Mehr als 100.000 protestieren gegen Internetzensur in Europa

In nahezu hundert europäischen Städten protestierten am Samstag weit mehr als 100.000 Menschen gegen die Pläne der Europäischen Union, unter dem Deckmantel einer Urheberrechtsreform den freien Austausch von Informationen zu blockieren und Mechanismen einzuführen, die sowohl der Zensur als auch der Kommerzialisierung des Internets dienen.

Vordergründig soll das Urheberrecht der EU an das digitale Zeitalter angepasst werden. Zu diesem Zweck liegt eine neue Richtlinie vor, über die das Europaparlament am Dienstag abstimmen soll.

Der wirkliche Inhalt der vorgesehenen rechtlichen Änderungen besteht in einer verschärften Zensur. Damit reagieren die Regierungen Europas auf die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung und auf die Tatsache, dass der etablierte Politikbetrieb stark an Glaubwürdigkeit verloren hat. Im Vorfeld heftiger sozialer Auseinandersetzungen sollen die Möglichkeiten zur freien Information und unabhängigen Organisation von unten so weit wie möglich unterbunden werden.

Gegen diese Pläne regt sich massiver Widerstand. Am Donnerstag letzter Woche ging sogar die deutsche Site der von Millionen genutzten freien Online-Enzyklopädie Wikipedia für einen Tag aus Protest vom Netz.

In München demonstrierten am Samstag mehr als 40.000 Menschen, in Berlin waren es laut Angaben der Polizei mehr als 10.000, obwohl die Veranstalter nur mit 2000 gerechnet hatten. Weitere Aktionen gab es in Hannover, Rostock, Köln, Hamburg und zahlreichen kleineren Städten. In ganz Europa gab es Proteste von Malmö und Helsinki im Norden, Amsterdam im Westen, Bukarest und Krakau im Osten bis hinunter nach Lissabon und Thessaloniki im Süden.

Der Widerstand richtet sich besonders gegen Artikel 13 (bzw. mittlerweile Artikel 17) des Entwurfs der neuen EU-Urheberrechtsrichtlinie. In diesem Artikel ist vorgesehen, dass Plattformen wie YouTube oder Facebook beim Hochladen von Inhalten sicherstellen müssen, dass keine urheberrechtlich geschützten Werke unerlaubt auf ihre Seite gelangen. Praktisch umsetzbar wäre dies nur durch sogenannte Upload-Filter, die solche Inhalte automatisch aussortieren. Darüber, wie die Filter konfiguriert und welche Inhalte blockiert werden, gibt es keinerlei demokratische Kontrolle.

Hinzu kommt: Den technischen Aufwand für solche Filter könnten sich nur große und reiche Plattformen leisten. Mit ihrer Einführung würde eine Infrastruktur entstehen, die für umfassende Zensurmaßnahmen verwendet werden kann. Bereits jetzt arbeiten Anbieter wie Facebook und Google bekanntermaßen eng mit staatlichen Stellen zusammen, um unliebsame Inhalte zu löschen und User zu bespitzeln.

Zum Auftakt der Demonstration in Berlin sprachen Reporter der WSWS am Potsdamer Platz mit Fritz (11), Conrad (18) und Susanne (50). Conrad hatte sich genau mit Artikel 11 der geplanten Richtlinie auseinandergesetzt, die vorsieht, dass Presseverlage für die digitale Nutzung von Inhalten, die ihnen gehören, bezahlt werden müssen. Die Verbreitung von Nachrichten durch Verweis auf größere Online-Publikationen würde damit gebührenpflichtig.

Fritz und Conrad

„Es ist geplant, dass sich Website-Anbieter Lizenzen von großen Konzernen kaufen müssen. Große Plattformen können das, kleine User nicht“, meinte Conrad. Der freie Informationsfluss werde dadurch blockiert. Den Grund dafür sieht er in der intensiven Lobby-Arbeit von Großkonzernen.

Conrads Mutter Susanne, die im Hochschulwesen arbeitet, machte sich vor allem Sorgen um den freien Zugang zu Bildungsmöglichkeiten im Internet. Gerade in Berufsschulen würden diese Möglichkeiten stark genutzt, und die Hochschulen zögen nach. Viele Wissensbereiche würden sich so schnell entwickeln, dass gedruckte Bücher schnell veralteten. „Unternehmen wie die Bertelsmann Stiftung stehen schon lange bereit, um diesen Markt zu erschließen“, warnt Susanne. „Wir aber möchten den freien Zugang zu Wissen und den Austausch darüber erhalten.“

„Die Möglichkeit, sich selbst zu bilden, wird massiv beschnitten“, erklärte ein weiterer Demonstrant in Berlin der WSWS. „Der Wegfall von Informationsmöglichkeiten hätte katastrophale Folgen. Forschungsergebnisse beispielsweise müssen nicht nur für Wissenschaftler, sondern für die Allgemeinheit offen zugänglich sein. Aber es geht nicht nur um Wissen, sondern auch um die Möglichkeit, sich politisch frei eine Meinung zu bilden. Das soll durch Zensur verhindert werden.“

Das Plakat von Franziska

Franziska, die zusammen mit einigen Freunden aus Zwickau angereist war, sprach einen weiteren Aspekt an, der viele Demonstrationsteilnehmer beschäftigte.

„Ich befürchte eine starke Beschneidung der Verdienstmöglichkeiten von kleinen Kreativen und Kunstschaffenden“, so Franziska. „Die neue Gesetzgebung gefährdet sehr viele Arbeitsplätze in diesem Bereich. Leute, die sich z. B. mit YouTube-Videos etwas Geld verdienen, werden in ihrer Existenz gefährdet.“ Kreative Nischen, die vielen das Überleben sicherten, würden zerstört.

Das Plakat von Timm, Kristian und Paul

Timm, Kristian und Paul sind Meme-Fans. Memes wären von Upload-Filtern besonders stark betroffen, denn sie verwenden Bildelemente aus anderen Quellen, um etwas Neues zu erschaffen, und setzen sich dabei meist kritisch mit den bestehenden Verhältnissen auseinander.

„Aus bestehenden Werken ein neues Werk zu schaffen ist nach dem Urheberrecht legal“, betont Kristian. Aber ein automatisierter Upload-Filter kann so etwas nicht beurteilen. Er erkennt nicht, ob es sich um das ursprüngliche Werk oder ein Element eines neuen Werks handelt.“ Kleine Künstler würden durch die geplante neue Gesetzgebung nicht geschützt und in ihren Rechten nicht gestärkt, betonen die drei Jugendlichen.

Außerdem erwähnen sie, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zu der neuen Richtlinie gegen den Wortlaut des Koalitionsvertrags der SPD-CDU-Regierung verstoßen habe. Da werde viel gemauschelt und „da passiert vieles unter dem Tisch“, meint Paul. Alle drei stimmen zu, dass die Angriffe auf die Meinungsfreiheit im Internet Bestandteil umfassender Angriffe auf die demokratischen Rechte der arbeitenden Bevölkerung sind.

Siehe auch: EU plant weitreichende Verschärfung der Internetzensur

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