„Fortschrittlicher Kapitalismus“ – ein Betrug

In den oberen Rängen der US-amerikanischen Unternehmens- und Finanzeliten läuten mancherorts die Alarmglocken. Man befürchtet eine soziale Explosion, weil die Vermögens- und Einkommensungleichheit immer weiter zunimmt.

Anfang dieses Monats veröffentlichte der Gründer und Leiter des Hedgefonds Bridgewater, Ray Dalio, einen ausführlichen, mit Daten und Grafiken illustrierten Bericht, der das exponentielle Wachstum der Ungleichheit in den letzten drei Jahrzehnten aufzeigt. In diesem Bericht warnt er davor, dass es bei einem Abschwung oder einer Rezession der US-Wirtschaft zu „einer Art Revolution“ kommen könne.

Dalio bekennt sich uneingeschränkt zum Profitsystem, hat es ihn doch zu einem äußerst wohlhabenden Mann gemacht (sein Privatvermögen beträgt rund 17 Milliarden Dollar). Er schreibt, dass dieses System nun „eine sich in Eigendynamik verstärkende Rückkopplungsschleife produziert, die das Auseinanderklaffen der Einkommens-, Vermögens- und Chancenschere so weit vergrößert, dass der Kapitalismus und der amerikanische Traum in Gefahr sind“. Diese „inakzeptablen Ergebnisse“ seien nicht das Ergebnis schlechter Taten böswilliger Menschen oder das Produkt von Faulheit und bürokratischer Ineffizienz, sondern „darauf zurückzuführen, wie das kapitalistische System jetzt funktioniert“.

Jenseits des Atlantiks, in London, stellte die Financial Times vor wenigen Tagen in einem Leitartikel mit dem Titel „Why American CEOs are worried about capitalism“ fest, dass man in amerikanischen Finanzkreisen über das Wachstum antikapitalistischer und sozialistischer Stimmungen beunruhigt sei.

Die Zeitung zitierte den Dalio-Bericht und die Bemerkungen seines Autors im CBS-Programm „60 Minutes“, dass „der Kapitalismus defekt“ sei und einen „kritischen Punkt“ erreicht habe. Die Amerikaner könnten ihn entweder gemeinsam reformieren, „oder wir werden es im Konflikt tun“.

Die Financial Times wies auch auf die Bedenken des Vorsitzenden von JP Morgan Chase, Jamie Dimon, hin, der in seinem letzten Aktionärsbrief warnte, dass der amerikanische Traum „zerbrösele“. Der Kapitalismus habe Milliarden aus der Armut geholt, schrieb er, aber „das soll nicht heißen, dass der Kapitalismus keine Fehler hat, dass er die Menschen nicht im Stich lässt und dass er nicht verbessert werden sollte“.

Diese und ähnliche Forderungen nach „Reformen“ rühren aus der tiefen Angst vor dem Linksruck in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung. Dimon artikulierte diese Angst, nachdem seine Bank Milliarden Dollar vom Staat erhalten und durch die Politik des billigen Geldes der amerikanischen Zentralbank (Fed) weitere Hunderte Milliarden eingestrichen hat. Der Sozialismus, erklärt er, wäre eine „Katastrophe für unser Land“.

Als Hinweis auf die Beweggründe der Konzernchefs zitierte die FT den Präsidenten der 13 Milliarden Dollar schweren Ford Foundation, Darren Walker. „Was einen Teil ihrer Angst ausmacht, ist die Politik“, steht dort. „Was sie wirklich erschreckt, sind Daten, die zeigen, dass sich junge Menschen zunehmend mit der Vorstellung von Sozialismus als Mittel zur Organisation der Wirtschaft anfreunden. Das ist unglaublich beängstigend für sie.“

Laut einer Gallup-Umfrage vom vergangenen Jahr haben 51 Prozent der 18- bis 29-jährigen Amerikaner eine positive Meinung vom Sozialismus, während der Anteil derjenigen, die eine positive Sicht auf den Kapitalismus haben, seit 2010 von 68 Prozent auf 45 Prozent gesunken ist. Diese Zahlen sind besonders auffällig, wenn man bedenkt, dass der Antisozialismus in den US-Medien und im politischen Establishment einer säkularen Religion gleichkommt.

Folglich werden nun große Anstrengungen unternommen, um dafür zu sorgen, dass diese Linksbewegung nicht weitergeht. Sie könnte am Ende noch zu dem Verständnis führen, dass echter Sozialismus nur durch den politischen Kampf der Arbeiterklasse für die Abschaffung des kapitalistischen Profitsystems verwirklicht werden kann! Dem wird die Behauptung entgegengesetzt, dass eine gewisse Reform des Kapitalismus möglich sei.

Entsprechende Anstrengungen unternimmt der führende „linke“ bürgerliche Ökonom Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften. Er verfasste dazu einen Artikel mit dem Titel „Progressive Capitalism is not an Oxymoron“ („Fortschrittlicher Kapitalismus ist kein Widerspruch in sich“), der am 19. April in der New York Times erschien.

Stiglitz weist zunächst darauf hin, dass trotz der niedrigsten offiziellen Arbeitslosenquote seit Ende der 1960er Jahre das Einkommen von rund 90 Prozent der Bevölkerung seit 30 Jahren stagniert oder sinkt, dass die USA eine der größten Ungleichheiten unter den entwickelten Volkswirtschaften aufweisen und dass die wirtschaftlichen Perspektiven junger Amerikaner mehr von Einkommen und Bildung ihrer Eltern abhängen als anderswo.

„Aber das muss nicht so sein. Es gibt eine Alternative: den fortschrittlichen Kapitalismus.“ Dieser gründe auf dem Verständnis, dass „wir die Macht des Marktes für die Gesellschaft nutzen können“.

Diese Behauptung fußt auf einer vollständigen Fälschung der Geschichte des kapitalistischen Systems.

Laut Stiglitz begann sich der Lebensstandard Ende des 18. Jahrhunderts zu verbessern, weil die Entwicklung der Wissenschaft zu einer erhöhten Produktivität führte und wir „gelernt haben zusammenzuarbeiten, auf der Grundlage von Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit ihren Kontroll- und Ausgleichsmechanismen“.

„Der Schlüssel zu beidem waren Systeme zur Beurteilung und Verifizierung von Wahrheit. Die wirkliche und dauerhafte Gefahr der Trump-Präsidentschaft besteht in dem Risiko, das sie für diese Säulen unserer Wirtschaft darstellt, in ihrem Angriff auf eben jene Idee von Wissen und Expertise und in ihrer Feindseligkeit gegenüber Institutionen, die uns helfen, die Wahrheit zu entdecken und zu bewerten“.

Es würde mehr Platz brauchen, als hier zur Verfügung steht, um diesen Unfug auseinanderzunehmen. Er basiert auf der Behauptung, dass die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft das Ergebnis wohlwollender Vernunft sei und dass das Individuum Donald Trump plötzlich aus dem Nichts erstanden sei, um die Säulen einer rationalen Gesellschaft zu bedrohen.

Wir möchten hier nur auf einige historische Fakten hinweisen: dass in denjenigen kapitalistischen Volkswirtschaften, die wie die USA und Australien durch Siedler gegründet wurden, kapitalistische Eigentums- und Marktverhältnisse durch einen Völkermord an der einheimischen Bevölkerung etabliert wurden; dass die Vermögensbildung, vor allem am Geburtsort des industriellen Kapitalismus, England, und dann anderswo, von der verstärkten Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung abhing; und dass der freie Markt und das System des kapitalistischen Eigentums ihre globale Dominanz durch imperialistische Eroberungskriege begründeten, was im 20. Jahrhundert zu zwei Weltkriegen führte.

Darüber hinaus wurde der politische Rahmen für das Profitsystem in den Vereinigten Staaten durch zwei Revolutionen geschaffen – den Unabhängigkeitskrieg von 1776-1783 und den noch blutigeren Bürgerkrieg von 1861-1865.

Reformen im Interesse der Masse der Bevölkerung in den USA und anderen großen kapitalistischen Ländern wurden nicht durchgeführt, um einen Gesellschaftsvertrag zu schließen, wie Stiglitz behauptet. Sie waren das Ergebnis riesiger sozialer Kämpfe, inspiriert von der Perspektive der Russischen Revolution vom Oktober 1917. Der einzige Grund für gesetzliche Sozialreformen waren die starken und berechtigten Befürchtungen der herrschenden Klassen, dass andernfalls soziale Umwälzungen ausgelöst würden. Dieser politischen Tatsache war sich Roosevelt bei der Einführung seiner Sozialreformen unter dem „New Deal“ genau bewusst, auch wenn Stiglitz sie vergessen hat.

Was Trump betrifft, so ist sein Aufstieg zur Präsidentschaft und das Anstreben autoritärer Herrschaftsformen mitsamt der Förderung faschistischer Ideologie Ausdruck einer tiefsitzenden Krankheit der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Trump ist kein „Outsider“, sondern das ureigenste Produkt der historischen Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus.

Das Kernstück von Stiglitz‘ Analyse besagt, dass sich die Übel der kapitalistischen Wirtschaft aus „der neoliberalen Fantasie ergeben, dass freie Märkte Wohlstand für alle bringen“. Diese Vorstellung müsse nun begraben werden, damit „ein fortschrittlicher Kapitalismus“, der auf einem „neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Wählern und Mandatsträgern, zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern, zwischen Reichen und Armen, zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten“ beruht, etabliert werden könne.

Diese Ansicht, die in verschiedenen Varianten von einer Reihe von Möchtegern-Reformern, von neo-keynesianischen Ökonomen bis hin zur so genannten „Linken“ in der Demokratischen Partei vertreten wird, bedeutet, dass der amerikanischen kapitalistischen Gesellschaft neues Leben eingehaucht werden könnte, wenn sie nur zu irgendeiner Form des „Sozialvertrags“ der Nachkriegszeit zurückkehren würde.

Doch keiner von ihnen stellt je die Frage, warum dieser so genannte Sozialvertrag zusammengebrochen ist. Nach einer aussagekräftigen Antwort sucht man natürlich ebenso vergebens. (Abgesehen davon ist der „Sozialvertrag“ mehr Fantasie als Realität, weil das Nachkriegsamerika von Klassen- und sozialen Konflikten zerrissen war.)

Die Befürworter eines „fortschrittlichen Kapitalismus“ tun so, als ob eines Morgens, gegen Ende der 1970er Jahre, die führenden Politiker in den USA und weltweit mit dem falschen Fuß aufgestanden wären und sich unversehens zur Ideologie des ungezügelten freien Marktes bekannt hätten. Anschließend hätten sie soziale Ordnung zerschlagen, die sie doch mühsam aufgebaut hatten, um die kapitalistische Herrschaft nach den turbulenten und manchmal revolutionären Kämpfen der Vorperiode aufrechtzuerhalten.

Eine solche Theorie entbehrt jeder Wissenschaftlichkeit, sei sie wirtschaftlicher oder anderer Art. Sie sucht den Ursprung von Veränderungen der kapitalistischen Wirtschaft in der Denkweise bürgerlicher Politiker, wie Reagan oder Thatcher in den 1980er Jahren, oder im Wechsel der Theorien der bürgerlichen Ökonomie, d.h. im Übergang von der staatlichen Konjunkturpolitik nach Keynes zu den marktwirtschaftlichen Doktrinen von Milton Friedman.

Eine wissenschaftliche Erklärung für das Ende des Nachkriegsbooms muss in den internen, materiellen, objektiven Prozessen der kapitalistischen Wirtschaft gesucht werden. Sie bildeten die Grundlage für den Übergang zum Neoliberalismus, der auf die uneingeschränkte Herrschaft des Marktes und des Finanzkapitals baut.

Um seine Behauptung von der Möglichkeit eines „fortschrittlichen Kapitalismus“ zu stützen, beruft sich Stiglitz auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als es den Anschein hatte, als ob der „Amerikanische Traum“ nach dem Elend der 1930er Jahre endlich realisiert würde.

„Als Ökonom“, schreibt er, „werde ich immer gefragt: Können wir es uns leisten, dieses Mittelstandsleben für die meisten, oder gar für alle Amerikaner zu ermöglichen? Irgendwie schafften wir es doch nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir eine viel ärmere Gesellschaft waren.“

Die logische Schlussfolgerung lautet, dass es im Kapitalismus möglich sein müsse, einen steigenden Lebensstandard zu gewährleisten, so wie in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn Amerika ist heute im Hinblick auf die Produktion von materiellem Reichtum ein viel reicheres Land als in der Nachkriegszeit.

Diese Behauptung beruht auf einem grundlegenden Fehler. Die treibende Kraft der kapitalistischen Wirtschaft, ihre inhärente Dynamik, ist nicht die Schaffung von mehr materiellem Reichtum, sondern die Erzielung von Profit. Die Quelle des Profits ist der Mehrwert, der im Produktionsprozess aus der Arbeiterklasse gepresst wird. Und der Kernpunkt ist, in welchem Tempo dem akkumulierten Kapital Mehrwert hinzugefügt wird, also die Profitrate.

Die historische Entwicklung des Nachkriegsbooms, sein Niedergang und die seitherige Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft müssen aus diesem Blickwinkel betrachtet werden. Amerika war in der Nachkriegszeit ein „ärmeres“ Land in dem Sinne, dass es weniger materiellen Wohlstand produzierte als heute, sowohl auf absoluter als auch auf Pro-Kopf-Basis. Aber in dieser Zeit verzeichnete der amerikanische Kapitalismus stabile und sogar steigende Profitraten.

Der Aufschwung nach den Katastrophen der 1930er Jahre war das Ergebnis globaler Prozesse. Er war das Ergebnis der Ausweitung der produktiveren Methoden des amerikanischen Industriekapitalismus auf die anderen großen Volkswirtschaften – Deutschland und Westeuropa, Großbritannien, Japan und kleinere kapitalistische Mächte wie Australien und Neuseeland. Auf dieser Grundlage konnte die Masse des aus der Arbeiterklasse gepressten Mehrwerts deutlich erhöht werden.

Aus der Sicht des Akkumulationsprozesses des Kapitals stellen alle Reformen und Zugeständnisse an die Arbeiterklasse – steigende Löhne und verbesserte soziale Bedingungen – einen Abzug von dem Mehrwert dar, der dem Kapital für seine Expansion zur Verfügung steht. Doch während des Nachkriegsbooms war die Steigerung des verfügbaren Mehrwerts so groß, dass sowohl steigende Profitraten als auch ein steigender Lebensstandard möglich waren. Wie das Sprichwort sagt: Eine steigende Flut hob alle Boote.

Für die kurzsichtigen, bürgerlichen Akademiker hatte es den Anschein, als ob die grundlegenden, von Marx entdeckten Widersprüche des Kapitalismus, die innerhalb von nur drei Jahrzehnten zwei Weltkriege, den Faschismus und die Große Depression ausgelöst hatten, überwunden wären.

Doch die Expansion des Nachkriegsbooms konnte nicht unbegrenzt fortgesetzt werden. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre begannen die Profitraten zu sinken. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, von Marx als das historisch wichtigste Gesetz der politischen Ökonomie bezeichnet, machte sich wieder geltend. Im Wesentlichen bedeutete dies, dass die Zugeständnisse an die Arbeiterklasse nun in direkten Konflikt mit den Anforderungen der Kapitalakkumulation, also mit der Triebkraft des Profitsystems, gerieten.

Alle Versuche, diese Situation im Rahmen der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung der Nachkriegszeit zu lösen, scheiterten. Die Bemühungen, die Ausbeutung der Arbeiterklasse innerhalb des bestehenden Systems der industriellen Produktion zu verstärken, riefen immer militantere Kämpfe hervor. Gleichzeitig führten die Methoden der keynesianischen Ökonomie, die auf der Stimulierung der Wirtschaft durch staatliche Interventionen basieren, nur zu einer Stagflation, also zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit einer sich beschleunigenden Inflation, was die keynesianische Doktrin eigentlich ausgeschlossen hatte.

Angesichts dieser heiklen Situation organisierten die herrschenden Klassen in den USA und den anderen großen Volkswirtschaften, die sich nun den Lehren des Neoliberalismus verschrieben, eine grundlegende Umstrukturierung der kapitalistischen Wirtschaft. Sie umfasste eine Reihe miteinander verbundener Komponenten, darunter: die Zerstörung großer Bereiche der Nachkriegsindustrie, die Organisation von weltweiter Produktion zur Nutzung billigerer Arbeitskräfte, und den Einsatz neuer computergestützter Technologien und Informationssysteme, um die Produktionskosten zu senken und die Ausbeutung der Arbeitskraft zu intensivieren.

Begleitet wurden diese Maßnahmen von der Entbindung des Finanzkapitals von den Beschränkungen, die ihm während des Nachkriegsbooms auferlegt worden waren. Damit konnte es eine zentrale Rolle bei der kompletten Reorganisation der Industrie durch Übernahmen, Fusionen und Zukäufe spielen, oft über den sogenannten Junk-Bond-Markt, und die Voraussetzungen für die Anhäufung von Gewinnen über die Börse und andere Formen der Spekulation schaffen.

Das Ergebnis war die Institutionalisierung eines Systems, in dem der Reichtum, den die Arbeiterklasse schuf, für die höheren Ränge der Gesellschaft abgeschöpft wurde. Das Ergebnis waren eine Stagnation, der drastische Rückgang der Reallöhne und die größte soziale Ungleichheit, die es je in der Geschichte in den USA und auf der ganzen Welt gegeben hat.

Die Dominanz des Finanzkapitals erforderte Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. In seinem Artikel weist Stiglitz auf die Schlüsselrolle der Reagan-Administration bei der Einleitung dieses Prozesses hin. Aber er bleibt dort stehen. Die unter Reagan beschlossenen Maßnahmen waren nur der Anfang. Sie wurden unter der Clinton-Administration fortgesetzt und vertieft, der Stiglitz selbst von 1995 bis 1997 als Vorsitzender des Ausschusses der Wirtschaftsberater des Präsidenten angehörte.

Es war die Clinton-Regierung, mit Robert Rubin als Finanzminister nach 26 Jahren bei Goldman Sachs, die das „Wohlergehen, wie wir es kennen“ beendete und 1999 den Glass-Steagall Act aufhob, wodurch die letzten Reste der in den 1930er Jahren verordneten Beschränkungen für das Finanzkapital beseitigt wurden.

Die Maßnahmen der letzten drei Jahrzehnten haben zwar eine Steigerung der Profitraten ermöglicht, aber es ist keine Rückkehr zu den Bedingungen des Nachkriegsbooms gelungen. Die US-Wirtschaft ist nicht mehr, wie in jener Zeit, durch das Wachstum der Investitionen und die Ausweitung gut bezahlter Arbeitsplätze gekennzeichnet, sondern durch die Ausbreitung von Parasitismus und Spekulation. Begleitet wurde dies von neuen Formen der Ausbeutung, allgegenwärtiger Arbeitsplatzunsicherheit, Lohnspaltung in den Betrieben, der Zunahme von prekären und befristeten Arbeitsverhältnissen und schlechteren Bedingungen für öffentliche Bedienstete, vor allem für Lehrer.

Die US-Wirtschaft wird nicht mehr von Investitionen in neue Produktionsanlagen getrieben, sondern ist zunehmend auf die Einspeisung von Billionen Dollar in das Finanzsystem zur Finanzierung von Spekulationen angewiesen. Dies begann mit der Entscheidung des damaligen Vorsitzenden der US-Notenbank, Alan Greenspan, nach dem Börsenkrach vom Oktober 1987 die Banken und Finanzhäuser mit billigem Geld zu fluten.

All diese Tendenzen und Prozesse haben im Jahrzehnt seit dem Finanzcrash von 2008 ein neues Niveau erreicht. Daher können die US-Wirtschaft und das Finanzsystem keine Rückkehr zur einstmals „normalen“ Geldpolitik dulden. Sie befürchten, dass dies eine neue, noch verheerendere Krise auslösen könnte.

Im Mittelpunkt des von Stiglitz und anderen vertretenen Programms steht eine Erhöhung der Steuern, um einen neuen Sozialpakt zu schaffen. Aber der Bankrott dieser Perspektive wird sofort deutlich, wenn man bedenkt, was das Ergebnis solcher Maßnahmen wäre. Lange vor ihrer Verabschiedung würden sie mit einer Konterrevolution von oben gegen die Arbeiterklasse beantwortet werden. Die charakteristischen Züge kann man bereits im Bemühen der Trump-Administration erkennen, autoritäre Herrschaftsformen zu entwickeln. Unterstützt wird sie dabei von den Demokraten, die versuchen, die Opposition gegen das Trump-Regime mit gefälschten Behauptungen als russische Einmischung umzubiegen.

Die Wege, die sich der amerikanischen Arbeiterklasse und damit der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt eröffnen, sind nicht die „Wahl“ zwischen Reform – der Entwicklung eines „fortschrittlichen Kapitalismus“ – und Sozialismus. Vielmehr sind die beiden Alternativen eine Konterrevolution oder der Kampf für die sozialistische Revolution, d.h. die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, um die Herrschaft der Finanzoligarchie zu beenden und die Reorganisation der gesamten Wirtschaft zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse durchzuführen.

Die Befürworter eines „fortschrittlichen Kapitalismus“, vor allem die in der so genannten „Linken“ der Demokratischen Partei, die nie eine Gelegenheit verpassen, ihre Treue zum Markt zu verkünden, behaupten, dass ihre Perspektive die einzige „realistische“ sei. Tatsächlich ist sie völlig unmöglich zu realisieren, denn die kapitalistische Produktionsweise, die von Widersprüchen geprägt ist, die sich seit dem Ende des Nachkriegsbooms vertieft haben, kann nichts dulden, was auch nur annähernd den Reformen der Vergangenheit ähnelt.

Der Kampf um ein echtes sozialistisches Programm ist eine äußerst schwierige und komplexe Aufgabe. Aber es ist die einzige praktikable Perspektive. Um sich diesen Herausforderungen zu stellen und sie zu bewältigen, lohnt es sich, an die Worte Abraham Lincolns vom Dezember 1862 zu erinnern, als er für die Emanzipationsproklamation kämpfte:

„Die Dogmen der ruhigen Vergangenheit taugen nicht für die stürmische Gegenwart. Vor uns türmen sich die Schwierigkeiten, und wir müssen uns ihnen gewachsen zeigen.“

Heute geht es darum, die Arbeiterklasse von der Herrschaft und Versklavung durch eine rücksichtslose Finanzoligarchie zu befreien. Die überholten Dogmen einer vergangenen Zeit, die von Stiglitz und anderen vorgetragen werden, sind nicht nur unzureichend. Sie zielen darauf ab, die wachsende antikapitalistische und sozialistische Bewegung in der Arbeiterklasse und der Jugend von den vorliegenden, drängenden Aufgaben abzuhalten und abzulenken.

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