Wirtschaftlicher Aufschwung kommt bei Arbeitern nicht an

Trotz Wirtschaftswachstum und steigenden Beschäftigungszahlen explodiert in Deutschland die Armut. Das ist das Fazit des fünftens Jahresgutachtens zur sozialen Lage, das der Paritätische Wohlfahrtsverband am Dienstag vorstellte.

Die positive Entwicklung der Wirtschafts- und Beschäftigtenzahlen habe zu keiner Milderung der sozialen Ungleichheit geführt, erklärte Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes. Der wirtschaftliche Aufschwung komme bei den Arbeitern und ihren Familien nicht an. Eindringlich warnte der Verband vor einer „Gefährdung des sozialen Zusammenhalts“.

90 Prozent der Bevölkerung, so der Wohlfahrtsverband, sorgen sich „um den sozialen Zusammenhalt“. Das ist eine beschönigende Umschreibung von Wut und Empörung. Während Konzerne, Aktienbesitzer und Manager Rekordsummen einstreichen, kämpft der überwältigende Teil der arbeitenden Bevölkerung mit Reallohnsenkungen, Billiglohnarbeit, Armut und Arbeitsplatzabbau.

Das sind die wichtigsten Zahlen des Gutachtens:

  • 2017 ist die Zahl der Erwerbstätigen zum fünften Mal in Folge gestiegen, von 43,6 auf 44,3 Millionen. Doch die Einkommen driften seit Beginn des Jahrhunderts, seit den Arbeitsmarktreformen und den Hartz-Gesetzen der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder (SPD), stark auseinander. „Bis in die Einkommensmitte hat es Reallohnverluste gegeben“, stellt der Wohlfahrtsverband fest. Die atypische Beschäftigung (Teilzeit, befristet, nicht sozialversicherungspflichtig) ist stark gewachsen. „Wer neu eingestellt wird, erhält heute nur in 44 Prozent der Fälle einen unbefristeten Vertrag.“ 39,1 Prozent aller Beschäftigten arbeiten in Teilzeit.
  • „Nahezu ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse“, insgesamt 6,7 Millionen, sind sogenannte Mini-Jobs mit einem Monatseinkommen von maximal 450 Euro. Betroffen sind überwiegend Frauen. 2,7 Millionen gehen einem Mini-Job neben ihrem eigentlichen Job nach.
  • Das Jahresgutachten zählt über eine Million Leiharbeiter. „Etwa zwei Drittel der Leiharbeitenden erhalten Niedriglöhne.“ Der Anteil der im Niedriglohnbereich Arbeitenden ist zwar gesunken, „Fakt bleibt aber: 22,6 Prozent der Beschäftigten – mehr als ein Fünftel – arbeitet im Niedriglohnbereich mit einem Stundenlohn von unter 10,50 Euro.“
  • Der gesetzliche Mindestlohn – aktuell 8,84 Euro pro Stunde – wird noch immer nicht überall bezahlt. „2016 erzielten 2,6 Mio. Menschen – also etwa 10 Prozent aller Erwerbstätigen – deutlich geringere Vergütungen, weil bei der Berechnung nicht die tatsächliche Arbeitszeit zugrunde gelegt wurde.“
  • 1,2 Millionen Menschen beziehen zusätzlich zum Erwerbseinkommen aufstockende ALG II-Leistungen (Hartz IV), „die damit nicht nur eine ‚Grundsicherung für Arbeitsuchende‘, sondern eben auch für Arbeitende geworden ist“.
  • Die Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 hat höchstens 60.000 von damals 1,3 Millionen Aufstockern aus der Grundsicherung geführt. Insbesondere die steigenden Mietkosten werden durch Anpassungen des Mindestlohns nicht annähernd kompensiert.
  • Im Ergebnis wurde in Deutschland in den letzten 15 bis 20 Jahren „der größte Niedriglohnsektor Westeuropas geschaffen“.
  • Der Anstieg der Beschäftigung hat für die Mehrheit der Arbeitslosen kaum Auswirkungen. 2016 sank die Zahl der Langzeitarbeitslosen, die seit zwölf Monaten durchgehend arbeitslos sind, zwar erstmals seit fast einem Vierteljahrhundert wieder unter eine Million, nicht zuletzt aufgrund statistischer Tricks. Trotzdem gelten weiterhin mehr als ein Drittel aller Arbeitslosen als langzeitarbeitslos und haben es besonders schwer, Arbeit zu finden.
  • Die Armutsquote lag 2016 wie im Vorjahr bei 15,7 Prozent. Annähernd 13 Mio. Menschen lebten damit in Deutschland unter der Armutsgrenze, die für einen Alleinstehenden bei einem Einkommen von 980 Euro im Monat liegt.
  • Armut macht krank. Das Gutachten zitiert aus einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI): „Bezieht man die Unterschiede auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt, dann kann man die Aussage treffen, dass Männer aus der niedrigsten im Vergleich zu Männern aus der höchsten Einkommensgruppe eine um elf Jahre verringerte Lebensspanne haben. Bei Frauen beträgt die entsprechende Differenz acht Jahre.“

Der Paritätische Wohlfahrtsverband zieht die diplomatische Schlussfolgerung: „Konjunktur und Beschäftigung entwickeln sich ausgesprochen positiv, an den Quoten für Einkommensarmut ändert sich aber wenig.“ Die wirtschaftliche Prosperität komme „offenkundig nicht allen zugute“. Tatsächlich gleicht Deutschland einem sozialen Pulverfass. Die soziale Ungleichheit wächst und wächst.

Deshalb sieht der Verband „den sozialen Zusammenhalt“ in Gefahr. Das Jahresgutachten versteht sich ausdrücklich als „Handlungsempfehlung an die Politik zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts“. Der Großteil des 72-seitigen Gutachtens widmet sich daher der Bewertung der Politik und gibt aktuelle Handlungsempfehlungen. Es schlägt alle möglichen Reformen und soziale Verbesserungen vor.

Doch die Große Koalition im Bund und die Landesregierungen denken nicht daran, etwas am sozialen Niedergang breiter Bevölkerungsschichten zu ändern. Sie beschleunigen ihn sogar und rüsten den Staatsapparat massiv auf, um sozialen Widerstand zu unterdrücken.

Die Herrschenden bereiten sich auf unausweichliche soziale Auseinandersetzungen vor, indem sie die Polizei und die Geheimdienste personell und technisch stärken, ihre Befugnisse ausweiten und demokratische Rechte beschneiden. Sie zensieren das Internet und weiten die staatliche Überwachung aus. Diesem Ziel dienen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), die von vielen Ländern beschlossenen neuen Polizeigesetze und die Stärkung der Verfassungsschutzbehörden. Jede Opposition soll im Keim erstickt, unterdrückt oder einfach niedergeknüppelt werden.

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