Italien: Politisches Tauziehen um zwei NGO-Schiffe

Über 500 geflüchtete Menschen warteten auf den zwei Schiffen „Open Arms“ und „Ocean Viking“ auch am Freitagabend immer noch auf die Landeerlaubnis in einem sicheren Hafen Europas. In der jüngsten Regierungskrise Italiens sind sie zum Spielball der Parteien geworden.

Die „Ocean Viking“, das Schiff der Organisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée, hat Anfang der Woche insgesamt 356 Menschen an Bord genommen. Bei ihren vier Rettungseinsätzen in vier Tagen kam es zu dramatischen Szenen. Nur wenige Minuten, nachdem die Helfer Rettungswesten an die Menschen in einem Schlauchboot ausgeteilt hatten, platzte eine Luftkammer des Bootes. Mehr als achtzig Menschen stürzten ins Wasser, die meisten von ihnen, ohne schwimmen zu können. Sie wurden alle gerettet.

Auf Twitter und Yahoo sind herzzerreißende Berichte der Migranten erschienen. Für einen von ihnen, den 24-jährigen Djibril aus dem Tschad, war dies der fünfte Versuch in fünf Jahren, in denen er buchstäblich durch die Hölle gegangen war. Er hatte mehrere Folterlager in Libyen von innen kennengelernt und den Tod von Dutzenden anderen Jugendlichen miterleben müssen.

Das Rettungsschiff "Open Arms"

Auch auf der „Open Arms“, dem Schiff der spanischen Hilfsorganisation Proactiva Open Arms, warten die Menschen in wachsender Verzweiflung darauf, endlich von Bord gehen zu können. Schon seit über zwei Wochen benötigt das Schiff einen sicheren Hafen. Am Freitag befanden sich auf der „Open Arms“ noch rund 140 Migranten, darunter dreißig Kinder und minderjährige Jugendliche. Mehrmals waren da schon Schwerkranke und akut suizidgefährdete Personen einzeln abgeholt und nach Lampedusa gebracht worden.

Seit Donnerstag befindet sich die „Open Arms“ legal in italienischen Gewässern, erhält aber keine Landeerlaubnis. Über ihre Einfahrt ist ein heftiger Machtkampf entbrannt, und sie ist zum Spielball der Parteien in der jüngsten italienischen Regierungskrise geworden.

Am Donnerstag hatten sich Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta (M5S) und Infrastrukturminister Danilo Toninelli (M5S) geweigert, ein Dekret des Lega-Innenministers Matteo Salvini zur Schließung des Hafens von Lampedusa zu unterzeichnen. Allerdings verweigert die Präfektur von Agrigent, die dem Innenministerium und somit Salvini direkt untersteht, nach wie vor den Migranten die Landeerlaubnis, so dass sie auch am Freitagabend noch dicht vor der Küste auf dem überfüllten Schiff ausharren mussten.

„Worauf warten sie“, schrieb Proactiva Open Arms in den sozialen Netzwerken, „um allen Menschen zu erlauben, das Schiff zu verlassen – dass die medizinische Notlage unerträglich wird? Was für eine Grausamkeit.“

Offiziell ist Salvinis Verbot schon seit Tagen aufgehoben. Ministerpräsident Giuseppe Conte hat schon am Mittwoch das Verwaltungsgericht eingeschaltet, und dieses hat eine „außerordentlich ernste Situation“ und einen Fall von „Amtsmissbrauchs aufgrund einer Falschdarstellung von Fakten, sowie der Verletzung von Rettungsbestimmungen des internationalen Seerechts“ festgestellt.

Premier Conte galt bisher beiden Regierungsparteien, der Lega wie den Fünf Sternen, als Ministerpräsident ohne großen eigenen Einfluss und Repräsentationsfigur. Er war dazu da, um auf diplomatischen Anlässen und EU-Treffen „bella figura“ zu machen. Den Ton in der Regierung gab hauptsächlich Lega-Chef Matteo Salvini an. Am letzten Wochenende weigerte sich Conte, der den Fünf Sternen nahe steht, jedoch, auf Aufforderung Salvinis seinen Rücktritt einzureichen.

Am Donnerstag hat Conte auf Facebook einen langen Offenen Brief an den „sehr verehrten Innenminister, lieben Matteo“ veröffentlicht. Darin übt er geharnischte Kritik an Salvini, den er der „unfairen Zusammenarbeit“ und der „Illoyalität“ bezichtigt. Im Wesentlichen beschwört er darin eine „europäische Lösung“ und die Zusammenarbeit mit den andern EU-Ländern, um die Migrationskrise zu lösen, an der er „bis zum letzten Tag“ arbeiten werde.

Mit ihrer Erlaubnis für die NGO-Schiffe, aus „humanitären“ Gründen in italienische Häfen einzulaufen, versucht die Fünf-Sterne-Bewegung, die eigenen Spuren zu verwischen. Vierzehn Monate lang hat sie die Regierung gemeinsam mit der Lega geführt. Noch vor knapp zwei Wochen, am 5. August, trug sie im Parlament entscheidend dazu bei, dass Salvini sein extrem ausländerfeindliches neues Sicherheitsgesetz durchsetzen konnte. Das neue Gesetz sieht bei privater Seenotrettung Geldstrafen von bis zu einer Million Euro, Gefängnis und die Beschlagnahmung der Schiffe vor.

Salvini twitterte am Freitag, er werde „mit allen erdenklichen Mitteln eine neue Migranteninvasion verhindern“. Er nutzt das Gesetz und seine harte Haltung in der Flüchtlingsfrage, um seine rechtsradikale und faschistische Unterstützerbasis zu mobilisieren. Letzte Woche erklärte er die Koalitionsregierung mit den Fünf Sternen für beendet, weil er eine neue Regierung mit den italienischen Faschisten Fratelli d’Italia, mit Silvio Berlusconi oder mit beiden anstrebt. Am kommenden Dienstag wird das Parlament über ein Misstrauensvotum der Lega abstimmen.

Die wochenlange Odyssee der Geflüchteten auf dem Mittelmeer macht nicht nur die Brutalität von Salvinis Lega deutlich, sondern die aller bürgerlichen Parteien Italiens, wie auch der Europäischen Union. Sie kritisieren Salvini von rechts, weil sie fürchten, sein hartes Vorgehen könnte eine vorzeitige soziale Explosion in Italien auslösen.

So hat Ex-Regierungschef Matteo Renzi von der Demokratischen Partei (PD) erneut deutlich gemacht, dass auch er ein nicht weniger reaktionäres Programm vertritt. In einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde bezeichnete Renzi den faktischen Zusammenbruch der Regierung als die „verrückteste politische Krise der Welt“. Er warf Salvini vor, er schrecke nur vor der Verabschiedung eines Sparhaushaltes zurück. Bisher, so Renzi, sei es noch niemals vorgekommen, dass jemand „eine Krise im Hochsommer auslöst, um sich die Verabschiedung des Etats zu ersparen“.

Matteo Renzi, der die Regierung von 2014 bis 2016 führte, hatte damals der Koalition von Lega und Fünf Sternen durch soziale Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung den Weg an die Macht bereitet.

Wie die Fünf Sterne tritt Renzi in der Regierungskrise für eine nicht gewählte Übergangsregierung ein, um einen EU-genehmen Sparhaushalt zu verabschieden. In der Frage der Seenotrettung ist die „Lösung“, die Renzi vertritt, nicht weniger menschenverachtend als diejenige Salvinis. Er schlägt vor, zusammen mit der EU bessere Verträge mit den Diktatoren in Afrika abzuschließen um die „Fluchtursachen zu beseitigen“.

Tatsächlich hatten seine damalige Regierung und sein Innenminister Marco Minniti (PD) die kriminelle Partnerschaft mit Libyen als erste eingefädelt. Sie haben das Mittelmeer abgeriegelt und die Hetze gegen die privaten Seenotretter eröffnet.

Auch die andern Regierungen der EU-Länder sind für den brutalen Umgang mit den geflüchteten Menschen nicht weniger verantwortlich. Mit ihren Beschlüssen der letzten Jahre hat die EU unter Führung Deutschlands und Frankreichs eine „Festung Europa“ errichtet und das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt.

In Spanien hat die Regierung des Sozialdemokraten Pedro Sánchez nicht einmal die 31 minderjährigen Flüchtlinge von der „Open Arms“ aufgenommen, obwohl die „Open Arms“ unter spanischer Flagge fährt. Auch Norwegen hat sich geweigert, die verzweifelten Menschen aufzunehmen, obwohl die „Ocean Viking“ unter norwegischer Flagge fährt. Vielmehr hat der norwegische Migrationsminister vehement darauf bestanden, die Flüchtlinge müssten „nach Afrika zurück“ gebracht werden.

Die deutsche Regierung schiebt den Schwarzen Peter den andern EU-Ländern zu. Regierungssprecher Steffen Seibert bedauerte am Freitag, dass es die Mission Sophia nicht mehr gebe. Daran habe die Bundesregierung „mit Überzeugung“ teilgenommen. Über die Verteilung geretteter Flüchtlinge gebe es leider in der EU derzeit keine Einigung.

Die EU hat offenbar ganze zwei Wochen lang gebraucht, um auf die verzweifelten Appelle der Migranten zu reagieren. Erst am Donnerstag erwähnte Ministerpräsident Giuseppe Conte in seinem Offenen Brief, dass sechs Länder sich bereit erklärt hätten, Menschen aufzunehmen, nämlich Frankreich, Deutschland, Rumänien, Portugal, Spanien und Luxemburg.

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