Im Nahen Osten breiten sich Demonstrationen und Streiks trotz der Todesopfer im Irak weiter aus

Am Donnerstag gingen die irakischen Sicherheitskräfte, wie schon an den beiden Tagen zuvor, mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten vor. Um die Massenproteste gegen Arbeitslosigkeit, schlechte Sozialleistungen und staatliche Korruption niederzuschlagen, setzten sie scharfe Munition, Gummigeschosse, Wasserwerfer und Tränengas ein. Berichten zufolge wurden mindestens 28 Demonstranten erschossen und mehr als tausend verwundet.

Laut Demonstranten und Krankenhauspersonal liegt die tatsächliche Zahl der Todesopfer noch deutlich höher. Neben den schwarz uniformierten Antiterror-Eliteeinheiten und der Polizei wurden auch schwer bewaffnete Soldaten eingesetzt. Zeugen berichteten, dass über lange Zeit automatische Schusswaffen zu hören waren, und dass in der ganzen Stadt der schwarze Rauch von brennenden Autoreifen der Barrikaden der Demonstranten zu sehen war.

Ministerpräsident Adel Abdul Mahdi ist mit der schwersten Krise seit der Regierungsbildung vor einem Jahr konfrontiert und berief am Mittwoch ein Treffen seines Nationalen Sicherheitsrats ein. Danach bekräftigte er in einer Erklärung das „Recht auf Protest“ und die „Meinungsfreiheit“, verurteilte jedoch angeblichen „Vandalismus“ an öffentlichem und privatem Eigentum. Er lobte die Sicherheitskräfte und machte „Infiltratoren“ und „Aggressoren, die... bewusst Todesopfer herbeigeführt haben“ für die Gewalt verantwortlich.

Die Sicherheitskräfte in den Straßen haben die Botschaft eindeutig verstanden. Sie gingen extrem gewaltsam vor, um Demonstranten vom Bagdader Tahrir-Platz zu vertreiben und sie daran zu hindern, sich der stark befestigten Green Zone zu nähern, in der sich das irakische Regierungsviertel, die Botschaften der USA und anderer westlicher Staaten sowie die Büros der Söldnerfirmen befinden.

Anti-Terrortruppen setzten scharfe Munition auch gegen Demonstranten ein, die versuchten, den internationalen Flughafen von Bagdad zu stürmen.

Die Demonstrationen hatten am Dienstag mit relativ kleinen Protesten begonnen. Durch die mörderische Unterdrückung der irakischen Sicherheitskräfte erhielten sie jedoch dramatischen Zulauf. Nachdem die Demonstration am Dienstag mit außerordentlicher Gewalt aufgelöst wurde, folgten in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch tausende einem Aufruf in den sozialen Netzwerken zu weiteren Demonstrationen, bei denen es erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen kam.

Im Zuge der Unterdrückungsmaßnahmen wurde am Mittwoch im ganzen Land auch das Internet abgeschaltet.

Dennoch waren die Demonstrationen am Mittwoch bereits deutlich größer und breiteten sich im ganzen Land aus. In der südirakischen Stadt Basra, einem der Zentren der Ölindustrie, demonstrierten am Mittwoch mehrere tausend Menschen vor dem lokalen Verwaltungsgebäude.

Die Regierung schickte ihre Anti-Terrortruppen auch in die südirakische Stadt Nassiriya. Berichten zufolge verloren die Behörden dort angesichts von Schießereien und Brandstiftungen an Regierungsgebäuden „die Kontrolle“. Auch in Nadschaf, einer der heiligen Städte des schiitischen Islam, wurde das Regierungsgebäude angezündet.

Der Massenaufstand hat die Regierung vor allem erschüttert, weil er sich durch das Kernland der schiitischen Mehrheit ausgebreitet hat, die angeblich die politische Basis der wichtigsten Regierungsparteien ist. Er ist außerdem unabhängig, ohne die Führung einer Partei, ausgebrochen. Muqtada al-Sadr, dessen Mahdi-Armee vor fünfzehn Jahren in Bagdad gegen US-Truppen gekämpft und der in der Vergangenheit große Demonstrationen mobilisiert hat, befand sich im Iran und spielte offensichtlich keine Rolle beim Ausbruch der Demonstrationen.

Die Ursache der Proteste liegt im Wesentlichen in den zunehmend unerträglichen Bedingungen, unter denen die irakische Bevölkerung und vor allem junge Iraker leben. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offiziell bei zweiundzwanzig Prozent; mehr als 30.000 Absolventen verlassen jedes Jahr die Universitäten, ohne Arbeitsplätze zu finden.

Letzten Monat organisierten hunderte von Studienabgängern kleinere Protestaktionen vor dem irakischen Ölministerium, bei denen sie mit Sitzblockaden Arbeitsplätze forderten.

Breite Massen der Bevölkerung haben die korrupte bürgerliche Regierung satt. Sie hat in den sechzehn Jahren seit dem Sturz Saddam Husseins durch den illegalen Angriffskrieg der USA weder den Niedergang der Infrastruktur des Landes ausgleichen, noch grundlegende Leistungen wie Wasser und Strom gewährleisten konnte. Die Einnahmen aus dem immensen Ölreichtum des Landes sind seitdem in die Taschen ausländischer Konzerne und ihrer lokalen Handlanger geflossen.

Die Ereignisse im Irak sind Teil eines Auflebens des Klassenkampfs im ganzen Nahen Osten. Die ganze Region wurde in den letzten drei Jahrzehnten durch die ununterbrochenen US-Kriege zerstört und durch die Versuche der imperialistischen Mächten und der lokalen Herrschercliquen, religiöse Spaltungen und Gewalt zu schüren.

Im Libanon zogen am Sonntag Demonstranten mit den Rufen „Nieder mit dem Kapitalismus“ und „Das Volk will den Fall des Regimes“ durch die Straßen von Beirut. Letzteres war der Schlachtruf des Massenaufstandes, durch den 2011 die von den USA unterstützte ägyptische Diktatur von Hosni Mubarak gestürzt wurde und der sich danach auf die ganze Region ausbreitete.

Die Demonstranten errichteten Barrikaden auf den wichtigsten Fernstraßen und legten damit die libanesische Hauptstadt lahm.

Eine 52-jährige Demonstrantin erklärte gegenüber AFP: „Wir arbeiten Tag und Nacht, um zumindest überleben zu können. Sie haben uns ausgehungert und bestohlen. Genug ist genug.“

Genau wie die Erhebungen im Irak richteten sich die Proteste im Libanon gegen hohe Arbeitslosigkeit (vor allem unter Jugendlichen), steigende Preise und extreme soziale Ungleichheit.

Der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri hatte letzten Monat davor gewarnt, dass die Austeritätsmaßnahmen, die er aufgrund des Diktats der internationalen Banken als Gegenleistung für einen Kredit in Höhe von elf Milliarden Dollar durchsetzt, Widerstand in der Bevölkerung auslösen würde. Er erklärte: „Es wird Proteste im Libanon geben, das kann ich schon jetzt sagen. Aber wir werden es früher oder später schaffen.“

Die Austeritätspolitik wird das Elend der libanesischen Massen jedoch nur noch weiter verschärfen. 3,2 Millionen der 5,9 Millionen Einwohner des Landes gelten als „bedürftig“. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei fünfundzwanzig Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 37 Prozent. Das Wirtschaftswachstum betrug letztes Jahr nur 0,2 Prozent, sodass weder für die Arbeitslosen, noch für die Einsteiger in den Arbeitsmarkt neue Stellen geschaffen werden können.

Die Inflation lag letztes Jahr bei durchschnittlich 6,1 Prozent, seither ist sie noch weiter gestiegen. Die Bevölkerung rechnet mit einer Abwertung des libanesischen Pfundes, die zu einem weiteren Absinken des Lebensstandards führen wird.

Der Krieg zum Regimewechsel im Nachbarstaat Syrien, der von den USA unterstützt wird, hat auch den Libanon noch weiter destabilisiert. Eineinhalb Millionen Syrer sind in Folge des Krieges in den Libanon geflohen.

In Jordanien ging derweil ein Streik von 146.000 Lehrern am Mittwoch weiter, obwohl das Oberste Verwaltungsgericht den seit fünf Wochen andauernden Ausstand für illegal erklärt hat. Nach Verkündung des Urteils drohte das Bildungsministerium am Sonntag, alle Lehrer zu entlassen und einsperren zu lassen, die nicht wieder zur Arbeit in den Schulen erscheinen.

Die Regierung wies Eltern an, ihre Kinder in die Schule zu schicken und organisierte Schulbusse, die jedoch größtenteils leer zurückkehrten. In den wenigen Schulen, die wieder geöffnet wurden, saßen kaum Lehrer, und es fand kein Unterricht statt.

Die Lehrer streiken für eine 50-prozentige Gehaltserhöhung, die ihnen die jordanische Regierung 2014 versprochen, aber nie umgesetzt hat. Diese Forderung wies die Regierung zurück und erklärte, sie könne sich bestenfalls eine Erhöhung um zehn Prozent leisten. Das Grundgehalt für Lehrer liegt bei nur 500 Dollar pro Monat, und damit knapp über der „absoluten Armutsgrenze“ für eine fünfköpfige Familie. Lehrer beschrieben das Angebot der Regierung als „erbärmlich“ und erklärten, es gleiche nicht einmal die gestiegenen Kosten für Treibstoff und Fahrtkosten aus.

Das jordanische Regime reagiert auf die Entschlossenheit der Lehrer mit Polizeiaktionen. Es befürchtet eine noch größere Revolte der jordanischen Arbeiter, falls der Streik andauert oder die Lehrer ihre Forderung durchsetzen.

Letzten Monat waren in Ägypten trotz der Unterdrückungsmaßnahmen der Polizei Proteste ausgebrochen, bei denen in weniger als zwei Wochen etwa 2.300 Menschen verhaftet wurden.

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