David Harveys Jacobin-Interview über Das Kapital von Karl Marx

Werbung für die „Lifestyle-Politik“ der Pseudolinken

Das Jacobin-Magazin, das dem bürgerlichen pseudolinken Milieu, insbesondere den Democratic Socialists of America, als eine Art Hauspostille dient, hat ein Interview mit dem Akademiker David Harvey veröffentlicht, das angeblich zeigt, warum Marx Kapital „immer noch das maßgebliche Werk für das Verständnis und die Überwindung der Schrecken des Kapitalismus“ ist.

Harvey, häufig als Sozialtheoretiker, historisch-materialistischer Geograph und manchmal auch als Marxist bezeichnet, hat in den letzten zehn Jahren im Zuge der globalen Finanzkrise durch seine Online-Vorträge über Das Kapital und eine Reihe von kritischen Büchern über den Kapitalismus und dessen Irrationalität eine breite Anhängerschaft gefunden.

Das Interesse an seinen Schriften und Vorträgen, insbesondere unter jüngeren Menschen und Studenten, ist Ausdruck der wachsenden Ablehnung des Kapitalismus, der als gescheitert betrachtet wird, und einer erhöhten Aufgeschlossenheit gegenüber dem Sozialismus. Bei Marx sucht man Antworten auf die wachsenden Probleme und Krisen, die durch den fortschreitenden Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung verursacht sind.

Aber wie alle Arbeiten von Harvey stellt auch dieses Interview keine Hilfe zum Verständnis von Marx dar, sondern soll den Zugang zu seinem Meisterwerk versperren, indem es Marx einem „linken“ Publikum aus der Mittelschicht schmackhaft zu machen versucht, das sich an Lifestyle-Fragen orientiert.

Dies zeigt sich bereits zu Beginn des Interviews. Auf die Bitte, einen Überblick über die drei Bände des Kapitals zu geben, antwortet Harvey: „Marx ist sehr detailliert, und es ist manchmal schwer, eine Vorstellung vom Gesamtkonzept des Kapitals zu gewinnen.“ Diese Behauptung ist eigentlich seit dem Tag, an dem Das Kapital veröffentlicht wurde, ein wiederkehrendes Thema: dass das Werk zu schwierig und zu dicht sei, um verstanden zu werden.

Das Kapital ist sicherlich kein einfaches Werk, aber das liegt nicht an Marx, sondern daran, dass der Kapitalismus die bislang komplexeste Form der sozioökonomischen Organisation in der historischen Entwicklung der Menschheit ist.

Doch wie Harvey sehr gut weiß, erklärte Marx überaus klar, worin der wesentliche Gedankengang seiner theoretischen Arbeit besteht.

Im Nachwort zur zweiten Ausgabe des Kapitals zitiert Marx zustimmend einen russischen Kritiker der ersten Ausgabe von 1867, der die objektive Logik seiner Analyse dargelegt hatte.

Der Rezensent hatte zunächst Marx berühmtes Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie zitiert, in dem Marx die materialistische Grundlage seiner Methode darlegt.

Dort hatte Marx geschrieben: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen .... Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ... Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“[1]

„Demzufolge bemüht sich Marx“, hatte der russische Kritiker geschrieben, „nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehn muss.“ [2]

Mit anderen Worten, Das Kapital war die Anwendung der Theorie des historischen Materialismus, die von Marx und Engels Ende der 1840er Jahre erarbeitet worden war, auf die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Das wesentliche Produktionsverhältnis in dieser Gesellschaft war der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft der Arbeiterklasse – jener neuen gesellschaftlichen Kraft, welche mit dem Kapitalismus ins Leben gerufen worden war. Im Kapital sollte im Einzelnen aufgezeigt werden, wie die Entwicklung der Produktivkräfte, die diese neue Gesellschaftsordnung hervorgebracht hatte, zwangsläufig in Gegensatz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen geraten musste, auf denen sie beruhte, und dass dies zu einer sozialen Revolution und zum Übergang in eine neue und höhere Gesellschaftsform führen musste.

Obwohl Das Kapital auf einer gründlichen wissenschaftlichen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft beruht, ist es keine akademische Abhandlung. Es wurde mit dem Ziel geschrieben, der Arbeiterklasse als dem historischen Totengräber des Kapitalismus die für den Sturz dieses Gesellschaftssystems notwendigen theoretischen Waffen zur Verfügung zu stellen und den Übergang zu einer höheren sozioökonomischen Ordnung, dem internationalen Sozialismus, zu ermöglichen.

Es ist daher besonders auffällig, dass in Harveys Interview über Das Kapital und seine Bedeutung die Worte „soziale Revolution“ und „Arbeiterklasse“ überhaupt nicht vorkommen.

Was ist dann der wesentliche Inhalt des Interviews? Es ist eine marxistisch klingende Verbrämung der Politik der Pseudolinken, die gegen einige der Irrationalitäten und Gräuel des kapitalistischen Systems protestieren, aber nicht seinen Sturz, sondern Änderungen des „Lifestyles“ anstreben. Das Interview zielt darauf ab, denjenigen, die nach Antworten suchen, den Zugang zu Marx Meisterwerk zu versperren und dessen Verständnis zu verhindern.

Harvey stellt die drei Bände des Kapitals als Durcheinander dar, als ob Marx sagen würde: „In Band I beschäftige ich mich hiermit, in Band II beschäftige ich mich damit, und in Band III mit wieder etwas anderem.“

Harvey fährt fort, dass Marx „die Zirkulation des Kapitals in ihrer Gesamtheit“ behandle, führt dann aber als Problem an, dass Marx den zweiten und dritten Band nicht abgeschlossen hat (sie wurden von Engels anhand von Marx Entwürfen herausgegeben). Deshalb seien sie „weniger zufriedenstellend als der erste Band“.

Aus dieser Fokussierung auf die Zirkulation des Kapitals ergeben sich zwei Konsequenzen. Erstens erzeugt Harvey den Eindruck, dass den Ausführungen von Marx keine inhärente Logik innewohne. Zweitens wird die zentrale Bedeutung der kapitalistischen Produktion abgeschwächt und der Zirkulation des Kapitals untergeordnet, was, wie wir sehen werden, eine wichtige Grundlage für Harveys politische Perspektive bildet.

Im Gegensatz zu Harvey äußerte sich Marx sehr klar über die Logik der drei Bände, die er am Anfang des dritten Bands darlegt.

Dort erklärt er, dass die Untersuchung im ersten Band den Prozess der kapitalistischen Produktion selbst betrifft, wobei die äußeren Nebeneinwirkungen auf diesen Prozess unberücksichtigt bleiben. Aber wie er anmerkt, umfasst die Analyse nicht den gesamten Lebenszyklus des Kapitals, und so betrachtet er im zweiten Band, wie der Produktionsprozess durch den Zirkulationsprozess ergänzt wird.

Im dritten Band geht es darum, „die konkreten Formen zu entdecken und darzustellen, die aus dem Prozess der Kapitalbewegung als Ganzes entstehen“.

„Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln“, schreibt er, „nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewusstsein der Produktionsagenten selbst auftreten.“[3]

Die materialistische Methode von Marx besteht darin, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen. Das Kapital beginnt also mit der „Elementarform“ der kapitalistischen Ökonomie, der Ware, in der das Produkt menschlicher Arbeit – die Grundlage jeder Gesellschaft – die gesellschaftliche Form einer für den Tausch bestimmten Ware annimmt.

Die Bedeutung dieses Ansatzpunktes wurde von Lenin folgendermaßen erläutert:

„Marx analysiert im Kapital zunächst das einfachste, gewöhnlichste und grundlegendste, massenhafteste, alltäglichste, milliardenfach zu beobachtende Verhältnis der bürgerlichen (Waren-)Gesellschaft: den Warenaustausch. Die Analyse deckt in dieser einfachen Erscheinung (in dieser ‚Zelle‘ der bürgerlichen Gesellschaft) alle Widersprüche (resp. die Keime aller Widersprüche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung (sowohl das Wachstum als auch die Bewegung) dieser Widersprüche und dieser Gesellschaft im ∑ ihrer einzelnen Teile, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende.“[4]

Anhand der Analyse der Ware und ihres Werts enthüllt Marx den Ursprung des Geldes als Vergegenständlichung des Werts. Die Analyse des Geldes offenbart den Charakter des Kapitals als sich selbst verwertender Wert.

Der entscheidende Durchbruch von Marx war die Entdeckung der Quelle dieser Selbstverwertung. Die Frage, die Marx Vorgänger in der klassischen politischen Ökonomie, insbesondere deren führende Vertreter Adam Smith und David Ricardo, nicht beantworten konnten, lautete, wie auf der Grundlage von Marktbeziehungen, in denen Waren zu gleichen Werten ausgetauscht werden, ein Überschuss entstehen konnte. Insbesondere, wie aus dem Warentausch in der kapitalistischen Gesellschaft Profit entstehen konnte, wenn nach den Gesetzen des Marktes Gleichwertiges gegen Gleichwertiges getauscht wird.

Marx stellte fest, dass die Ware, die der Arbeiter an den Kapitalisten verkaufte, nicht seine Arbeit war, wie zunächst angenommen, sondern vielmehr seine Fähigkeit zu arbeiten bzw. seine Arbeitskraft.

Wie der Wert jeder andere Ware wird auch der Wert der Arbeitskraft durch die Zeit bestimmt, die für ihre Reproduktion notwendig ist. Sie wird also bestimmt durch den Wert der Waren, die benötigt werden, um den Arbeiter am Leben zu erhalten und ihm den Unterhalt einer Familie zu ermöglichen, um die nächste Generation von Lohnarbeitern heranzuziehen.

Der kapitalistische Eigentümer der Produktionsmittel, an den der Arbeiter seine Arbeitskraft verkauft, vereinnahmt den Mehrwert. Der Mehrwert ergibt sich daraus, dass der Wert der Arbeitskraft geringer ist als der vom Arbeiter im Laufe des Arbeitstags geschaffene Wert. Während der Arbeiter den Wert seiner Arbeitskraft in beispielsweise drei Stunden reproduziert, fällt der im Rest des Arbeitstag geschaffene Wert an den Kapitalisten.

Diese bahnbrechende Entdeckung hatte weitreichende politische Implikationen. Marx war keineswegs der erste Sozialist. Andere vor ihm hatten die Wirkungsweise des kapitalistischen Systems scharf kritisiert und auf seine Irrationalität, die zunehmende Ausbeutung der Arbeiterklasse und die zunehmende soziale Ungleichheit hingewiesen. Aber wie Engels erklärte:

„Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden. Er konnte sie einfach nur als schlecht verwerfen.“[5]

„Es handelte sich aber darum“, fuhr Engels fort, „die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war.“ Die Kritiker hatten nur die üblen Folgen angeprangert, anstatt das Geheimnis der Sache selbst zu lüften. Dies gelang durch die Entdeckung des Mehrwerts.

Mit diesen beiden großen Entdeckungen, schloss Engels, nämlich der materialistischen Geschichtsauffassung und der Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts, wurde der Sozialismus zur Wissenschaft, die es in allen ihren „Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten“ gelte.

Marx Entdeckungen zeigten, dass die Arbeiterklasse nicht nur eine ausgebeutete Klasse war. Indem er die Quelle dieser Ausbeutung in den gesellschaftlichen Beziehungen des Kapitalismus selbst aufdeckte, wies er nach, dass sie auch eine revolutionäre Klasse war. Das heißt, um ihre eigene Emanzipation zu erreichen, musste die Arbeiterklasse das gesamte System der sozialen Beziehungen stürzen, das sich aus der Lohnarbeit ergab – auf der der Kapitalismus beruht.

Eine der wichtigsten „Einzelheiten“, auf die sich Engels bezog, war die Art und Weise, wie sich der Widerspruch zwischen dem Wachstum der Produktivkräfte im Kapitalismus und den auf Lohnarbeit basierenden Produktionsverhältnissen – der Widerspruch, der die treibende Kraft der sozialen Revolution bildet – in der kapitalistischen Wirtschaft manifestierte.

Dies wurde von Marx mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate offen gelegt. Er wies nach, dass diese Tendenz – die Selbstzerstörung der kapitalistischen Produktionsweise, deren treibende Kraft der Profit ist – aus der Entwicklung der Produktivkräfte herrührt, die sie selbst hervorgebracht hat.

Die einzige Quelle von Mehrwert und Profit, die Grundlage für die Selbstverwertung des Kapitals, ist die lebendige Arbeit der Arbeiterklasse. Aber je mehr das Kapital wächst, desto mehr Mehrwert muss es aus der Arbeiterklasse pressen, um weiter zu expandieren. In dem Maße, in dem die Gewinnung von Mehrwert nicht mit dem Wachstum des Kapitals Schritt hält, sinkt die Profitrate tendenziell. Dies führt zu einer Krise, auf die das Kapital mit einer Reorganisation der Produktion reagiert, um die Ausbeutung zu intensivieren und seinen Fortbestand zu sichern. Aber gerade die Entwicklung dieser immer schwerwiegenderen Krisen treibt die Arbeiterklasse in den Kampf gegen das kapitalistische System und seine herrschende Klasse.

Dies ist die Quelle der alltäglichen Erfahrung, dass, wie Marx es ausdrückte, dieses System auf der einen Seite die Akkumulation von Reichtum sowie ein enormes Wachstum der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität – und auf der anderen Seite wachsendes Elend und zunehmende soziale Ungleichheit hervorbringt.

Die Aufdeckung des Geheimnisses des Mehrwertes als Grundlage des kapitalistischen Akkumulationsprozesses und der daraus resultierenden Widersprüche hatte, wie gesagt, weitreichende politische Implikationen. Sie konkretisierte, wie Marx in seinen frühen Schriften dargelegt hatte, die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse:

„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“[6]

Der Schlüssel zu Harveys politischen Ansichten ist seine Ablehnung und offene Feindseligkeit gegenüber Marx Analyse der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse, die für Das Kapital zentral ist. Mit seinem „Sozialismus“ tappt er daher im Nebel der vormarxistischen Vorstellungen.

„Das Kapital hat die technischen und organisatorischen Kapazitäten aufgebaut, um eine viel bessere Welt zu schaffen“, sagt er im Jacobin-Interview. „Aber es tut dies durch gesellschaftliche Herrschaftsbeziehungen und nicht durch Emanzipation. Das ist der zentrale Widerspruch. Und Marx sagt immer wieder: Warum nutzen wir nicht all diese technologischen und organisatorischen Möglichkeiten, um eine Welt zu schaffen, die freiheitlich ist, anstatt eine Welt, in der es um Herrschaft geht?“

Hier folgt Harvey dem Weg früherer „Sozialtheoretiker“, die zwar einige der Irrationalitäten der kapitalistischen Produktionsweise benannten, aber Marx wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus von seinem zentralen Zweck trennten: von der Bewaffnung der Arbeiterklasse für die revolutionären Kämpfe, in die sie von den Krisen des Profitsystems getrieben wird.

Die Frankfurter Schule zum Beispiel suchte den Motor für die Umwandlung der Gesellschaft – sofern sie eine solche Perspektive nicht völlig aufgegeben hatte – in der „Kulturkritik“ der Irrationalität des Kapitalismus und des „Konsumdenkens“.

Paul Sweezy (ein „freischwebender Marxist“ aus den 1960er Jahren) schrieb die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Industrienationen ab und verherrlichte die nationalen Befreiungsbewegungen in der damaligen Dritten Welt.

Herbert Marcuse, der Liebling der Neuen Linken in den 1960ern, behauptete, die Arbeiterklasse sei vollständig in die moderne kapitalistische Gesellschaft integriert und bilde sogar eine potenzielle Grundlage für den Faschismus. Veränderungen müssten daher von den marginalisierten Teilen der Gesellschaft ausgehen.

Auf der Grundlage seiner historisch-materialistischen Analyse war sich Marx der Tatsache bewusst, dass der Fortschritt der Produktivkräfte im Kapitalismus die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft geschaffen hatte, frei von Klassenausbeutung und Herrschaft, „in der die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist“.

Aber er lehnte jede Perspektive als utopisch ab, die diese Umwandlung herbeiführen wollte, indem sie lediglich den Gegensatz zwischen dem, was unter einer anderen Gesellschaftsform möglich wäre, und den gegebenen Verhältnissen im Kapitalismus herausstellte. Unter einer solchen Perspektive wird die sozialistische Umwälzung zu einer Frage der Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft durch sogenannte aufgeklärte Individuen.

Die entscheidende Frage für Marx war, welche materielle gesellschaftliche Kraft, welche Klasse, die die kapitalistische Gesellschaft selbst erzeugt hatte, diese Umwälzung herbeiführen wird. Heute geht es nicht darum, dass der Sozialismus für die Menschheit irgendwie vorteilhafter wäre – das war schon zu Marx Zeiten klar –, sondern dass der Sozialismus eine historische Notwendigkeit ist, wenn die menschliche Zivilisation überleben und sich weiterentwickeln soll.

Die Widersprüche des Kapitalismus sind nicht, wie Harvey sie darzustellen versucht, der Kontrast zwischen dem, was im Sozialismus im Vergleich zur gegenwärtigen Realität möglich wäre, sondern wurzeln in der unerbittlichen Dynamik des Profitsystems, die zur Verelendung der Arbeiterklasse, zur Entwicklung autoritärer Herrschaftsformen und zu Kriegen führt, die drohen, die menschliche Zivilisation zu vernichten und in die Barbarei zurückzuwerfen. Damit der Sozialismus Wirklichkeit wird und nicht nur ein Traum vom menschlichen Fortschritt, muss es in der kapitalistischen Gesellschaft eine soziale Kraft geben, die durch ihre materiellen Interessen zu seiner Verwirklichung getrieben wird. Diese Kraft ist die Arbeiterklasse, d. h. die Klasse, die von der Kontrolle und dem Eigentum der Produktionsmittel getrennt ist und nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft existieren kann.

Eine der bedeutendsten historischen Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte war die Verwandlung der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung in Proletarier, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Hunderte von Millionen Bauern in China, Indien und anderswo wurden zu Lohnarbeitern, während in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Hunderte von Millionen Menschen, die einst in angeblich sicheren „Mittelklasse“-Berufen beschäftigt waren, durch unaufhörlichen Stellenabbau und Einkommenskürzungen feststellen mussten, dass auch sie Proletarier sind, die nichts anderes zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft – genau wie die Millionen Fabrikarbeiter.

In seiner Kritik an den utopischen Sozialisten seiner Zeit bezeichnete Marx die experimentelle Verwirklichung ihrer Utopie als Traum, da sie jedes politische Handeln der Arbeiterklasse ablehnten.

Deshalb ist es bezeichnend, dass Harvey in seinem Interview nichts über die wiederaufflammenden Kämpfe der Arbeiterklasse sagt, die sich in den weit verbreiteten Streiks der Lehrer in den USA, den Streikbewegungen in Europa und in Ländern wie Indien nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch die Gewerkschaften und die sozialdemokratischen und Arbeiterparteien manifestieren, und dass er die Aufmerksamkeit auf „Lifestyle“-Bewegungen lenkt.

„Heute gibt es Aufstände gegen bestimmte Dinge“, schreibt er. „Die Leute fangen an zu sagen: ‚Schaut her, wir wollen etwas anderes.‘ Ich finde überall in den Städten und auf dem Land kleine Gemeinschaften, in denen die Menschen versuchen, einen anderen Lebensstil zu entwickeln. Am meisten interessieren mich diejenigen Gemeinschaften, die neue Technologien wie Mobiltelefone und das Internet nutzen, um einen alternativen Lebensstil mit anderen Formen sozialer Beziehungen zu schaffen als jene, die für Unternehmen mit hierarchischen Machtstrukturen charakteristisch sind, wie wir sie aus dem Alltag kennen. Um einen Lebensstil zu kämpfen ist etwas anderes als um Löhne oder Arbeitsbedingungen in einer Fabrik.“

Dabei lässt es Harvey natürlich nicht bewenden. Denn sonst würde er schnell jede Glaubwürdigkeit in den Augen derer verlieren, die ihn für einen Vermittler von Marx Lehre halten. Und so behauptet er, dass diejenigen, die sich wegen Fragen des Lebensstils, der Diskriminierung oder der Umwelt engagieren, unter dem Aspekt der Gesamtheit des Kapitals erkennen müssten, wie diese Kämpfe mit den Produktionsverhältnissen zusammenhängen. In ihrer Gesamtheit ergäben sie ein Bild davon, worum es in einer kapitalistischen Gesellschaft geht „und welche Arten von Beschwerden und Entfremdung es in den verschiedenen Komponenten der Kapitalzirkulation gibt, die Marx benennt“.

Harvey erkennt an, dass es einen Kampf der Arbeiterklasse gibt (auch wenn er in dem Interview nirgends darauf Bezug nimmt), aber für ihn geht es dabei ausschließlich um Löhne und Bedingungen innerhalb einer bestimmten Fabrik und damit um einen rein gewerkschaftlichen Kampf.

Aber wie die Arbeiter auf der Grundlage ihrer Erfahrungen erkennen, dehnen sich sogar Kämpfe, die auf dieser begrenzten Basis beginnen, rasch in Richtung umfassenderer, politischer Themen aus. Arbeiter, die für bessere Löhne und Bedingungen kämpfen, werden nicht nur mit der jeweiligen Unternehmensführung konfrontiert, sondern auch mit der Gewerkschaftsbürokratie und der dahinter stehenden kapitalistischen Regierung und dem Staat.

Jeder Kampf der Arbeiterklasse, ob es nun um Löhne, soziale Bedingungen, Gesundheit, Renten oder Internetzensur zur Verhinderung ihrer Selbstorganisation geht, bringt die Arbeiter immer direkter in Konflikt mit der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft und wirft die Frage nach der politischen Macht auf, d. h. welche Klasse herrschen soll. Wie Marx es ausdrückte, ist der Klassenkampf stets ein politischer Kampf.

Das politische Ziel von Harveys Arbeit wird nun klarer erkennbar. Sie zielt darauf ab, die Kämpfe der Arbeiterklasse der Politik der Pseudolinken und der Mittelschicht unterzuordnen, die sich mit Fragen der sexuellen Orientierung, des Lebensstils und der individuellen, nicht aber der Klassenidentität beschäftigen.

Diese politische Orientierung macht deutlich, warum Harvey, soweit er sich mit Fragen der politischen Ökonomie und der Struktur des Kapitals beschäftigt, versucht, den zentralen Stellenwert der Produktion herunterzuspielen und in der Frage der Zirkulation des Kapitals aufzulösen.

Wenn man Marx Konzeption des Kapitals wirklich verstehen will, so behauptet er, „dann kann man es nicht nur als reine Analyse der Produktion auffassen. Es geht um die Zirkulation. Es geht darum, Dinge auf den Markt zu bringen und zu verkaufen, und dann geht es um die Aufteilung des Gewinns.“

Die Fragen der Zirkulation und der Verteilung des Profits sind natürlich wichtig für das Verständnis der kapitalistischen Wirtschaft, ihrer Bewegungsgesetze und Widersprüche Aber es geht hier um Folgendes: Was ist das wesentliche Bestimmungsmerkmal der Struktur der Gesellschaft, ihrer politischen Beziehungen und ihres Staatsapparates, und die treibende Kraft ihrer Entwicklung?

Im dritten Band des Kapitals geht Marx direkt auf diese Frage ein:

„Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt.“

Es ist das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsmittel zu den unmittelbaren Produzenten, so Marx weiter, „worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden.“[7]

Wie Marx weiter ausführt, können dieselben Produktionsweisen je nach externen Faktoren und historischen Umständen Schwankungen und Abstufungen in den politischen Herrschaftsformen aufweisen. Aber es steht außer Frage, dass der wesentliche Inhalt dieser verschiedenen politischen Ausdrucksformen die Art und Weise ist, wie Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird.

Band I des Kapitals befasst sich mit der Art und Weise, wie unter dem Kapitalismus, einer spezifischen historischen Produktionsweise, diese unbezahlte Mehrarbeit durch das System der sozialen Beziehungen, das auf Lohnarbeit beruht, aus den unmittelbaren Produzenten, der Arbeiterklasse, herausgepresst wird, um Mehrwert zu erzielen.

Harvey will diese fundamentale strukturelle Grundlage herunterspielen oder ganz auflösen, indem er darauf hinweist, dass es im Kapitalismus mehr gibt als nur die Produktion von Mehrwert – es gibt auch den Prozess der Realisierung des Mehrwerts, der in Band II, und den der Verteilung, der in Band III beschrieben wird.

Die wesentliche Grundlage des Kapitalismus findet sich jedoch in der Produktion – nicht in der Produktion von Waren als solcher oder in den Produktionsmitteln, in der Produktion für die materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft als lebendigem Organismus –, sondern in der Produktion von Mehrwert, der die wesentliche Triebkraft dieser Gesellschaft bildet.

Band II handelt von den Beziehungen bei der Realisierung des Mehrwerts. Aber das, so muss betont werden, bedeutet seine Rückverwandlung aus der Warenform in Geld, damit der Prozess der Mehrwert-Extraktion wieder von vorn beginnen kann. Ebenso geht es im dritten Band um die Aufteilung des Mehrwerts auf verschiedene Eigentümer in Form von Profit, Zins und Grundrente.

In Harveys jüngsten Schriften wird noch deutlicher, welche Funktion die Hervorhebung des Zirkulations- und Realisierungsprozesses und das Herunterspielen der zentralen Bedeutung der Produktion von Mehrwert im Kontext seiner politischen Perspektive erfüllt.

In seinem neuesten Buch, Marx, Capital and the Madness of Economic Reason, schreibt Harvey:

„Kämpfe am Punkt der Valorisierung haben zwangsläufig einen Klassencharakter … Diejenigen am Punkt der Realisierung konzentrieren sich auf Käufer und Verkäufer und lösen Kämpfe gegen die räuberischen Praktiken und die Anhäufung durch Enteignung auf dem Markt aus.... Solche Kämpfe sind nicht gut theoretisch untermauert. Im Bereich der sozialen Reproduktion werden Fragen der sozialen Hierarchie, des Geschlechts, der Sexualität, der Verwandtschaft und der Familie u.ä. viel stärker in den Vordergrund gerückt und der politische Schwerpunkt verlagert sich eher auf die Qualitäten des täglichen Lebens als auf den Arbeitsprozess. Diese Kämpfe wurden in der marxistischen Literatur oft ignoriert.“

Aus dieser Auflösung des zentralen Stellenwerts der Produktion von Mehrwert innerhalb des kapitalistischen Systems folgt, dass „die sozialen und politischen Kämpfe gegen die Macht des Kapitals innerhalb der Gesamtheit des Kapitalverkehrs unterschiedliche Formen annehmen und verschiedene Arten von strategischen Allianzen erfordern, wenn sie erfolgreich sein sollen“.[6]

Es steht außer Frage, welche Art von „strategischen Allianzen“ Harvey im Sinn hat – mit Teilen des radikalen Kleinbürgertums und seiner Konzentration auf Lebensstilpolitik und sogar mit Teilen der Bourgeoisie selbst.

Dies geschieht auf der Grundlage einer falschen Auslegung des Kapitals: Es ziele nicht darauf ab, die Arbeiterklasse politisch und theoretisch für eine soziale Revolution zu rüsten, sondern lediglich darauf, die Irrationalitäten der kapitalistischen Gesellschaft herauszuarbeiten.

Auf diese Weise versucht Harvey, diejenigen in die Irre zu führen, die Marx kennenlernen möchten und Harveys Arbeit in der Hoffnung auf eine politische Orientierung verfolgt haben. Er versucht, sie von einem Kampf in der Arbeiterklasse abzulenken, statt diese Klasse als unabhängige revolutionäre Kraft zu mobilisieren. Er versucht, die an Marx Interessierten in das Milieu der pseudolinken und bürgerlichen radikalen Politik zu lenken und dort für „strategische Bündnisse“ zu kämpfen, die die weitere Herrschaft der Bourgeoisie und des Kapitals sichern.

Anmerkungen:

[1] Marx, „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in Marx/Engels, Ausgewählte Schriften I, Dietz Verlag, Berlin, 1979, S. 335-336.

[2] Karl Marx, Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des „Kapitals“, in: Marx, Engels, Ausgewählte Schriften I, Dietz Verlag, Berlin, 1979, S. 425.

[3] Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 25, „Das Kapital“, Bd. III, Erster Abschnitt, S. 33.

[4] W.I. Lenin, Werke, Band 38, Dietz Verlag Berlin, 1964, S. 340.

[5] Friedrich Engels, Einleitung zum Anti-Dühring, Dietz Verlag Berlin, 1980, S. 26.

[6] Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, Kapitel 4, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 2, Dietz Verlag, Berlin, 1972, S. 38.

[7] Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 25, „Das Kapital“, Bd. III, Sechster Abschnitt, Dietz Verlag, Berlin, 1983, S. 799.

[8] David Harvey, Marx, Capital and the Madness of Economic Reason (New York: Oxford University Press, 2018) S. 48.

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