Deutschland und die USA drohen mit Krieg in Syrien

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gestern zu einem Gipfel mit Präsident Vladimir Putin über den Krieg in Syrien in den russischen Ferienort Sotschi flog, drohten Berlin und Washington mit einem totalen Krieg im Nahen Osten.

In Washington, wo sich eine erbitterte Debatte über Trumps Nahostpolitik entwickelt, drohte Außenminister Mike Pompeo der Türkei mit Krieg. Die Türkei ist NATO-Mitglied und eine große regionale Militärmacht. Auf die Frage nach seiner Reaktion auf die türkische Militäroffensive gegen die Kurden antwortete Pompeo: „Wir ziehen Frieden dem Krieg vor. Aber für den Fall, dass eine kinetische oder militärische Aktion erforderlich ist, sollten Sie wissen, dass Präsident Trump bereit ist, diese Aktion durchzuführen.“

Der aggressivste Vorschlag kam jedoch aus Berlin, wo Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Besetzung Nordsyriens durch eine massive Truppe der Europäischen Union (EU) forderte, angeblich in Abstimmung mit Russland und der Türkei. „Mein Vorschlag ist, dass wir eine international kontrollierte Sicherheitszone einrichten unter Einbeziehung der Türkei und unter Einbeziehung von Russland“, sagte sie. „Ich glaube, das wäre eine starke politische und diplomatische Antwort der europäischen Mächte in der NATO.“

Zehntausende von Truppen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und anderen EU-Staaten würden im Rahmen dieses Vorschlags mobilisiert, in der größten internationalen Besatzungstruppe der EU seit Jahrzehnten. Roderich Kiesewetter, ein ehemaliger Offizier der Bundeswehr, der als Außenpolitiker für die Christlich-Demokratische Union (CDU) von Kramp-Karrenbauer tätig ist, schätzt die erforderliche Truppenstärke auf 30.000 bis 40.000 Soldaten.

Kramp-Karrenbauer wird auf dem morgigen Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel für ihren Vorschlag plädieren.

Ihr Vorschlag zeugt vom enormen Rechtsruck der offiziellen europäischen Politik in den letzten zehn Jahren. Zum ersten Mal seit dem Sturz der Nazis 1945 schlägt Berlin eine internationale Militäroperation vor. Zuvor hatte es Kriege von Washington, Paris oder anderen Mächten unterstützt. Doch kurz nachdem Washington 2013 davor zurückwich, Syrien zu bombardieren, begann Berlin, seine Außenpolitik zu remilitarisieren. Seither haben Politiker und rechtsextreme Wissenschaftler unaufhörlich militaristische Propaganda betrieben, um die tief verwurzelte Opposition der Bevölkerung zu überwinden.

Während ganz Europa aufrüstet, haben Frankreich und Schweden die Wiedereinführung der Wehrpflicht angekündigt. Die Europäischen Mächte wollen in den kommenden Jahren hunderte Milliarden in die militärische Aufrüstung stecken. Kramp-Karrenbauers Vorschlag zeigt, dass dieser Aufrüstung nicht darauf abzielt, Europa gegen ausländische Invasionen zu schützen, sondern die EU-Mächte in die Lage zu versetzen, eigene neokoloniale Kriege in ölreichen Regionen zu führen, die für ihre strategischen Interessen entscheidend sind.

Imperialistische Kreise in Amerika und Europa sind empört über die militärischen und finanziellen Vorteile, die Russland, dem Iran und China als Folge ihrer Niederlage in Syrien zufallen könnten. Ein aktueller Essay des Think Tanks US Brookings Institution beschwert sich: „Die Aussicht auf lukrative Wiederaufbaugeschäfte hat enormes Interesse bei Regierungen und Unternehmen ausgelöst, die von der Verwüstung Syriens profitieren wollen. Die engsten Verbündeten des Regimes, Russland und der Iran, waren bisher die wichtigsten Nutznießer des Goldrausches beim Wiederaufbau Syriens, mit China im Hintergrund.“

Während der Handelskrieg zwischen Washington und der EU eskaliert und beide Seiten mit Handelskriegszöllen in Milliardenhöhe drohen, weiten sich auch die geostrategischen Konflikte zwischen der EU und den USA aus. Die EU-Mächte betrachten die Niederlage der islamistischen und kurdischen Hilfstruppen der NATO in Syrien und den Sieg des von Russland unterstützten syrischen Regimes von Präsident Baschar al-Assad ebenso wie die USA als Bedrohung ihrer strategischen Interessen und ihre Weltposition. Berlin treibt daher seine eigenen unabhängigen Interessen vorerst unter der immer dünneren und unsichereren Decke des NATO-Bündnisses voran.

In der Titelgeschichte „Die Kapitulation des Westens“ warnt die jüngste Ausgabe des Spiegels: „Nach dem Rückzug der Amerikaner aus dem Norden Syriens teilen die Despoten Putin, Erdogan und Assad das Bürgerkriegsland unter sich auf – das wird zur Gefahr auch für Europa. … Selten hat ein einzelnes Manöver der Weltpolitik eine derart rasante Kettenreaktion ausgelöst wie der Abzug der US-Truppen aus Syrien letzte Woche.“

Der Spiegel bezeichnet Trumps Kurdenpolitik als „Ende einer Weltmacht“ und schreibt: „In Syrien findet eine Wachablösung statt. Der Westen hat kapituliert. Europäer und Amerikaner haben die Gräueltaten in Syrien immer wieder verurteilt, aber wenig getan, um sie zu verhindern. Die Despoten triumphieren: Assad, Erdogan und Putin. Die Folgen werden weit über den Nahen Osten hinaus zu spüren sein.“

Die Verurteilung der Despoten des Nahen Ostens durch die EU ist scheinheilig. Tatsache ist, dass die imperialistischen Mächte derzeit vor einer demütigenden Niederlage im Nahen Osten stehen, wo sie auf der Grundlage von Lügen und Provokationen seit Jahrzehnten Krieg führen. So wurde die Invasion des Irak im Jahr 2003 mit der Lüge gerechtfertigt, das irakische Regime besitze Massenvernichtungswaffen.

Zurzeit findet in Syrien und im Irak, wo Washington und seine europäischen Verbündeten seit dem ersten Golfkrieg 1991 blutige Plünderungskriege führen, ein allgemeiner Rückzug der NATO-Streitkräfte statt. Zusammengenommen haben diese Kriege Millionen Menschen getötet oder verwundet und zig Millionen in die Flucht getrieben. Der übereilte Rückzug der verbliebenen US-Truppen aus Nordsyrien hat nun zu heftigen Protesten geführt.

Die Bevölkerung syrischer Dörfer, durch die Konvois von US-Panzerfahrzeugen fuhren, bewarf sie mit Tomaten und Eiern oder schrie angeblich Parolen, die sie wegen des Verrats an Washingtons kurdischen Verbündeten anprangerten. Nachdem sie die Grenze zum Irak überschritten hatten, wurden diese Konvois mit weiteren Protesten und wüsten Beschimpfungen in englischer Sprache konfrontiert.

Ein weiterer Schlag für die militärische Stellung der USA im Nahen Osten kam von dem neokolonialen Marionettenregime, das die USA mit dem Irakkrieg von 2003 errichteten. Es ist eng mit dem Iran verbunden und wankt unter den Folgen seiner blutigen Unterdrückung von Massenprotesten Anfang des Monats. Irakische Truppen hatten 121 Menschen getötet, indem sie auf ihre Köpfe und Körper schossen. Dies geschah inmitten einer Welle anhaltender Massenproteste auch im Libanon.

Gestern widersprach das irakische Regime plötzlich der Behauptung von US-Verteidigungsminister Mark Esper, dass die US-Truppen, die Syrien verlassen, im Irak bleiben würden, um terroristische Gruppen zu bekämpfen. Die irakische Armee gab eine Erklärung ab, wonach die US-Streitkräfte lediglich die Erlaubnis haben, den Irak zu passieren um zu gehen, und nicht dort zu bleiben.

Der Berliner Vorschlag einer militärischen Besetzung Nordsyriens durch die EU würde, ebenso wie Pompeos Drohung eines totalen Krieges mit der Türkei, eine massive Eskalation der imperialistischen Gewalt im Nahen Osten bedeuten. Er birgt die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland, einer nuklearen Großmacht, deren Streitkräfte mit der syrischen Regierung verbündet sind. Er würde unweigerlich nicht nur mit der militärischen Opposition in der Region kollidieren, sondern auch mit wachsenden Protesten und antiimperialistischen Stimmungen von Arbeitern und Jugendlichen im Nahen Osten.

Während Kramp-Karrenbauer vorschlug, den Einsatz mit Russland und der Türkei zu koordinieren, deuteten gestern alle Anzeichen darauf hin, dass Moskau dies ablehnt. Auf die Frage nach dem Berliner Vorschlag antwortete der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, dass Moskau die Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen habe. „Es ist eine neue Initiative, es gibt keine klare Position dazu. Man müsste es sich ansehen“, sagte er.

Die Deutsche Welle interviewte Ruslan Mamedow vom Think-Tank „Russischer Rat für Außenpolitik“, der unverblümt erklärte: „Die offizielle russische Haltung dazu lautet: Alle ausländischen Truppen müssen Syrien verlassen. Ich glaube nicht, dass es irgendeine internationale Sicherheitszone unter gemeinsamer Kontrolle der EU-Länder und Russlands geben wird.“

Was Erdogan betrifft, so nahm er an einem siebenstündigen Treffen mit Putin in Sotschi teil, das darauf abzielte, die verbleibenden von der NATO unterstützten Milizen in Syrien zu beseitigen und den Ausbruch eines Krieges zwischen türkischen und syrischen Armeeeinheiten zu verhindern, die in unmittelbarer Nähe ihrer gemeinsamen Grenze operieren.

Das Abkommen, das nach einem Telefongespräch mit Putin auch Assad akzeptiert hat, teilt die syrisch-türkische Grenzregion in Zonen, die von türkischen Truppen kontrolliert werden, und ein Gebiet, das gemeinsam von syrischen Grenzschutzbeamten und russischer Militärpolizei überwacht wird. Die türkische Armee wird die Militäraktion gegen kurdische Kämpfer in ihrer Zone fortsetzen, wenn diese nicht freiwillig gehen.

Angebliche Kämpfer des Islamischen Staates (IS) sollen in den Gefangenenlagern bleiben, in denen sie bisher unter schrecklichen Bedingungen von NATO-unterstützten kurdischen Truppen festgehalten wurden. Schließlich bekräftigt das Abkommen von Sotschi das Adana-Abkommen von 1988, das Syrien verpflichtet hatte, keine Einheiten der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) aufzunehmen, gegen die die Türkei seit Jahrzehnten Krieg führt.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow unterstrich die Distanz, die Moskau von Washington und seinen europäischen Verbündeten trennt, die Truppen in Syrien im Einsatz hatten. Er erklärte: „Wir achten nicht besonders auf die Vereinigten Staaten und ihre Haltung. Diese Haltung ist recht veränderlich und widersprüchlich, und natürlich hält sich die von den Vereinigten Staaten geführte Koalition illegal in Syrien auf. Das ist wohlbekannt.“

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