Großbritannien: Mit Boris Johnson verschärft sich die Brexitkrise

Am 23. Juli setzte sich Boris Johnson als Vorsitzender der amtierenden Conservative Party gegen Außenminister Jeremy Hunt durch. Am gestrigen Mittwoch übernahm er das Amt von Premierministerin Theresa May, die nach ihrer letzten Fragestunde im Parlament zurücktrat.

Der Brexit-Befürworter Johnson hatte sich mit 92.153 gegen 46.656 Stimmen gegen Hunt durchgesetzt. (Dieser hatte 2016 einen EU-Austritt abgelehnt.) Bei einer Wahlbeteiligung von 87 Prozent gewann Johnson zwei Drittel der 139.000 Tory-Mitglieder. Genau wie May ist auch er nicht von der Gesamtbevölkerung zum Premierminister gewählt worden, sondern von der reaktionären alternden Tory-Mitgliedschaft, die nur einen winzig kleinen Bevölkerungsausschnitt repräsentiert.

Er prahlte in seiner Siegesrede, er werde „den Brexit umsetzen, das Land vereinen und [Labour-Parteichef] Jeremy Corbyn besiegen“. In Wirklichkeit ist seine Lage prekär.

Die Tories sind wegen des Brexit weiterhin zerstritten. May wurde letzten Monat zum Rücktritt gezwungen, nachdem ihr Deal mit der EU im Parlament dreimal hintereinander abgelehnt wurde. Dieser Deal hätte Großbritannien den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt erhalten. Gegen May stimmten die Oppositionsparteien, die gegen den Austritt sind, und ihre eigene Brexit-Hardliner-Fraktion, sowie die Democratic Unionist Party (DUP). Im April hat die EU eine neue Frist bis zum 31. Oktober gesetzt, innerhalb derer das Parlament einem Deal zustimmen muss. Das sind keine 100 Tage mehr.

Die Financial Times erklärte im Vorfeld der Wahl des Vorsitzenden: „Wenn Johnson zum Tory-Parteichef gewählt wird, wird er seine Partei auffordern, den Brexit umzusetzen und sich einig hinter ihn zu stellen. Doch kaum ein Premierminister, der in Friedenszeiten in die Downing Street einzog, stand je vor so großen politischen Herausforderungen wie er.“

Schon vor Johnsons Wahlsieg erklärte Mays Finanzminister Philip Hammond, der den Brexit ablehnt, er werde gemeinsam mit May zurücktreten, da er den Austritt Großbritanniens aus der EU ohne Deal, den Johnson angedroht hat, nicht unterstützen könne. Justizminister David Gauke trat zurück und erklärte, er könne nicht mit Johnson zusammenarbeiten. Bildungsministerin Anne Milton tat das Gleiche und äußerte „schwere Bedenken wegen eines harten Brexit“. Laut der Financial Times wird Hammond eine „Gruppe von etwa 30 Tory-Abgeordneten anführen, die entschlossen sind, einen harten Brexit zu verhindern. Es sieht also danach aus, als würde der neue Premierminister eine zerstrittene Partei erben.“

Johnson hat sogar noch weniger Spielraum als May. Er übernimmt eine Partei mit einer hauchdünnen Mehrheit im Parlament, die von den Stimmen der zehn DUP-Abgeordneten abhängig ist. Die Tories selbst haben nur eine Mehrheit von drei Sitzen, und sie könnte noch kleiner werden, wenn sie am 1. August eine Nachwahl verlieren. Deshalb könnte Johnson gezwungen sein, in wenigen Wochen Neuwahlen anzusetzen.

Johnsons Drohung mit einem EU-Austritt ohne Deal verschreckt die tonangebenden Kreise des Großkapitals, die eher Hunt zuneigen. Sie haben nicht vergessen, was Johnson 2018 bei einer Versammlung von Diplomaten zu einem weiteren Zugang zur EU geantwortet hatte, als er sagte: „Scheiß auf die Wirtschaft.“

Hinzu kommt, dass der neue Premier trotz aller Pläne, Johnson als allgemein beliebt darzustellen, in der Bevölkerung verhasst ist – ganz besonders in der Arbeiterklasse.

Medienkommentatoren weisen darauf hin, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung den Brexit ablehnt. Selbst die Befürworter haben Bedenken wegen der potenziell verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines harten Brexit.

Johnson unterhält enge Beziehungen zum US-Präsident Donald Trump und seinem inneren Kreis, denn sie profitieren davon, dass der Brexit ihren Rivalen, die EU, schwächen wird. Auch mit Trumps ehemaligem Berater, dem Faschisten Steve Bannon, versteht Johnson sich gut. Gleich nach Johnsons Sieg drückte Trump auf Twitter seine Zufriedenheit aus und schrieb: „Er wird großartig sein!“

Doch dieses Bündnis wird die Entschlossen der EU nur stärken, keine weiteren Zugeständnisse an Großbritannien mehr zu machen. Als Reaktion auf die Dreistigkeit Johnsons und seiner Unterstützer in der European Research Group von Jacob Rees-Moggs weigert sich die EU, nachzugeben, und hält daran fest, dass der von May ausgehandelte Deal der einzige mögliche sei.

Auch ist der Preis für ein Bündnis mit Washington die Teilnahme an dessen militärischer Aggression gegen Russland und China und an den Kriegen im Nahen Osten. Das wird schon in den Provokationen der britischen Marine gegen den Iran deutlich.

Sogar die schottischen Tories äußern Bedenken, dass Johnsons harte Haltung zum Brexit die Scottish National Party und ihre Unabhängigkeitsforderung stärken könnte, denn in Schottland ist die Unterstützung für einen Verbleib in der EU sehr groß.

Besonders schwerwiegend ist jedoch Johnsons Absicht, den Brexit zur Grundlage für Sparpläne und einen massiven Angriff auf Löhne, Sozialleistungen und Arbeitnehmerschutz zu machen. Großbritannien soll in ein „Küsten-Singapur“ verwandelt werden. Zu dem Zweck schlägt er den Bau von sechs Freihäfen vor, in denen Unternehmen so gut wie keine Steuern zahlen. Außerdem soll der Einkommenssteuerfreibetrag von 50.000 Pfund auf 80.000 Pfund steigen, damit die oberen zwölf Prozent der Verdiener profitieren. Allerdings stehen noch viel schwerere Angriffe bevor.

Die Medien übernehmen Johnsons sorgfältig kultiviertes Image als Tollpatsch, der für jeden Ausrutscher gut ist, weil sich dahinter seine brutale arbeiterfeindliche Agenda verstecken lässt. Dieser Mann wurde dabei aufgenommen, wie er einem Bekannten, der einen Journalisten verprügeln wollte, dessen Adresse gab. Er hat Schwarze rassistisch beleidigt und einen Leitartikel im Spectator genehmigt, in dem „betrunkene“ und „hirnlose“ Liverpool-Fans für den Tod von 96 Menschen 1989 im Hillsborough-Fußballstadion verantwortlich gemacht wurden.

Als er Bürgermeister von London war, fragten ihn Feuerwehrleute: „Werden Sie vor Gericht die Verantwortung übernehmen, wenn Menschen wegen Ihren Kürzungen sterben?“ Darauf antwortete er: „Halten Sie die Schnauze!“ Ein Jahr später wurden in der Hauptstadt zehn Feuerwachen geschlossen und fast 600 Feuerwehrleute entlassen. Diese Kürzungen haben zur Brandkatastrophe im Grenfell Tower mit 72 Todesopfern beigetragen. Ihr Blut klebt an Johnsons Händen.

Die politische Verantwortung dafür, dass ein solches Individuum zum britischen Premierminister und zum Führer einer verachteten Tory-Regierung aufsteigen kann, muss bei Jeremy Corbyn gesucht werden.

Corbyn unterdrückt als Labour-Parteichef seit fast vier Jahren die Forderungen seiner Anhänger in der Partei, die die rechten Parteimitglieder ausschließen und den Kampf gegen die Tories aufnehmen wollen. Er hat einen Rückzieher nach dem anderen gemacht: Er hat die Trident-U-Boote und die Nato-Mitgliedschaft akzeptiert, eine freie Abstimmung über den Syrienkrieg zugelassen und die verpflichtende Neuauswahl der Abgeordneten abgelehnt. Zuletzt hat er vor den Verleumdungen der Rechten kapituliert, die „Linke“ sei antisemitisch, und versprochen, die Parteiausschlüsse zu verstärken.

Was Corbyn antreibt ist das Verlangen, die Einheit der Partei zu erhalten und das Großkapital davon zu überzeugen, dass man ihm als Premierminister trauen kann. Deshalb hat er sich mit May zu Brexit-Verhandlungen getroffen und seine Forderung nach Neuwahlen aufgegeben. Selbst jetzt, nach Johnsons Wahlsieg, antwortete Corbyn auf die Frage der BBC, ob Labour ein Misstrauensvotum beantragen werde, mit der ausweichenden Aussage: „Wir werden entscheiden, wann das sein wird. Das wird für Sie alle eine interessante Überraschung sein.“

Corbyns politischer Kurs hat dazu geführt, dass die Arbeiterklasse in der schwersten Krise der Bourgeoisie seit dem Zweiten Weltkrieg daran gehindert wird, zu intervenieren und ihre eigenen Interessen zu vertreten. Doch das muss und wird sich ändern. Sowohl die Gegner als auch die Befürworter des Brexit in der herrschenden Klasse gehen scharf nach rechts. Die Arbeiterklasse muss eine neue und wirklich sozialistische und internationalistische Führung aufbauen: die Socialist Equality Party. Gerade in der Brexit-Frage darf sich die Arbeiterklasse nicht spalten lassen, sondern sie muss gemeinsam mit den Arbeitern in Europa und der Welt den Kampf für den Sozialismus aufnehmen.

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