Frankreich:

Gelbwesten protestieren gegen Polizeigewalt

Am 12. Samstag in Folge gingen die Gelbwesten Ende letzter Woche zu Ehren der Opfer der Polizeibrutalität auf die Straße. In ganz Frankreich nahmen nach Angaben des Innenministeriums 58.600 Menschen an Demonstrationen teil. In Bordeaux waren es 4.000, in Lille 2.000 und in Marseille, wo zeitgleich 2500 Menschen gegen die Wohnungsnot protestierten, 2.000 Demonstranten. In Toulouse, wo die Teilnehmerzahl besonders groß war, gab die Polizeipräfektur keine Schätzung heraus.

Zwölfter Marsch – Weiße Nacht gegen Polizeigewalt

In Valence mobilisierte die Präfektur eine schwer bewaffnete Polizeieinheit gegen eine Regionalversammlung von 5.400 Gelbwesten. Die Stadt wurde „unter eine Glocke gestellt“, so der rechtsgerichtete Bürgermeister Nicolas Daragon.

In Straßburg gab ein Pressesprecher der Gelbwesten an, dass sich 8.000 Menschen an einer nicht angemeldeten Demonstration beteiligt hätten. Im Laufe des Tages kam es zu mehreren Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften und zu 19 Verhaftungen.

Ankunft am Platz der Bastille in Paris

In Paris marschierten mehr Gelbwesten als vor einer Woche, nach Angaben des Forschungsinstituts Occurence waren es 13.800. Es gab 33 Festnahmen und 21 Inhaftierungen. Auf Transparenten und Schildern war zu lesen: „Vereint und aufrecht gegen Unterdrückung“, „Man schießt nicht auf das eigene Volk“, „Schluss mit Gummigeschossen und Tränengasgranaten“, „Wir verlieren unsere Augen und ihr seid blind“ – ein Verweis auf die mehr als 20 Demonstranten, die wegen Gummigeschossen ein Auge verloren haben. Auf dem Platz der Republik kam es zu Zusammenstößen. AFP berichtete, dass Feuerwehrleute einen Demonstranten retteten, nachdem ihn ein Gummigeschoss ins Gesicht getroffen hatte.

Nachdem die Gewerkschaften zum ersten Mal seit Beginn der Bewegung für den 5. Februar zu Protesten aufgerufen haben, nahmen einige Vertreter der Gewerkschaften und mit ihnen verbündeter kleinbürgerlicher Parteien wie Lutte ouvrière (Arbeiterkampf, LO) an dem Marsch teil. LO-Mitglieder versuchten, das Flugblatt der WSWS (Non aux tentatives des appareils syndicaux de récupérer les ‚gilets jaunes‘!) anzuschwärzen, das sich gegen die Versuche der Gewerkschaften richtet, die Bewegung zu vereinnahmen. Aber die Massen der Gelbwesten lehnen die Gewerkschaftsbürokratien konsequent ab und spüren zunehmend die Notwendigkeit einer neuen Perspektive.

In Paris sprach die World Socialist Web Site mit Baptiste, einem Zeitarbeiter, der sagte, er protestiere gegen den Kapitalismus: „Wir sind gegen Macron, seine marktwirtschaftliche Politik, alles, was damit einhergeht, also den Kapitalismus, die ganze Politik für die Unternehmer, die nur noch mehr Probleme verursacht. Wenn man wie ich auf Arbeitssuche ist, erlebt man hautnah, was die Realität des Arbeitsmarkts ist: Je tiefer man rutscht, desto mehr steckt man fest. Ich denke, diese Bewegung kann Macron und all seinen Reformen, den Bossen usw. wirklich ein Ende setzen ... Jetzt hoffen wir, dass es uns gelingen wird.“

Als die WSWS Baptiste fragte, welche Bilanz er nach zwei Monaten Kampf ziehe, antwortete er: „Wir stagnieren ein wenig, nachdem wir Samstag für Samstag ohne eine klare Perspektive angetreten sind, was zu tun ist. Mit Sicherheit gibt es viele Möglichkeiten, eine kampffähigere Bewegung aufzubauen.“

Baptiste betonte den internationalen Charakter der Probleme: „Es ist eine internationale Frage, denn es gibt in jedem Land Widerstand gegen die marktliberale Politik. Deswegen haben sie in Großbritannien die Linke, die sehr stark wird. In den Vereinigten Staaten gibt es die Stimmen für Trump und alle möglichen populistischen Kräfte und dergleichen. ... Die Politik, die wir in Frankreich seit unzähligen Jahren erdulden, führt zu nichts. Oberflächlich haben wir die Bewegung der ‚Gelbwesten‘, aber in Wirklichkeit ist es ein allgemeines Problem aller kapitalistischen Gesellschaften.“

Auf die Frage nach Macrons neuem Antihooligan-Gesetz, mit dem das Demonstrationsrecht eingeschränkt wird, antwortete er: „Es zerstört die Freiheit. ... Der so genannte Schutz der Menschenrechte zeigt sein wahres Gesicht. Das war von Anfang an absehbar, die polizeiliche Repression ist sehr stark.“

Auf die Bemerkung der WSWS-Reporter, dass Macron den Militärdiktator General Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten besucht hatte, entgegnete Baptiste: „Warum verkaufen wir dorthin Waffen, wenn es sich doch um eine schreckliche Diktatur handelt, in der Tausende von Menschen im Gefängnis sitzen? Er hält schöne Reden über ‚Menschenrechte‘, um am Ende einem Regime, das seine Bevölkerung vernichten will, Waffen zu geben.“

Die Herrschenden haben seit dem 13. November 2018 9228 Gummigeschossen auf das Volk abfeuern lassen

Die WSWS sprach auch mit Benoît, der aus der Auvergne nach Paris gekommen war: „Ich bekomme Sozialhilfe ... Ich bin auch deshalb gekommen, um mich für all diejenigen einzusetzen, die mich unterstützen. Ihre Opposition wächst seit langem: 25, 30 Jahre. Ich bin 40 und habe vor 25 Jahren begriffen, dass wir nicht in einer gerechten Welt leben. Und diese Ungerechtigkeit ist auf jeden Fall global. Ist es normal, dass Menschen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, jetzt von 300 bis 400 Euro pro Monat leben?“

Macrons Ankündigung einer „großen nationalen Debatte“ über die Wünsche und Anliegen der Gelbwesten quittiert er mit den Worten: „Ich höre den Politikern seit 25 Jahren zu. Sie haben keine Ahnung, wie unser Leben aussieht. Sie wissen nicht, wie das Leben eines Arbeiters oder Landwirts aussieht. Sie klopfen schöne Sprüche, aber wir wollen echte Taten. Deshalb organisieren wir eine Bewegung. Jeder hat das Recht, auf dieser Erde gut zu leben, zu essen und vernünftig zu wohnen.“

Benoîts Ziel ist echte Demokratie: „Jeder muss die Macht haben, alles muss geteilt werden. Wir müssen mitreden. ... Wir sind diejenigen, die am besten wissen, welche Probleme wir im Leben haben und wie sinnloses Leiden beendet werden kann.“ Die Kandidatur der Gelbwesten bei den Europawahlen beurteilt er skeptisch: „Nach einer kleinen Weile werden auch sie alle gekauft werden.“

Unter der Woche bekommen wir eine große Debatte aufgezwungen, und am Samstag schießt man auf uns

Auf die Frage nach den Gewerkschaften, die am 5. Februar einen eintägigen Proteststreik organisieren, antwortete Benoît: „Ich glaube nicht an die Gewerkschaften. Ich habe in Fabriken gearbeitet. Man sieht deutlich, dass sie vom Management abhängig sind. Die Gewerkschaften werden nie etwas anderes tun als das, was sie bisher getan haben.“

Wir trotzen demokratischen Gummigeschossen, verstümmelnden Granaten, Tränengas und Schlagstöcken

Diese Meinung teilt Guillaume, ein Metallarbeiter aus dem Département Eure-et-Loir. Er war gekommen, um „unserer Verwundeten, Verstümmelten und Toten zu gedenken“. Es hätte jeden von uns treffen können, ob wir nun Pazifisten sind oder nicht, ob wir zu den Brennpunkten der Proteste gehen oder nicht, wir alle werden beschossen. Deshalb sind wir hier, um allen unserer Mitprotestierenden zu gedenken, die in dieser Bewegung verstümmelt wurden.“

Guillaume traut den Gewerkschaften nicht: „Wir haben ein heruntergekommenes politisches System, dem wir nicht trauen, und ein Gewerkschaftssystem, dem wir nicht trauen. Sie haben uns nicht unterstützt, und wir wollen nicht, dass sie uns vertreten. ... Früher, zu Zeiten unserer Eltern, waren in den Betrieben viele Gewerkschaftsmitglieder. Aber heute... sind nicht einmal 10 Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Die Gewerkschaften sollten sich mal ein paar Fragen stellen.“

Guillaume wies auch auf den internationalen Charakter der heutigen Kämpfe hin: „Wir sprechen nicht genug von anderen Ländern, in vielen Ländern geraten die Dinge in Bewegung. Diese Bewegung begann im Wesentlichen auf nationaler Ebene. Vielleicht war das dumm, wir dachten an unser kleines Frankreich, aber eigentlich geht es weit darüber hinaus. Wir werden von großen internationalen Interessen regiert, im Wesentlichen von den Banken. Wir werden nicht wie Menschen behandelt, und davon haben die Leute auf der ganzen Welt genug.“

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