Perspektive

Der Mord an Lübcke: Eine Warnung

Der Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses aus nächster Nähe erschossen wurde, wirft ein grelles Licht auf die politischen Zustände in Deutschland.

Obwohl von Anfang an feststand, dass Lübcke ein Hassobjekt Rechtsextremer war und zahlreiche Morddrohungen erhalten hatte, dauerte es volle zwei Wochen, bis der Generalbundesanwalt die Ermittlungen wegen der „besonderen Bedeutung“ des Falles übernahm. Zuvor hatten sich die Ermittler, wie schon bei den rechtsextremen NSU-Morden, auf das persönliche Umfeld des Täters konzentriert. Die Medien behandelten die kaltblütige Hinrichtung eines ranghohen Regierungsvertreters lediglich als Randnotiz.

Erst als sich der rechtsextreme Hintergrund der Tat nicht mehr leugnen ließ, weil am Tatort gefundene DNA-Spuren einen polizeibekannten Neonazi mit langem Vorstrafenregister des dringenden Tatverdachts überführten, schalteten Ermittler und Medien um.

Der Generalbundesanwalt bemühte sich nun, die Mär vom Einzeltäter zu verbreiten. Es lägen bislang keine Hinweise dafür vor, dass „der Beschuldigte in eine rechtsterroristische Vereinigung eingebunden gewesen sein könnte“, ließ er seinen Sprecher verkünden, obwohl die Biografie des Tatverdächtigen das Gegenteil beweist.

Die Medien erklärten den Mord zum „Angriff auf den Staat“ und machten die ungenügende Zensur des Internets dafür verantwortlich. „Hat der Mob, der in den digitalen Netzwerken wütet und hetzt, was er wollte?“, fragte die Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einem typischen Kommentar. Zu lange sei „vor der verführerischen Macht ‚sozialer‘ Netzwerke gekuscht“ worden, kritisierte die F.A.Z. und beklagte „den schleichenden Autoritätsverlust des Staates“.

In Wirklichkeit ist Lübckes Ermordung nicht das Ergebnis staatlicher Schwäche, sondern der systematischen Unterstützung rechtsextremer Kräfte durch den Staat und die herrschenden Eliten. Darin besteht das schmutzige Geheimnis der deutschen Politik. Diese Unterstützung reicht von der systematischen Verharmlosung rechtsextremer Gewalttaten und der buchstäblichen Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, über die gezielte Förderung der AfD und die Beschönigung der Verbrechen der Nazis an den Universitäten, bis zur Duldung und Förderung rechtsterroristischer Gruppen durch Teile des Sicherheitsapparats.

Lübcke ist zwar das bisher prominenteste Todesopfer rechtsextremer Gewalt, aber bei weitem nicht das einzige. Laut der zurückhaltenden Zählung des Bundeskriminalamts fielen seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 85 Menschen einem rechtsextremen Mordanschlag zum Opfer. Die unabhängige Amadeu Antonio Stiftung zählt sogar 195 Todesopfer und 12 weitere Verdachtsfälle, die sie auf ihrer Website namentlich aufführt.

Die meisten Mordopfer sind der Öffentlichkeit nicht oder, wie die vom NSU Ermordeten, erst nach Jahren der Vertuschung bekannt. Jede Gewalttat eines traumatisierten Flüchtlings wird dagegen von den Medien aufgebauscht und auf die Propagandamühlen der AfD gelenkt. Hinzu kommen tausende Flüchtlingshelfer, Politiker und Journalisten, die von Rechtsextremen bedroht, eingeschüchtert und verprügelt werden, ohne dass die Polizei deshalb aktiv wird. Nur selten gelangen diese Fälle in die Presse.

Die rechtsextremen Terrornetzwerke reichen tief in den Sicherheitsapparat hinein und werden von diesem gedeckt. So weiß man inzwischen, dass die Neonaziszene, aus der die Mörderbande NSU hervorging, vom Verfassungsschutz mit Hunderttausenden Euro finanziert wurde. Im Umfeld des NSU waren mindestens zwei Dutzend Informanten der Geheimdienste und der Polizei aktiv, als dieser seine rassistischen Morde beging.

Auch in der Bundeswehr und in der Polizei existieren rechtsradikale Netzwerke, die weitgehend unbehelligt operieren. So berichteten verschiedene Medien im vergangenen Jahr detailliert über ein umfangreiches Terrornetzwerk in der Bundeswehr, das die Ermordung politischer Gegner und einen faschistischen Umsturz für einen „Tag X“ plant. In der hessischen Polizei wurde im Zusammenhang mit Drohbriefen an die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız ein rechtsradikales Netzwerk aufgedeckt. Zwischen Stephan E., dem Tatverdächtigen im Fall Lübcke, und diesen Netzwerken existieren enge Verbindungen.

Die Förderung rechtsextremer Terrornetzwerke ist nur ein Aspekt des Rechtsrucks von Staat und herrschenden Eliten. Ein anderer ist die weitgehende Übernahme der Flüchtlingspolitik der AfD durch die Große Koalition. Die rechtsextreme Partei, die das Nazi-Regime als Fliegenschiss in tausend Jahren ruhmreicher deutscher Geschichte bezeichnet, wird von den anderen Parteien mit Entgegenkommen behandelt und als möglicher zukünftiger Regierungspartner betrachtet.

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, der von allen etablierten Parteien unterstützt wird, warb nur einen Tag vor der Festnahme von Stephan E. in einem ausführlichen Spiegel- Interview „für eine erweiterte Toleranz in Richtung rechts“. Gauck kritisierte den Bundestag, weil er noch kein Mitglied der AfD zum Vizepräsidenten gewählt habe, und leierte sämtliche Leitthemen der AfD herunter.

Er beschwerte sich, dass in der jüngeren Generation „das Gefühl der Scham oder der Schuld“ für die Naziverbrechen „implementiert“ werde. Er behauptete, „das Gefühl, dass Wandel eine Gefahr ist, weil er uns von uns selbst entfremdet“, sei „eine anthropologische Konstante wie die Furch vor dem Fremden“. Die „Sehnsucht nach dem Autoritären“ bezeichnete er „als eine Conditio humana“.

Gauck weiß, was er bezweckt. Als Bundespräsident hatte er im Jahr 2013 zum Tag der Deutschen Einheit eine außenpolitische Schlüsselrede gehalten. Er forderte die Rückkehr Deutschlands zu einer weltpolitischen und militärischen Rolle, die seiner Stellung „als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt“ entspreche. Die Rede bildete den Auftakt zu einer systematischen Wiederbelebung des deutschen Militarismus, die von allen im Bundestag vertretenen Parteien unterstützt wurde.

An den Universitäten setzte eine Neubewertung der deutschen Geschichte ein, die die deutschen Verbrechen im Ersten und Zweiten Weltkrieg systematisch verharmloste.

Als Humboldt-Professor Jörg Baberowski Anfang 2014 im Spiegel den Hitler-Apologeten Ernst Nolte rehabilitierte und behauptete, „Hitler war nicht grausam“, warnte die Sozialistische Gleichheitspartei: „Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus erfordert eine neue Interpretation der Geschichte, die die Nazizeit verharmlost.“ Dieses Ziel lasse sich „nur mithilfe von Einschüchterungsmaßnahmen und der Unterdrückung abweichender Meinungen verwirklichen“.

Die Kritik der SGP und ihrer Studentenorganisation IYSSE an Baberowski löste einen Sturm der Entrüstung aus, an dem sich fast alle Medien, die Universitätsleitung und zahlreiche Professoren beteiligten. Sie verteidigen Baberowski bis heute, obwohl er enge Beziehungen zu Vertretern AfD und anderen Rechtsextremen unterhält. Zu seinen glühendsten Verteidigerinnen gehört die frühere CDU-Politikerin Erika Steinbach, die inzwischen die Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD leitet. Steinbach hat noch in diesem Frühjahr mehrere Angriffe auf Lübcke gepostet und offene Morddrohungen gegen ihn lange nicht von den Kommentarspalten ihres Kontos gelöscht.

Der Mord an Lübcke hat sämtliche Warnungen der SGP bestätigt. Angesichts wachsender sozialer und internationaler Spannungen kehrt die herrschende Klasse zu ihren autoritären und militaristischen Traditionen zurück. Unter dem demokratischen Lack, der den entnazifizierten Vertretern der deutschen Bourgeoisie nach Hitlers Untergang überpinselt wurde, scheint wieder die alte braune Farbe hervor.

In der Weimarer Republik waren politische Morde paramilitärischer Organisationen mit engen Verbindungen zum Staatsapparat an der Tagesordnung. Der Mord an bekannten bürgerlichen Politikern, wie Matthias Erzberger und Walter Rathenau, war dabei nur die Spitze des Eisbergs. Der eigentliche Terror richtete sich gegen die Vertreter der Arbeiterklasse – von der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts über die blutige Niederschlagung der Münchner Räterepublik und zahlreicher Streiks und Aufstände bis zum Bau der Konzentrationslager nach Hitlers Machübernahme, in denen als erste die Arbeiterführer eingesperrt wurden.

Der Mord an Lübcke ist eine ernsthafte Warnung nicht nur an die deutsche, sondern an die internationale Arbeiterklasse. Im Zeitalter von Krieg, Handelskrieg und dramatischer sozialer Ungleichheit lässt sich die bürgerliche Herrschaft nicht mehr mit demokratischen Mitteln aufrecht erhalten. Der Kampf gegen die rechte Gefahr ist ebenso wie die Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte untrennbar mit der Mobilsierung der Arbeiterklasse für ein sozialistisches Programm und den Sturz des Kapitalismus verbunden.

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