Proteste in Hongkong gehen trotz eskalierender Polizeigewalt weiter

Am Wochenende fanden in Hongkong zum achten Mal in Folge Demonstrationen gegen Polizeigewalt und für demokratische Reformen statt. Die Teilnehmer forderten u.a. die vollständige Rücknahme des umstrittenen Auslieferungsgesetzes, den Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam und das allgemeine Wahlrecht. An mehreren unterschiedlichen Orten in der ganzen Stadt fanden Kundgebungen statt.

Am Freitag veranstalteten 15.000 Menschen eine Sitzblockade am Internationalen Flughafen von Hongkong und weiteten so ihre Bemühungen aus, ein breiteres internationales Publikum zu erreichen. Sie besetzten zwei Ankunftshallen, verteilten Flugblätter und trugen Transparente. Daneben sammelten sie mehr als 14.600 Unterschriften für eine Petition, in der die Regierung aufgefordert wurde, die Gangster zu verhaften, die letzten Sonntag an einem Angriff auf Demonstranten am Bahnhof Yuen Long beteiligt waren.

Demonstranten in Hongkong [Quelle: Twitter—Denise Ho (@hoccgoomusic)]

Eine Flugbegleiterin und einer der Organisatoren der Kundgebung erklärten gegenüber der South China Morning Post: „Wir wollen diese Nachricht mit Touristen teilen, damit die Welt weiß, was in Hongkong passiert. Wir brauchen die internationale Gemeinschaft. Wir brauchen Menschen, die für uns die Stimme erheben. Vielleicht erfährt man im Fernsehen nicht die ganze Geschichte, aber wir haben hier Videos und mehr Informationen, und wir sind bereit, mit den Leuten zu reden und zu erklären, was passiert.“

Die 24-jährige Touristin Margarita Duco aus Chile erklärte sich solidarisch mit den Demonstranten: „Der exzessive Einsatz von Gewalt gegen friedliche Demonstranten ist in meinem Land auch üblich. Deshalb kann ich nachvollziehen, was sie durchmachen.“

Flugbegleiter und Flughafenpersonal beteiligten sich an den Demonstrationen, auch wenn sie gerade Arbeitsschluss hatten. Die Flight Attendants Union, die Gewerkschaft von Hongkongs größter Fluggesellschaft Cathay Pacific, ermutigte ihre Mitglieder zur Teilnahme. Sie ist ein Mitglied der Hong Kong Confederation of Trade Unions, die die Pandemokraten in der Stadt unterstützen, aber keine breiteren Aktionen der Arbeiterklasse gegen die Angriffe auf demokratische Rechte oder Polizeigewalt organisiert haben.

Die 29-jährige Flugbegleiterin Meryl Yeung erklärte, es sei wichtig, die Vorstellung der Leute zu widerlegen, die Demonstranten seien nur gewalttätig: „Sie haben überhaupt keine Ahnung, sie bekommen nur von einer Seite Informationen. Sie glauben, alle, die zu einer Demonstration oder Kundgebung kommen, wären Randalierer oder wollten Hongkongs Unabhängigkeit.“

Eine Gruppe von Fluglotsen erklärte, sie könnten Maßnahmen ergreifen, wenn die Forderungen der Demonstranten nicht erfüllt würden. In ihrer Erklärung hieß es: „Der Flughafen Hongkong ist der verkehrsreichste Frachtumschlagplatz und einer der größten Passagierflughäfen der Welt.“ Weiter warnt die Erklärung, es könne „riesige wirtschaftliche Verluste“ geben, wenn sie den Betrieb zum Erliegen bringen.

Am Samstag fanden weitere Demonstrationen in Yuen Long statt. Die Organisatoren der Kundgebung verlegten einen ursprünglich in Kowloon geplanten Marsch in die Stadt, der aber nicht polizeilich genehmigt war. Die Demonstranten protestierten gegen den Angriff von Gangstern aus dem Umfeld des pro-Pekinger Abgeordneten Junius Ho in der vorhergehenden Woche.

Die Veranstaltung begann um 14:30 Uhr und wuchs zu 300.000 Teilnehmern an. Um 17:30 Uhr begann die Polizei, die Demonstranten mit Tränengas und Gummigeschossen auseinanderzutreiben. Um die drastische Eskalation der Polizeigewalt zu rechtfertigen, behaupteten die Behörden, die Demonstranten seien gewalttätig und hätten Stöcke oder andere improvisierte Waffen eingesetzt. Am späten Abend ging die Polizei mit Schlagstöcken gegen die heimkehrenden Demonstranten vor.

Der 18-jährige Demonstrant Matthew Lam beschrieb die Szene folgendermaßen: „Die Polizei ging ohne Vorwarnung los. Sie schlugen pausenlos zu, sie schlugen mindestens 20 Sekunden lang auf Demonstranten und Passanten ein.“ Insgesamt mussten 24 Menschen ins Krankenhaus, das Alter der Verletzten reicht von 15 bis 60. Weitere 13 Menschen zwischen 18 und 68 Jahren wurden verhaftet.

Amnesty International verurteilte die Polizeigewalt und widersprach den Behauptungen, die Demonstranten seien für die Gewalt verantwortlich gewesen. Der Direktor von Amnesty International Hongkong, Man-kei Tam, erklärte: „Es gab heute mehrere Vorfälle, bei denen die Polizeibeamten die Aggressoren waren; sie haben auf flüchtende Demonstranten eingeprügelt, Zivilisten im Bahnhof sowie Journalisten angegriffen. [...] Eine derart unverhältnismäßige Reaktion scheint mittlerweile der Modus Operandi der Hongkonger Polizei zu sein. Wir fordern sie zu einem schnellen Kurswechsel auf.“

Ähnliche Szenen ereigneten sich bei einer kleineren Demonstration am Sonntag mit Zehntausenden Teilnehmern, die in Chater Garden im Zentrum begann und sich ebenfalls gegen Polizeigewalt richtete. Die Polizei hatte den Antrag auf eine zweite Demonstration in Sheung Wan nahe dem Pekinger Verbindungsbüro abgelehnt, das letzte Woche von mehreren hundert Demonstranten umstellt und mit Graffiti besprüht worden war. Letzte Woche hatte die Polizei auf die Menschenansammlung in einer Weise mit Tränengas und Gummigeschossen reagiert, die völlig unverhältnismäßig für die Zahl der Demonstranten war.

Nach der Veranstaltung in Chater Garden am Sonntag zogen etwa 200 Demonstranten in Richtung Verbindungsbüro, bevor sie von der Polizei aufgehalten wurden. Eine größere Gruppe zog zum Einkaufsviertel Causeway Bay. Die Polizei setzte erneut Tränengas gegen die Demonstranten ein.

Einige der Teilnehmer riefen Parolen wie „Holt euch Hongkong zurück, die Revolution unserer Zeit“ – diese Parole hatte Edward Leung bei der Wahl von 2016 benutzt. Leung gehört der rechten Organisation Hong Kong Indigenous an, die gemeinsam mit ähnlich rechten Gruppen wie Civic Passion die Unabhängigkeit Hongkongs propagieren. Diese Gruppen machen die Festland-Chinesen in der Stadt und deren Kinder zu Sündenböcken und werfen ihnen vor, die Kultur Hongkongs zu zerstören und für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu sein, unter der Arbeiter und Jugendliche in der ganzen Stadt zu leiden haben.

Civic Passion und Hong Kong Indigenous sind nur relativ kleine politische Strömungen in einer riesigen, aber politisch amorphen Bewegung von Jugendlichen und Arbeitern, die entschlossen sind, die demokratischen Rechte zu verteidigen, die vom KPCh-Regime und der Peking-freundlichen Hongkonger Regierung bedroht sind. Die Androhung eines Streiks der Fluglotsen verdeutlicht die Beteiligung der Arbeiterklasse und die tiefergehenden sozialen Belange wie Armut, fehlende Sozialhilfe, fehlende Wohnungen und die hohen Lebenshaltungskosten.

Die Bewegung in Hongkong ist Teil eines viel weitergehenden Auflebens der internationalen Arbeiterklasse gegen den Austeritätskurs der Regierungen und die Angriffe auf demokratische Rechte. Dass die Proteste in Hongkong anhalten und dass ein beträchtlicher Teil der Stadtbevölkerung daran beteiligt ist, findet ihre Parallele in den seit Langem andauernden „Gelbwesten“-Protesten in Frankreich und den Massendemonstrationen in Puerto Rico, die Gouverneur Ricardo Rosselló zum Rücktritt gezwungen haben.

Trotz ihrer Größe und Militanz fehlt den Protesten in Hongkong eine klare politische Perspektive. Viele der Demonstranten lehnen zwar den anti-chinesischen Chauvinismus von rechtsextremen Gruppen wie Civic Passion und Hong Kong Indigenous ab, doch die Dominanz des Hongkonger Lokalismus – der die Hongkonger Kultur im Unterschied zu Festland-China erhalten will – ist eine politische Sackgasse.

Dass Peking letzte Woche unterschwellig mit dem Einsatz von Militär zur Unterdrückung der Proteste in Hongkong gedroht hatte, verdeutlicht die Notwendigkeit eines politischen Kampfs zur Vereinigung der chinesischen Arbeiterklasse in Hongkong und auf dem Festland, wo die Arbeiter ebenfalls mit erdrückenden sozialen Bedingungen und der rücksichtslosen Unterdrückung ihrer demokratischen Rechte konfrontiert sind. Ein solcher Kampf gegen die Auswirkungen der zunehmenden Krise des Kapitalismus muss auf dem Programm des sozialistischen Internationalismus und den Lehren aus den historischen Kämpfen der trotzkistischen Bewegung – des Internationalen Komitees der Vierten Internationale – gegen Stalinismus und Maoismus basieren.

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