Physik, Poesie und die Suche nach der Quantengravitation

Zu Carlo Rovellis Werk „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“

Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint. Eine Reise in die Welt der Quantengravitation“
Von Carlo Rovelli
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann
2016, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg

Die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik sind die beiden Juwelen der modernen Physik. Sie ermöglichen uns einen tiefen Einblick in das innere Uhrwerk der Natur. Die Allgemeine Relativitätstheorie zeigt, dass sich der Raum unter dem Gewicht der Materie biegt und krümmt. Die Quantenmechanik beschreibt diese Materie auf atomarer und nuklearer Ebene, fasst sie also als aus kleinsten unteilbaren Bausteinen bestehend auf. Beide Theorien haben unzählige neue Aspekte der Welt ans Licht gebracht: Gravitationswellen, Schwarze Löcher, Kernphysik und kondensierte Materie, um nur ein paar zu nennen. Und erscheinen sie uns im Alltag auch als esoterisch, so sind sie doch die derzeit genaueste Beschreibung der bisher nachgewiesenen Grundbewegungen der Materie.

Carlo Rovellis Buch im italienischen Original

In den seltenen Fällen jedoch, bei denen es nötig ist, beide Theorien gemeinsam anzuwenden, wird sofort offenbar, dass beides nur Annäherungen sind. Es fehlt noch etwas, um sie zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden. Die gekrümmte Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie ist eine regelmäßige, beliebig klein teilbare Struktur, in der (und mit der) Masse und Energie interagieren. Das widerspricht fundamental der Quantenmechanik, die physikalische Phänomene mit unteilbaren Elementarteilchen und diskreten Quantenzuständen beschreibt, zwischen denen abrupte Übergänge (sogenannte Quantensprünge) stattfinden.

Während wir diesen Konflikt bisher nicht auflösen können, beschreibt der theoretische Physiker Carlo Rovelli in seinem Buch, „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint. Eine Reise in die Welt der Quantengravitation“, eine mögliche Lösung für das Problem der Quantengravitation: die Schleifenquantengravitation.

Das Grundprinzip der Schleifenquantengravitation besteht darin, dass die quantisierte Natur von Masse und Energie, wie sie in der Mathematik der Quantenmechanik beschrieben ist, mit der gekrümmten Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie so kombiniert wird, dass der Raum selbst quantisiert wird. Der Raum besteht also aus Raumquanten, ganz ähnlich denen der Energie und Masse. Der Raum ist also kein Kontinuum, sondern er besteht aus kleinsten Raumquanten, den Elementarteilchen des Raumes, die alle eine bestimmte Länge, Fläche und Volumen haben. Unvorstellbar klein zwar, aber nicht mehr beliebig klein. Es gibt also „Atome des Raumes“, Milliarden und Milliarden mal kleiner als Atomkerne, sie liegen aber nicht irgendwo im Raum, sondern sie sind der Raum selbst. Sie sind alles, was Menschen wahrnehmen, und sie sind ein Teil von uns.

Während seiner drei Jahrzehnte währenden Karriere entwickelte Rovelli die konzeptionellen Grundlagen und die avancierte Mathematik, die den Kern der Schleifenquantengravitation ausmacht. Aufmerksam verfolgt er, ob die Fortschritte und Experimente in der Kosmologie und der Elementarteilchenphysik Ergebnisse oder Beweise für oder gegen seine Hypothese liefern. Bis heute gibt es keine eindeutigen Ergebnisse, die die Schleifenquantengravitation stützen, aber auch keine, die sie klar verwerfen. Andere Theorien werden ebenfalls entwickelt. „Einiges ist also noch im Fluss“, wie er (auf S. 241) schreibt.

Rovelli schreibt einzigartig über Physik. Neben „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“ sind auch „Sieben kurze Lektionen über Physik“ und kürzlich „Die Ordnung der Zeit“ auf Deutsch erschienen. Er ist nicht nur herausragender Physiker, sondern hat auch eine besondere Gabe, diese Konzepte in eine Sprache zu übersetzen, die zugleich verständlich und aufregend ist. Seine materialistische Herangehensweise schöpft aus einem tiefen Verständnis für Philosophie, Literatur und Poesie.

Carlo Rovelli wurde in einer Zeit großer sozialer Kämpfe weltweit und in Italien geboren. Im Alter von 12 Jahren erlebte er im Frühjahr 1968 den Ausbruch der Studentenproteste in Italien, Frankreich und anderen Ländern. In dieser Zeit tat die Menschheit gewaltige Schritte in den Weltraum, während gleichzeitig Kriege wie in Vietnam, Laos und Kambodscha tobten. Rovelli half die linke Radiostation Alice zu gründen, die 1977 vom italienischen Militär geschlossen wurde; später konnte sie noch einmal für zwei Jahre senden. 1987 wurde er verhaftet, weil er den Grundwehrdienst verweigerte.

In dieser Zeit entwickelte Rovelli ein tiefes Verständnis für die Naturgesetze. In seiner kurzen Schrift über die Schleifenquantengravitation, „Sieben kurze Lektionen über Physik“, erzählt er dem Leser, wie er zum ersten Mal die Allgemeine Relativitätstheorie zu verstehen begann:

„Es war Sommer. Ich saß an einem Strand in Kalabrien, in Condofuri, eingetaucht in das Licht der griechisch geprägten Mittelmeerküste, in meinem letzten Studienjahr. Im Urlaub und ungestört vom Schulbetrieb studiert es sich am besten. Das Buch, mit dem ich lernte, hatten an den Rändern Mäuse angenagt: Ich hatte es in dem verwahrlosten und etwas hippiemäßigen Haus in den umbrischen Hügeln, in das ich gelegentlich vor dem langweiligen Lehrbetrieb an der Universität in Bologna entflohen war, nachts dazu verwendet, um Mauselöcher abzudichten. Dann und wann blickte ich von dem Buch auf und betrachtete das Glitzern des Meeres. Es kam mir vor, als erblickte ich die Krümmung von Zeit und Raum, wie Einstein sie sich vorgestellt hatte. Es war wie ein Zauber: als ob mir ein Freund eine verborgene Wahrheit ins Ohr flüsterte, den Schleier über der Wirklichkeit wegzog und eine einfachere, tiefere Ordnung enthüllte.“

„Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“ entführt den Leser in ein ganz ähnliches Abenteuer. Rovelli führt seine Leser durch die Widersprüche der modernen Physik, die genauso drängend sind, wie die, die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der Mechanik Galileos, Keplers und Newtons und dem gerade entdeckten Elektromagnetismus Faradays, Ampères und Maxwells auftauchten: die Widersprüche, die zur Relativitätstheorie und der Quantenmechanik führten. Gleichzeitig erfüllt er seine Leser mit einem Staunen, Glück und, wichtiger noch, dem Verständnis für die Physik und die Prozesse, durch die sie sich weiterentwickelt.

Rovellis materialistische und dialektische Herangehensweise an die Physik und die Wissenschaft als Ganzes wird schon früh im Buch deutlich: „Wissenschaftliches Denken erkundet die Welt, gestaltet sie neu und bietet uns ein immer wirklichkeitsnäheres Bild von ihr: Es lehrt uns, sie in tauglicheren Begriffen zu denken. Wissenschaft ist die ständige Erkundung von Denkschemata. Sie bezieht ihre Kraft und ihre Visionen aus der Fähigkeit, althergebrachte Denkgebäude zum Einsturz zu bringen, neue Wirklichkeitsfelder zu erschließen und neue, tauglichere Weltbilder zu entwickeln. Auch wenn sich dieses Abenteuer auf das gesamte bislang angehäufte Wissen stützt, besteht sein Kern im Wandel“ (S. 14). Diese Haltung zieht sich durch das ganze Buch und steht in erfrischendem Gegensatz zu mechanischem und absolutem Denken anderer Philosophen der Wissenschaft.

Diese Weltanschauung zeigt sich da, wo er die Wissenschaft als einzig richtige Methode, um die Natur zu verstehen, glühend verteidigt.

„Die Wissenschaftssoziologie hat Licht in den komplexen Prozess gebracht, wie wissenschaftliche Erkenntnisse angesammelt werden, eine Entwicklung, die wie jedes menschliche Unternehmen auch irrational abläuft, Machtspielen und jeder Art sozialem und kulturellem Einfluss unterworfen ist. Aber trotz der Übertreibungen von Verfechtern eines Postmodernismus‘, Kulturrelativisten und Konsorten mindert all dies keineswegs die praktische und insbesondere theoretische Leistungsfähigkeit des wissenschaftlichen Denkens. Diese beruht auf der Tatsache, dass es am Ende meistens möglich ist, klar festzustellen, wer richtig- und wer falschliegt. Und auch der große Einstein muss einräumen (und tat es auch): ‚Oh, ich habe mich getäuscht!‘“ (S. 231–232)

Rovelli präsentiert die Entstehung der Quantengravitation als Teil einer breiteren Entwicklung von Wissenschaft, Kultur und Politik. Er untersucht die Entwicklung der Vorstellungen über die materielle Struktur der Welt, angefangen bei den vorsokratischen Philosophen, Thales, Anaximander und Demokrit über den römischen Dichter Lukrez bis hin zu Newton, Einstein und den Begründern der Quantenmechanik. Ein Bezug auf Lukrez gewährt uns einen tiefen Einblick in Rovellis Denken:

„Im Mittelalter wurde der Kosmos, den Dante so wunderbar besingt, als eine spirituelle und hierarchisch aufgebaute Ordnung gedeutet, in der sich die Ständegesellschaft Europas widerspiegelte. (…) Von alldem ist die von Lukrez besungene Welt des Demokrit vollkommen frei. Hier gibt es keine Furcht vor Göttern, hat die Welt weder Ziele noch Ursachen, gibt es weder eine kosmische Hierarchie noch einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen Himmel und Erde. Stattdessen herrscht eine innige Liebe zur Natur, in die man gelassen eintaucht, die Erkenntnis, dass wir ein ureigener Teil von ihr sind, dass Männer, Frauen, Tiere, Pflanzen und Wolken organische Bestandteile eines wunderbaren Ganzen ohne jede Hierarchie sind. Aus Lukrez’ Welt spricht ein tiefgründiger Universalismus, der den glanzvollen Worten Demokrits folgt: ‚Einem weisen Mann steht jedes Land offen. Denn einer trefflichen Seele ist das Weltall Vaterland‘.“ (S. 47–48)

Rovellis Geschichte der modernen Physik, von Newton über Maxwells Theorien des Elektromagnetismus bis zu Einstein und der Quantentheorie, gewährt uns Einblick in die spannende Entwicklung eines immer besseren Verständnisses des Zusammenwirkens, der Zusammenhänge und der Bewegung aller Einzelteile der materiellen Welt. Mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, schreibt er, sei „der Raum von der Materie (…) jetzt nicht mehr geschieden. Er ist ein ‚materieller‘ Bestandteil der Welt, der Bruder des elektromagnetischen Feldes. Er ist eine reale Entität, die wogt, sich beugt, krümmt und biegt“ (S. 93).

Die Quantenmechanik führte zu einer weiteren Entwicklung im dialektischen Verständnis der Realität. „In der Welt, die von der Quantenmechanik beschrieben wird“, schreibt Rovelli „gibt es keine Realität ohne Beziehung zwischen physikalischen Systemen. Nicht die Dinge treten in eine Beziehung zueinander; vielmehr geht aus den Beziehungen selbst die Vorstellung von Dingen hervor. Die Welt der Quantenmechanik ist keine der Objekte, sondern eine der Elementarereignisse“ (S. 153). Man fühlt sich an Engels Ausspruch (in „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“) erinnert, „dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen“.

Rovelli lässt seine Leser nicht nur an den größten Triumphen der Quantengravitation teilhaben, sondern auch an der größten Tragödie, die sich während der ersten ernsthaften Versuche, die Theorie zu entwickeln, abspielte. An vorderster Front stand Matvei Bronstein, ein junger sowjetischer Physiker (nicht mit Trotzki verwand, wie Rovelli bemerkt). Bronstein, Freund und Kollege von Lew Landau, wuchs heran, als die stalinistische Degeneration der Sowjetunion begann, die progressiven Impulse zu zerstören, die die Oktoberrevolution 1917 der russischen und der internationalen Gesellschaft vermittelte.

Bronstein gehörte zu einer Generation von Physikern, die heranwuchs, kurz nachdem Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie abgeschlossen hatte, und während die Quantenmechanik ausgearbeitet wurde. Bronstein nahm sich Landaus These zu Herzen, dass die Quantenfluktuationen (die allen subatomaren Partikeln eigenen Vibrationen) es verunmöglichen, einen willkürlich kleinen Teil eines elektrischen Feldes zu messen. Obwohl sich Landaus These als falsch erwies, regte sie Bronstein zu weiteren theoretischen Untersuchungen an.

Er wandte Landaus These nicht auf ein elektrisches Feld an, sondern auf die Gravitationsfelder, die Einstein ein Jahrzehnt zuvor ausgearbeitet hatte. Und hier behielt Landau recht: Ein beliebig kleiner Teil eines Gravitationsfeldes konnte nicht mit der Quantenmechanik beschrieben werden.

„Dies lässt sich auf einfache Art verdeutlichen: Angenommen, wir möchten eine unvorstellbar winzige Region im Raum beobachten. Dazu müssen wir mit irgendetwas den Punkt markieren, den wir betrachten wollen: zum Beispiel mit einem Teilchen. Nun hatte allerdings Heisenberg erkannt, dass sich ein Teilchen in einem Punkt des Raumes nur für einen kurzen Augenblick lokalisieren lässt. Anschließend verschwindet es. Je länger man den Ort eines Teilchens zu lokalisieren versucht, desto größer ist die Geschwindigkeit, mit der es entweicht (Heisenbergsche ‚Unschärferelation‘). Wenn das Teilchen mit hoher Geschwindigkeit davonschießt, heißt dies, dass es viel Energie hat.

Erinnern wir uns aber an Einsteins Theorie. Energie krümmt den Raum. Große Energie würde demnach den Raum stark krümmen. Wenn ich viel Energie auf kleinstem Raum konzentriere, krümme ich den Raum zu stark, worauf er wie ein kollabierender Stern in ein Schwarzes Loch stürzt. Aber wenn das Teilchen in einem Schwarzes Loch verschwindet, wird es für mich unsichtbar. Dann kann ich es nicht mehr dazu nutzen, um, wie gewünscht, eine Raumregion festzulegen. Kurzum, ich scheitere zwangsläufig daran, beliebig kleine Raumregionen zu messen, weil diese bei solchen Versuchen in einem Schwarzen Loch verschwinden“ (S. 168,169).

Mit diesem Gedankenexperiment demonstriert Bronstein, dass die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie im Grunde nicht vereinbar sind.

Diese wunderbaren Gedanken wurden als Konsequenz der stalinistischen Konterrevolution ausgelöscht. Rovelli schreibt:

„Allerdings gibt es ein Problem. Matwei [Bronstein] und Lew Landau sind aufrechte Kommunisten. Sie glauben an die Revolution als die Befreiung des Menschen, an den Aufbau einer besseren Gesellschaft ohne Ungerechtigkeiten und die gewaltigen Ungleichheiten, die wir heute regelmäßig überall in der Welt sehen. Sie sind begeisterte Anhänger Lenins. Als Stalin an die Macht gelangt, reagieren beide verblüfft, dann kritisch und schließlich ablehnend (…) Sie schreiben kritische Artikel (…) Diesen Kommunismus haben sie nicht ersehnt. Aber die Zeiten sind schwierig. Landau kann sich, wenn auch mit Mühe, durchlavieren.

Matwei wird, ein Jahr nachdem er als Erster erkannt hat, dass sich unsere Vorstellungen von Raum und Zeit radikal ändern müssen, von Stalins Polizei NKWD verhaftet und zum Tod verurteilt. Seine Exekution findet noch am Tag seines Prozesses statt, dem 18. Februar 1938. Er ist einunddreißig Jahre alt“ (S. 171).

Wir werden niemals erfahren, ob Bronstein seine frühen Einsichten umfassender hätte ausarbeiten können, wäre er nicht ein tragisches Opfer der stalinistischen Säuberungen geworden.

Fast jeder theoretische Physiker des 20. Jahrhunderts suchte auf die eine oder andere Art nach der Quantengravitation. Einen besonders interessanten Fehlschlag erlebte Richard Feynman, als er versuchte, seine Techniken, mit denen er Photonen und Elektronen beschrieb, auf Felder der Gravitation anzuwenden. Photonen und Elektronen sind fundamentale Einheiten der Materie – Quanten – in der Raumzeit. Feynmans kühne Anstrengungen zeigten klar, dass eine Theorie der Quantengravitation jedoch die Quanten der Raumzeit beschreiben muss, ein anders gelagertes und viel schwierigeres Problem.

Ein Grund von vielen, warum sich die Theorie bisher als so schwer fassbar erwies, besteht darin, dass die Experimente, die die Quantengravitation erfordert, Bedingungen brauchen, wie sie auf der Erde fast nicht herzustellen sind. Niemand war bisher in der Lage, genug Energie auf so kleinem Raum zu konzentrieren, dass auf Quantenebene Schwarze Löcher entstehen. Sie wurden bisher weder im derzeit größten Teilchenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider, noch bei den viel energiereicheren Kollisionen der kosmischen Strahlung in der oberen Atmosphäre beobachtet. Derartige Experimente liegen noch außerhalb der technologischen Fähigkeiten der Menschheit.

Andere Experimente zeigen uns jedoch die Grenzen der Gültigkeit der verschiedenen Theorien der Quantengravitation auf, einschließlich der Stringtheorie und Schleifenquantengravitation. Rovelli erklärt uns, dass es in letzter Zeit drei entscheidende Erfolge der theoretischen Physik gab: die Entdeckung des Higgs Bosons am Large Hadron Collider, die Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung durch den Plancksatelliten und die direkte Messung von Gravitationswellen durch LIGO. Das Interessanteste an ihnen bestand darin, dass ihre Ergebnisse den Erwartungen entsprachen.

Das schmälert keineswegs ihr Wesen als monumentale Errungenschaften der menschlichen Technik. Das sind sie wirklich. Sie sind das Ergebnis eines Prozesses, bei dem Milliarden Dollar zum Einsatz kamen, und an dem tausende engagierter und begabter Menschen jahrzehntelang weltweit zusammenarbeiteten. Vom Standpunkt der theoretischen Physik waren die Messergebnisse jedoch von der jeweiligen Theorie vorhergesagt. Es gibt nicht den kleinsten Beweis für die esoterischeren Theorien, wie zum Beispiel der Supersymmetrie oder der Alternativen zur Allgemeinen Relativitätstheorie. Rovelli zufolge sind „Allgemeine Relativitätstheorie, Quantenmechanik und in der Quantenmechanik das Standardmodell [der Teilchenphysik]“ die richtigen Theorien, um die Natur zu beschreiben (S. 236).

Während die Ergebnisse die Anhänger der Stringtheorie und andere in Verlegenheit brachten, sind sie ein Schlüssel zur Schleifenquantengravitation. Das liegt daran, dass die Schleifenquantentheorie nur auf dem aufbaut, was wir bereits über die Physik wissen, statt mit einer willkürlichen Hypothese zu beginnen. Deshalb wird sie, Rovelli zufolge, nicht durch die moderne Forschung widerlegt.

„Unsere Phantasie ist zu beschränkt, um uns ‚vorzustellen‘, wie die Welt aufgebaut sein könnte, ohne dass wir die schon vorhandenen Spuren nutzen. Als Spuren, unsere Indizien, verfügen wir über die erfolgreichen Theorien und die experimentellen Daten, mehr nicht. Aus ihnen müssen wir das herauszuholen versuchen, was wir uns bislang noch nicht vorstellen können (…) Die radikalen Konsequenzen auf konzeptioneller Ebene, die Raumquanten und das Verschwinden der Zeit, sind keine gewagten Annahmen, sondern Konsequenzen aus der Entscheidung, zwei Theorien ernst zu nehmen und die Schlüsse aus ihnen zu ziehen“ (S. 237, 238).

Bezeichnenderweise geben in der theoretischen Physik schon die „rationalen Schlussfolgerungen“ schwer zu denken. Die befremdlichste Konsequenz der Schleifenquantengravitation ist das Verschwinden der Zeit als einheitliche Konstante der materiellen Welt. Die Zeit erlitt allerdings schon in Einsteins Spezieller Relativitätstheorie einen schweren Schlag, die zeigt, dass Vorstellungen wie die Gleichzeitigkeit nicht absolut sind.

Rovelli argumentiert nicht gegen Ursache und Wirkung. Für ihn ist die Zeit an sich nur ein Platzhalter für, wie Lukrez es ausdrückt, „die Bewegung der Dinge“. Eine Legende über Galileo verdeutlicht diesen Punkt. Wenn ein Pendel schwingt, bemerkt der Beobachter, dass die Schwingungen, unabhängig von der Amplitude, alle gleich lange währen. Um das zu bestätigen, musste Galileo die Schwingungsdauer wiederholt messen. Doch damals gab es noch keine Uhren, also benutzte er seinen Puls stattdessen, und entdeckte, dass die Schwingungen eines Pendels tatsächlich, unabhängig von der Amplitude, alle gleich lang dauerten.

Aber, fragt Rovelli: „Woher wusste Galileo, dass seine Pulsschläge immer die gleiche Dauer hatten?“ Messen wir mit dem Puls die Schwingungen des Pendels, oder mit den Schwingungen des Pendels den Puls? Die Zeit ist also ein sehr praktischer Platzhalter für Bewegung, den Newton tatsächlich nutzte; tatsächliche Ereignisse geschehen aber in Relation zu einander und nicht in Relation zur Zeit. „Mit anderen Worten: Die Existenz der Variablen ‚Zeit‘ ist eine Annahme, kein Ergebnis einer Beobachtung“ (S. 201, 202).

Das hört sich für jeden der auch nur einige Schulstunden Physik hatte, komisch an, taucht doch die Variable Zeit (t) in praktisch allen Gleichungen auf. Eines der ersten Resultate der Schleifenquantengravitation ist, dass die Zeit tatsächlich aus den Gleichungen verschwindet. Das bedeutet nicht, dass die Materie statisch wird. Im Gegenteil, die Welt besteht nur im ständigen Wechselspiel der verschieden physikalischen Prozesse und folgt ihren Gesetzen und ihren Beziehungen zueinander. Wir fragen nicht mehr, wie oft das Pendel pro Sekunde schwinge, sondern wie oft es im Vergleich zum Puls schwinge.

Eine andere Konsequenz der Schleifenquantengravitation, die sogar theoretisch überprüfbar ist, ist die Instabilität von Schwarzen Löchern, die nach mehreren Milliarden Jahren explodieren. Ursächlich dafür ist, dass Materie nicht unendlich lange in einer Singularität zusammengepresst werden kann. Die Schleifenquantengravitation besagt, dass es ein Minimalvolumen gibt, und dass es keinerlei Möglichkeit gibt, Materien noch enger zusammenzupressen. Als Folge davon baut sich ein immenser Druck auf, weil die Materie maximal zusammengepresst wird. Dieser Druck überwindet hypothetisch mit der Zeit, die nicht mehr existiert, selbst die gewaltige Gravitation eines Schwarzen Lochs.

„Diese Explosionen Schwarzer Löcher zu beobachten, wäre eine spektakuläre Bestätigung der Theorie“, schreibt Rovelli. „Sehr alte Schwarze Löcher wie die in der Frühzeit des Universums entstandenen könnten heute explodieren. Neuere Berechnungen deuten darauf hin, dass die Signale ihrer Explosion in Reichweite von Radioteleskopen liegen könnten. Eine Hypothese besagt, dass bestimmte mysteriöse Radioimpulse, die Radioastronomen bereits gemessen haben, sogenannte Fast Radio Bursts, möglicherweise Signale seien, die aus der Explosion eines frühzeitlichen Schwarzen Lochs hervorgehen. Falls sich dies bestätigt, hätten wir ein phantastisches Ergebnis: ein direktes Zeichen eines quantengravitativen Phänomens. Warten wir’s ab …“ (S. 252, 253).

Noch viel mehr könnte über „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“geschrieben werden. Die Geschichte der Quantengravitation des 20. Jahrhunderts ist so aufregend wie vielversprechend. Rovelli selbst betont mehr als einmal, dass die Physik noch nicht vollendet sei. All die letzten Entdeckungen müssten in ihr verwoben werden, und noch mehr grundlegende Gesetze müssten entdeckt werden, um die Bewegung der Materie wirklich zu verstehen. Was bisher entdeckt wurde, schreibt Rovelli, sei nicht falsch, wie oft gesagt werde, sondern es sei eine Annäherung.

Rovellis Buch ist nicht nur ein faszinierendes Werk über die Entwicklung der Physik, sondern auch durchdrungen von seiner Vorstellung der enormen Möglichkeiten der Wissenschaft, aber auch von den extremen Gefahren, mit denen die Menschheit konfrontiert ist. Wie er schreibt, „verfügen wir heute über Instrumente, um die Wohnstätten der zehn Milliarden Menschen zu beleuchten, die bald unseren Planeten bevölkern werden. Oder um durch den Weltraum zu anderen Sternen zu reisen. Oder um uns gegenseitig zu vernichten und die Erde unbewohnbar zu machen. Was daraus wird, hängt von unseren und den Entscheidungen der Regierenden ab, die wir zu unseren Vertretern berufen“ (S. 86).

Die außergewöhnliche Schönheit und die Versprechungen der modernen Wissenschaften verstärken nur den Wunsch, für eine Gesellschaftsordnung zu kämpfen, in der die Versprechungen wahr werden können.

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