Pflegenotstand: Die soziale Wut wächst

Die soziale Wut über den Pflegenotstand wächst. Eine jahrelange systematische Kürzungs- und Privatisierungsorgie hat katastrophale Bedingungen geschaffen, und immer mehr Pflegekräfte äußern ihren Unmut in Offenen Briefen, Streiks und Protesten. Die medienwirksamen Aktionen der Kanzlerin und drei ihrer Minister sind nur der zynische Versuch, davon abzulenken, dass die Große Koalition diesen Zustand fortsetzen und verschärfen wird.

Streikende Krankenschwestern des Klinikums Frankfurt-Höchst, September 2017

Am 16. Juli besuchte Angela Merkel (CDU) ein Paderborner Seniorenheim und den dort arbeitenden Pfleger Ferdi Cebi. Er hatte sie im September 2017 während einer ZDF-Wahlkampfsendung zu diesem Besuch herausgefordert. Vor versammeltem Medientross versprach die Kanzlerin dort, die Regierung werde für den Pflegebereich eine „Zauberformel“ finden.

Schon Anfang Juli hatten Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ihre „Konzertierte Aktion Pflege“ angestoßen. Seither behaupten sie landauf–landab, sie wollten in der Pflege für „bessere Bezahlung“ und „bessere Betreuung“ sorgen.

Das sind alles nur leere Versprechungen. Tatsächlich hat die deutsche Regierung erst beim letzten Nato-Gipfel beteuert, den Verteidigungshaushalt auf über 70 Milliarden Euro zu verdoppeln und somit massiv aufzurüsten. Das Geld dafür wird durch weitere Kürzungen im sozialen Bereich und in der Pflege aufgebracht werden.

Schon jetzt arbeiten Alten- und Krankenpfleger fast immer im Schichtdienst, sind extrem hohen Belastungen ausgesetzt und häufen zahllose Überstunden an. Viele Einrichtungen halten die Vorschriften für den Personalschlüssel nicht ein, und selbst die vorgeschriebenen Personalzahlen sind bei Weitem nicht ausreichend. Der Pflegeexperte und Journalist Gottlob Schober schlug bereits Alarm, weil die Pflegebedürftigen oftmals zu wenig zu essen oder zu trinken bekommen und stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen.

Keine der Versprechungen der Großen Koalition wird an dieser Situation auch nur ansatzweise etwas ändern. Im Koalitionsvertrag heißt es, es sollen 8000 neue Stellen im Pflegebereich entstehen. Gesundheitsminister Spahn hat die Zahl mittlerweile auf 13.000 erhöht. Das ist kaum ein Tropfen auf den heißen Stein. In Deutschland gibt es etwa 2000 Krankenhäuser und 13.000 Altenheime. Selbst wenn die Zahl der Pflegekräfte tatsächlich rasch um 13.000 steigen würde, wäre das nicht einmal eine Stelle pro Einrichtung mehr. Allein im letzten Jahr wurden aber schon von den tatsächlich ausgeschriebenen Stellen über 37.000 nicht besetzt.

Besonders in der Altenpflege ist die Arbeitssituation unerträglich. Dort werden um etwa 30% niedrigere Gehälter als in den Kliniken bezahlt. Allein im Jahr 2016 haben Altenpfleger 9,5 Millionen Überstunden angehäuft.

Immer mehr Großinvestoren kaufen die Einrichtungen auf. Dazu gehören beispielsweise die französische Korian-Gruppe mit 220 Pflegeheimen, die schwedische Alloheim-Gruppe mit 165 Heimen oder die kalifornische Investmentgesellschaft Oaktree Capital. Sie suchen nach lukrativen Anlagemöglichkeiten mit Renditen zwischen 5 und 10 Prozent. Sie erwerben die Heime als Quelle des Profits für ihre Anleger und verkaufen sie wieder mit möglichst hoher Gewinnspanne.

Diesen Schacher auf dem Rücken der Pflegekräfte und Senioren hat die rot-grüne Koalition eingeführt. Die Schröder-Fischer-Regierung (1999–2005) war es, die private Anbieter mit anderen Anbietern in der Pflege gleichstellte und den Kapitalmarkt für spekulative Fonds öffnete. Derzeit holen private Pflegeheimbetreiber eine durchschnittliche Rendite von 8,3 Prozent aus dem Pflegegeschäft heraus, fast dreimal so viel wie die anderen mit einer Rendite von 2,8 Prozent.

Dieses System, das die Bedürfnisse der Menschen den Kapitalinteressen unterordnet, wird nicht nur von allen Parlamentsparteien, sondern auch von den Gewerkschaften unterstützt. So wird ein Großteil des Personals mit Zustimmung von Verdi unter Tarif bezahlt. Der Monatslohn eines examinierten Altenpflegers, der sich nach Einrichtung, Kostenträger und Bundesland richtet, kann von etwa 1.930 Euro brutto in Sachsen-Anhalt bis zu 2.600 Euro brutto in Hamburg variieren.

Jens Spahn hat behauptet, die Regierung werde dafür sorgen, dass die Löhne der Beschäftigten in der Pflegebranche steigen und flächendeckende Tarifverträge eingeführt werden. Seine Versprechungen sind aber höchst schwammig und irreführend. Aktuell arbeiten die meisten Altenpflegekräfte in privaten Einrichtungen, die entweder überhaupt keinen oder einen Haustarifvertrag haben. Für Einrichtungen der katholischen und evangelischen Kirche gilt in Deutschland ein Sonderarbeitsrecht, das sie nicht einmal verpflichtet, vereinbarte Tarifverträge einzuhalten.

Um den Fachkräftemangel zu beheben, will Spahn die Ausbildung zum Kranken- und Altenpfleger bis 2020 für alle kostenlos machen. Das will er jedoch ausschließlich durch die arbeitende Bevölkerung finanzieren lassen, deren Sozialabgaben für die Pflegeversicherung um 0,3% erhöht werden sollen.

Eine weitere Maßnahme soll darin bestehen, vermehrt ungelernte Kräfte einzusetzen. „Wir wollen die Pflege auch für reine Betreuungsdienste öffnen“, sagte Spahn der Passauer Neuen Presse. Diese Einführung von berufsfremden, nicht ausgebildeten Pflegekräften wird die Lage des Personals in den Kliniken und Seniorenheimen noch einmal verschärfen und zugleich die Löhne weiter drücken.

Schon jetzt ist ihre Tätigkeit bis auf die Sekunde durchgetaktet, so dass für persönliche Zuwendung überhaupt keine Zeit mehr bleibt. Was bleibt ist die durch die Stoppuhr geregelte Befriedigung körperlicher Bedürfnisse nach dem Prinzip „sauber, satt und sicher“. So sind beispielsweise für das Entkleiden 4 Minuten und für den Stuhlgang 3 bis 6 Minuten erlaubt.

Trotz alledem sind die Heime für viele Menschen unerschwinglich teuer. Ein Pflegeheimplatz kostet in Deutschland pro Monat im Durchschnitt gut 3.000 Euro. Die Pflegekosten übernimmt je nach anerkannter Stufe die Pflegeversicherung, aber die Kosten für Unterkunft und Verpflegung im Heim müssen die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen oder das Sozialamt tragen. Im Durchschnitt beträgt der Eigenanteil eines Platzes etwa 1.500 Euro. Aber die durchschnittliche staatliche Altersrente liegt unter tausend Euro, nämlich 970 Euro in den alten und 612 Euro in den neuen Bundesländern (beide Werte von 2016). Kein Wunder, wenn ein solcher Heimplatz auch eine Person mit bisher durchschnittlichem und gutem Einkommen rasch in einen Sozialfall verwandelt.

Immer mehr Familien versuchen, ihre Angehörigen zuhause zu betreuen. Die genaue Zahl der Pflegebedürftigen ist zwar nicht bekannt, aber zurzeit sind es etwa drei Millionen Menschen, die Pflege und Betreuung benötigen. Nur etwa 27 Prozent von ihnen leben in Heimen. Und die häusliche Pflege nimmt noch zu. Wurden vor einigen Jahren noch etwa zwei Drittel der Pflegebedürftigen zuhause versorgt, sind es inzwischen schon fast drei Viertel der pflegebedürftigen Alten.

Gleichzeitig steigt die Zahl derjenigen Angehörigen, die sich entscheiden, die häusliche Pflege vollständig selbst zu übernehmen und auf einen ambulanten Pflegedienst zu verzichten. Dafür werden sie jedoch erbärmlich schlecht entlohnt. Bei Pflegegrad 5 beispielsweise zahlt die Pflegeversicherung einem professionellen Pflegedienst 1995 Euro monatlich für die Grundversorgung morgens und abends (die übrige Zeit müssen die Angehörigen selbst pflegen). Pflegende Angehörige dagegen, welche die gesamte Pflege selbst übernehmen, bekommen beim gleichen Pflegegrad von der Kasse nur 901 Euro monatlich.

Kein Wunder, dass die Regierung auf die billige Versorgung zu Hause setzt und bundesweit so genannte Pflegestützpunkte einrichtet. Dieses Modell hat eine Situation geschaffen, in der Millionen von Angehörigen kein eigenes Einkommen und keine Altersvorsorge erwirtschaften können. Ihre Perspektive ist die Altersarmut, verbunden mit dem Risiko, durch die belastende Arbeit selbst zum Pflegefall zu werden.

Eine andere Variante ist die Pflege durch Frauen aus Osteuropa. Schätzungen zufolge pflegen zurzeit zwischen 150.000 und 400.000 Osteuropäerinnen deutsche Senioren. Werden sie von privaten oder sozialen Agenturen vermittelt, müssen die Familien monatlich zwischen 2.200 und 2.800 Euro an die Vermittlungsagenturen bezahlen. Dabei kommen meist „skandalöse Ausbeutungsverhältnisse“ zum Tragen, wie Professor Bernhard Emunds von der katholischen Hochschule Frankfurt kritisiert: Die Agenturen kassieren Monat für Monat etwa tausend Euro pro Betreuerin, während die Frauen selbst mit ca. 1.200 bis maximal 1.500 Euro monatlich abgespeist werden, obwohl sie weit mehr als die vertraglich vereinbarten 40 Wochenstunden leisten.

Die ARD berichtete, dass es sich bei diesen „Müllverträgen“ meist um Entsendeverträge ohne Krankenversicherung handle, die die EU zu verantworten habe. Der Verband der Vermittler geht davon aus, dass 90 Prozent der osteuropäischen Betreuerinnen von vornherein schwarz, also auch ohne eigene Alters- und Krankenversicherung, arbeiten. Staatssekretär Karl-Josef Laumann sagte in einem ARD-Interview, er sehe keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern.

Die Wissenschaft kennt längst Methoden, die die Lebenserwartung verlängern und das Rentenalter zum „goldenen Lebensabend“ machen könnten. Doch ihre Durchsetzung ist eine Klassenfrage. „Wer arm ist, muss früher sterben“ – dieser Spruch ist heute schon soziale Realität. In den USA, dem Spitzenreiter bei der Umverteilung von unten nach oben, ist die durchschnittliche Lebenserwartung bereits gesunken.

Die Zustände in den Heimen sind nur die Spitze des Eisbergs. Der Pflegenotstand ist unter kapitalistischen Verhältnissen immer weniger zu beseitigen. Um der arbeitenden Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, ist es notwendig, das Profitsystem zu überwinden und sozialistische Verhältnisse durchzusetzen.

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