagzeilen wie ,Chaplin als Schurke‘ und die Behauptung des Time Magazine, dass der Fall Barry ,in das vertraute Muster unangreifbarer Arroganz‘ passe, sowie ... Affären mit einer Reihe von ziemlich jungen Protégés' trugen damals nicht gerade zur Verbesserung von Charlies schwindendem Ansehen bei“.

William Langer (Republikaner aus North Dakota), der den Generalstaatsanwalt zwei Jahre zuvor erfolglos aufgefordert hatte, Chaplin zum Zwecke der Abschiebung zu überprüfen, fragte sich 1947 während einer Anhörung im Senat, wie es sein könne, dass „ein Mann wie Charlie Chaplin mit seinen kommunistischen Neigungen, mit seiner widerlichen Bilanz des Gesetzesbruchs, der Vergewaltigung oder der Verführung sechzehn- bis siebzehnjähriger amerikanischer Mädchen im Land bleibt“.

Der Republikaner John Rankin aus Mississippi, berüchtigter Rassist und Antisemit, prangerte 1945 die linke Publikation New Masses an und fügte hinzu, er sei sicher, dass die Zeitschrift „in das Haus von Charles Chaplin gelangt sei, dem perversen Subjekt aus Großbritannien, das für seine gewaltsame Verführung weißer Mädchen berüchtigt ist“.

Chaplins Monsieur Verdoux kam im April 1947 heraus, als die antikommunistische Kampagne des amerikanischen politischen und medialen Establishments auf Hochtouren lief. Die Anhörungen des parlamentarischen Ausschusses für unamerikanische Umtriebe zum Thema „Kommunistischer Einfluss“ in Hollywood sorgten im Herbst 1947 Tag für Tag für Schlagzeilen. Im April 1948 schließlich wurden die zehn Angeklagten (die sog. „Hollywood Ten“) verurteilt. Während des ganzen Jahres sah sich die Führung der Kommunistischen Partei in New York City der Verfolgung durch den Smith Act ausgesetzt, nach dem es verboten war, für den gewaltsamen Sturz der Regierung einzutreten.

Monsieur Verdoux (1947)

Monsieur Verdoux, der erste Film seit 1923, in dem Chaplin keine Vagabunden-Figur spielte, ist eine schwarze Komödie. Chaplin spielt die Titelrolle, einen schicken ehemaligen Bankangestellten, der nach 35 Jahren entlassen wird. Um den Lebensunterhalt für seine behinderte Frau und sein Kind aufzubringen, kommt Verdoux auf die Idee, reiche Frauen zu heiraten, zu töten und ihr Vermögen zu kassieren. In einem Voiceover, das sich auf seine Mordoperationen bezieht, erklärt er: „Das habe ich als rein geschäftliches Unternehmen betrieben, um ein Heim und eine Familie zu finanzieren.“

Als er schließlich verhaftet und vor Gericht gestellt wird, argumentiert Verdoux, er sei zum Massenmörder geworden, weil die Welt ihm dieses Vorbild biete: „Dient nicht auch der Bau von Vernichtungswaffen dem alleinigen Zweck der Massentötung? Hat die Bombe nicht arglose Frauen und kleine Kinder in Stücke gerissen, und das auf sehr wissenschaftliche Art? Als Massenmörder bin ich im Vergleich dazu ein Amateur.“

Unnötig zu sagen, dass dieser bemerkenswerte (und oft sehr lustige) Film beim amerikanischen Establishment, dem FBI oder den Medien nicht auf Wohlwollen stieß. Folgendermaßen beschreibt Carr eine Pressekonferenz vom 12. April 1947, auf der Monsieur Verdoux vorgestellt wurde: „Charlie wandte sich mit angespannter Stimme an die Journalisten: ,Vielen Dank, meine Damen und Herren von der Presse. Ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig vergeuden. Schreiten Sie zum Schlachtfest. Schon kam der erste Zwischenruf:,Könnten Sie eine klare Frage beantworten: Sind Sie Kommunist?‘ Chaplin entgegnete: ,Ich bin kein Kommunist.‘“ Und so ging es weiter.

Die Zusammenarbeit zwischen Amerikas „freier Presse“ und seiner politischen Polizei findet einen vollendeten Ausdruck in folgendem Vorfall, der ebenfalls von Carr geschildert wird: „Im April 1947, als Chaplin versuchte, Monsieur Verdoux einer skeptischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatte Hedda Hopper von J. Edgar Hoover persönlich eine Vorabversion der Story of the FBI erhalten. Hopper dankte ihm für das Buch, befürwortete den antikommunistischen Inhalt des Buches und antwortete: ,Ich möchte jede einzelne dieser Ratten aus dem Land vertreiben und mit Charlie Chaplin anfangen. In keinem anderen Land der Welt darf er das tun, was er getan hat. Und jetzt, wo er einen weiteren Film produziert hat und Miss Mary Pickford zurück in New York ist und ihm hilft ihn zu verkaufen, was tun wir dagegen? Es ist an der Zeit, dass wir massenhaft aufstehen. Du gibst mir das Material und ich haue die Stories raus.‘“

Das bringt es auf den Punkt.

Hopper löste ihre Zusage ein, indem sie das FBI mit schlüpfrigen Gerüchten über Chaplin versorgte und im Gegenzug von Hoover und Co. mit Material versorgt wurde. Zusätzlich bot eine weitere einflussreiche politische Figur ihre Hilfe an. Im Mai 1952 schrieb Richard Nixon, der zwei Monate später Vize-Präsidentschaftskandidat der Republikaner wurde, an die Klatschkolumnistin: „Ich stimme Ihnen zu, dass die Art und Weise, wie der Fall Chaplin behandelt wurde, seit Jahren eine Schande ist. Leider können wir nicht viel dagegen tun, solange die Top-Entscheidungen von Leuten wie [Staatssekretär] Acheson und [Generalstaatsanwalt James] McGranery getroffen werden.“

Generalstaatsanwalt McGranery

Die bösartigen Angriffe auf Chaplin, die stets seine angeblichen moralischen und politischen Verfehlungen vermischten, wurden schließlich von den Behörden aufgegriffen. 1947 nahm der Einwanderungs- und Einbürgerungsdienst (INS) Kontakt mit dem FBI auf, und die beiden Regierungsbehörden begannen, sich für eine Anklage „wegen ‚Subversion‘ zur Begründung seiner Deportation einzusetzen“, wie Sbardellati und Shaw darlegen. INS und FBI gingen vorsichtig vor, weil sie Chaplins große Popularität fürchteten. Außerdem hatte das FBI nie den Beweis erbracht, dass Chaplin Mitglied der Kommunistischen Partei war – er war es ja auch nie.

Die Chance der Behörden kam 1952, auf dem Höhepunkt der antikommunistischen Hysterie während des Koreakrieges. Chaplin hatte seinen letzten Film, Rampenlicht, über einen alternden, gescheiterten Komiker (Chaplin) und seine Beziehung zu einer jungen Tänzerin (Claire Bloom) gedreht. Es ist ein denkwürdiges, elegisches Werk, das durch die Szene, in der Chaplin und Keaton (zum einzigen Mal in ihrer denkwürdigen Laufbahn) zusammen auftreten, umso außergewöhnlicher wird.

Goldrausch (1925)

Im Juli 1952 erteilte das INS Chaplin eine Wiedereinreisegenehmigung für eine Auslandsreise, auf der er für seinen neuen Film werben wollte. In Booting a Tramp wird beschrieben, was als Nächstes geschah: „In den Monaten vor seiner Reise kommunizierten INS- und FBI-Beamte häufig. Am 9. September traf sich Hoover mit INS-Beamten und Generalstaatsanwalt James McGranery, und gemeinsam beschlossen sie, Chaplins Genehmigung zu widerrufen, nachdem er das Land verlassen hatte. Am 19. September, dem Tag, nachdem Chaplin und seine Familie aus New York City in See gestochen waren, gab McGranerys Büro den Widerruf bekannt und sagte, dass Chaplin dem INS Fragen über seine Politik und Moral beantworten müsse, bevor er zurückkehren dürfe.“

Die Regierungsbeamten, die befürchteten, dass ihr „politischer“ Fall gegen Chaplin nicht ausreichte, hofften, dass der neue, ultrareaktionäre McCarran-Walter Act ihnen „umfassendere Gründe für eine Ausweisung geben und die Möglichkeit verschaffen würde, ihre moralische Anklage auszuspielen“, d.h. seine angebliche sexuelle Promiskuität und seine angebliche Zahlung für zwei Abtreibungen von Joan Barry.

Ob Chaplin erfolgreich an der Rückkehr hätte gehindert werden konnte, ist fraglich. Er wollte es gar nicht versuchen. Im April 1953 gab er seine Wiedereinreisegenehmigung zurück und gab folgende Erklärung ab: „Es ist nicht leicht, mich und meine Familie aus einem Land zu entwurzeln, in dem ich seit vierzig Jahren ohne ein Gefühl der Traurigkeit lebe. Aber seit dem Ende des letzten Weltkriegs bin ich Gegenstand von Lügen und bösartiger Propaganda durch mächtige reaktionäre Gruppen, die durch ihren Einfluss und mit Hilfe der amerikanischen Boulevardpresse eine ungesunde Atmosphäre geschaffen haben, in der liberal gesinnte Menschen herausgegriffen und verfolgt werden können. Unter diesen Bedingungen ist es mir praktisch unmöglich, meine Filmarbeit fortzusetzen, und deshalb habe ich meinen Wohnsitz in den Vereinigten Staaten aufgegeben.“

Der reaktionäre Abschaum, der geholfen hatte, eines der größten Film- und Kunstgenies Amerikas zu vertreiben, freute sich über Chaplins Abschied. In Booting a Tramp heißt es: „Die konservative Chicago Tribune rechtfertigte den Widerruf der Wiedereinreisegenehmigung, indem sie auf Chaplins Unterstützung für ,kommunistisch organisierte Friedenskonferenzen‘, den Joan-Barry-Sexskandal und den Vorwurf hinwies, dass er ‚die Staatsbürgerschaft unseres Landes stets verschmäht‘ habe. Kein Wunder, dass Chaplins alte Feinde diesen Anlass feierten. Der [rechte Kolumnist] Westbrook Pegler, der Chaplin als ,schmutzigen Charakter‘ beschrieb, ,der eine Bedrohung für junge Mädchen darstellt‘, begrüßte, was er für die ,erste ehrliche Initiative des Justizministeriums gegen die Rote Front von Hollywood‘ hielt. Hedda Hoppers Abschiedsartikel, ,Auf Nimmerwiedersehen mit diesem üblen Gesellen‘, wurde vom Time Magazine verbreitet.“

Joan Barry

Chaplin lebte bis zu seinem Tod 1977 in der Schweiz und kehrte nur 1972 in die USA zurück, um einen besonderen Oscar entgegenzunehmen. Er drehte zwei weitere Filme, Ein König in New York (1957) und Die Gräfin von Hong Kong (1967).

Zahlreiche Kommentatoren haben Chaplins Namen in die aktuelle sexuelle Hexenjagd hineingezogen und den Komiker und Regisseur im Lichte der aktuellen Vorwürfe rückwirkend mit Schmutz beworfen. Chaplin und Polanski wurden als „Kindervergewaltiger“ zusammengeworfen. Eine Schlagzeile lautet: „Harvey Weinstein bezeichnete Charlie Chaplin als sein Idol – und er scheint tatsächlich nach ihm geraten zu sein“. Andere fragen: „Was machen wir mit der Kunst der Ungeheuerlichen“ und „Wann sollen wir die Kunst vom Künstler trennen?“

Zu seiner Schande argumentiert Richard Carr in einem kürzlich erschienenen Artikel, dass „Chaplins Verhalten vielleicht nicht genau das gleiche war wie das, was Weinstein vorgeworfen wird, aber der Fall von Chaplin – aus Weinsteins Sicht ,einer der größten Filmemacher‘—illustriert einen Trend des Machtmissbrauchs in Hollywood, der sich von Chaplin über Roman Polanski und Woody Allen bis hin zu den Anschuldigungen zieht, die jüngst gegen den Schauspieler Kevin Spacey erhoben wurden“. Carr nennt es „gewissermaßen ein Gleichnis von unkontrollierter männlicher Macht, Reichtum und dem impliziten Schutz, der mit beidem einhergeht“.

Wie fast alle Mainstream-Medien, akademische und „linke“ Kommentatoren über die #MeToo-Bewegung und ihre Folgen, übersieht Carr eine Kleinigkeit: die Rolle der Kampagne um sexuelle Belästigung in der gesellschaftlichen Entwicklung in den USA und weltweit.

Chaplin wurde in den 1940er und 1950er Jahren, ähnlich wie Weinstein, Polanski, Allen und Spacey heute, nicht wegen irgendwelcher sexueller Missetaten verfolgt, selbst wenn diese strafrechtlich relevant wären. Die amerikanische herrschende Elite, die wirklich von Kopf bis Fuß kriminell ist, reguliert und manipuliert die sexuelle Hysterie für ihre eigenen politischen und ideologischen Zwecke. Am Vorabend großer sozialer Kämpfe ist sie entschlossen, eine Atmosphäre des Konformismus und der Unterdrückung zu schaffen und jede Spaltung nach Geschlecht oder Rasse, jede Illusion in die Kräfte von „Recht und Ordnung“ zu schüren und alles, was sie an sozialer Rückständigkeit und Vorurteilen finden können, weidlich auszuschlachten.

Wer das nicht begreift, versteht nicht, was heute gespielt wird.

Hier noch ein paar Beispiele von Chaplins Kunst:

Der Feuerwehrmann (1916)

Ein Uhr nachts (1916)

Das Pfandhaus (1916)

Die Rollschuhbahn (1916)

Der Einwanderer (1917)

Gewehr über (1918)

The Kid (1921)

Goldrausch (1925)

Der Zirkus (1928)

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