Lehren für die Arbeiterklasse aus den Hongkonger Protesten

Seit fast sechs Monaten finden in Hongkong Demonstrationen für demokratische Grundrechte und gegen Polizeibrutalität mit Millionen Teilnehmern statt. Doch jetzt steckt die Protestbewegung in einer Sackgasse: Die Hongkonger Regierung hat keine nennenswerten Zugeständnisse hinsichtlich der Forderungen der Demonstranten gemacht, und die Polizei verschärft ihr Vorgehen gegen die Proteste. Gleichzeitig wurde die Bewegung durch die militante Vorgehensweise von Teilen der Studenten isoliert.

Die tieferen Gründe für diese Massenproteste sind die weit verbreitete Unzufriedenheit mit den undemokratischen Methoden des Regimes der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) in Peking und seiner politischen Handlanger in der Hongkonger Verwaltung sowie der Niedergang der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Arbeiter und Jugendlichen.

Doch weil die Protestbewegung bisher keine revolutionäre sozialistische und internationalistische Perspektive angenommen hat und nicht auf die Arbeiterklasse in Hongkong und ganz China zugegangen ist, wird sie von verschiedenen pro-kapitalistischen Parteien und Organisationen vereinnahmt. Einige davon vertreten eine offen rechte, antikommunistische und pro-imperialistische Perspektive.

Maskierte Demonstranten benutzen bei einer Versammlung nahe der Polytechnischen Universität in Hongkong am 25. November ihre Smartphones als Taschenlampen. Sie fordern die Freilassung der Demonstranten, die noch immer in der Universität festsitzen. (AP Photo/Ng Han Guan)

Die Hongkonger Kommunalwahlen am Sonntag, die mit einem überwältigenden Sieg des sogenannten Pan-Demokratie-Lagers endeten, haben die drohenden politischen Gefahren aufgezeigt. Die Pan-Demokraten, die konservative politische Opposition in der Stadt, haben durch ihre Ängstlichkeit und ihre Unterwürfigkeit gegenüber der Peking-freundlichen Regierung viele Menschen abgestoßen, vor allem Jugendliche, und wurden bei den Protesten weitgehend an den Rand gedrängt.

Doch da es keine politische Alternative gab, waren diese Parteien die Nutznießer der weit verbreiteten Feindschaft gegenüber Peking. Die Wähler stimmten aus Protest gegen die undemokratischen Methoden Pekings und die Polizeigewalt in Hongkong für die Pan-Demokraten. Insgesamt gewannen sie 347 der 452 Sitze in den Hongkonger Distrikträten und kontrollieren jetzt 17 der 18 Distrikte – eine schwere Niederlage für die Peking-freundlichen Parteien, die vor der Wahl sämtliche Distrikträte dominierten.

Die Democratic Party und die Civic Party, die größten Bestandteile des pan-demokratischen Lagers, sind beide pro-kapitalistisch und repräsentieren Schichten der Hongkonger Eliten, die wegen Peking eine Beeinträchtigung ihrer geschäftlichen Interessen befürchten. Sie lehnen jede Bewegung der Arbeiterklasse ab und wollen, dass Washington und London Druck auf das chinesische Regime ausüben, um ihre Position zu schützen.

Das Misstrauen der Jugend gegenüber den Pan-Demokraten zeigte sich bereits bei den Massenprotesten gegen die Versuche Pekings, im Jahr 2012 einen patriotischen Lehrplan einzuführen, und bei der so genannten Regenschirmbewegung 2014, die freie und offene Wahlen für den Posten des Regierungschefs forderte. Während die Pan-Demokraten im Jahr 2014 im Legislativrat wegen geringfügiger Zugeständnisse taktierten, fanden in den Straßen Massendemonstrationen von jungen Menschen statt, die sich auch von Tränengas und Polizeigewalt nicht einschüchtern ließen.

Aus den „Regenschirm“-Protesten gingen diverse Gruppen und Parteien vor. Einige davon, wie Demosistō, Hong Kong Indigenous und die Hong Kong National Front, stellten sich auf die Grundlage einer „lokalpatriotischen“ Perspektive, d.h. sie verherrlichen Hongkonger Provinzialismus und fordern mehr Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit von Peking. Die erbittertsten und extrem antikommunistischen „Lokalpatrioten“ wie Hong Kong Indigenous und Civic Passion waren für provokante und teilweise gewalttätige Übergriffe auf Festlandchinesen verantwortlich, denen sie die Schuld an steigenden Preisen sowie fehlenden Arbeitsplätzen und Bildungsangeboten für „Einheimische“ gaben.

Bereitschaftspolizei setzt bei einer Protestveranstaltung in Hongkong am 25. August 2019 Tränengas gegen Demonstranten ein. (Quelle: AP Photo/Kin Cheung)

Die aktuelle Protestbewegung entstand Anfang Juni und richtete sich gegen die Versuche der Hongkonger Verwaltung, ein Gesetz durchzusetzen, das die Auslieferung an Festland-China erlaubt. Es wurde allgemein befürchtet, dass Peking dieses Gesetz benutzen würde, um Kritiker und Gegner zu verhaften oder einzuschüchtern. Die großen Proteste wurden von der konservativen Civil Human Rights Front organisiert, eine Gruppe von etwa 48 NGOs, mehreren pan-demokratischen Parteien und anderen politischen Gruppen, Studentenvereinigungen und Gewerkschaften, darunter die Hong Kong Federation of Trade Unions (HKCTU).

Die Civil Human Rights Front hat die Forderungen der Proteste formuliert: die Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt, die Einstellung aller Verfahren gegen Demonstranten und freie und offene Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht. Im begrenzten Charakter dieser Forderungen zeigt sich der bürgerliche Klassencharakter der Organisation. Sie repräsentiert Teile der Wirtschaftselite, die die zunehmenden Kontrollen von Seiten Pekings ablehnen und die vor allem fürchten, dass die Proteste eine Massenbewegung der Arbeiterklasse auslösen könnten. Die Front hat bewusst keine Maßnahmen zur Bekämpfung der zunehmenden sozialen Krise der Arbeiter und Jugendlichen gefordert.

Die Rolle der HKCTU zeigte sich anschaulich, als Aktionen von verschiedenen Arbeitergruppen am 5. August und am 2. und 3. September zu stadtweiten Generalstreiks mit Hunderttausenden Teilnehmern führten. Um die Arbeitskämpfe einzuschränken, rief die HKCTU ihre Mitgliedsgewerkschaften nicht zu Streiks auf, sondern überließ es den Mitgliedern selbst, ob sie sich krankmelden oder nicht zur Arbeit erscheinen. Ihre Redner schlossen sich den Forderungen der Civil Human Rights Front an und erwähnten die sozialen Probleme der Arbeiter mit keinem Wort.

Nach dem Streik im September kündigte Regierungschefin Carrie Lam an, sie werde das Auslieferungsgesetz im Oktober formell zurückziehen. Dieser Schritt wurde allgemein als zu wenig und zu spät verurteilt. Gleichzeitig reagierte die konservative und lokalpatriotische Opposition auf das Auftreten der Arbeiterklasse, indem sie die Protestbewegung nach rechts zu drücken versuchte und eine Intervention durch den US-amerikanischen und britischen Imperialismus forderte.

Am 8. September wurde ein Protestzug zum amerikanischen Konsulat organisiert, bei dem amerikanische Fahnen geschwenkt und die amerikanische Nationalhymne gesungen wurde. Danach wurde eine ähnliche Veranstaltung vor dem britischen Konsulat organisiert. Joshua Wong, der junge Anführer von Demosistō, wurde bei einer Reise durch Europa und den USA von den Medien hofiert, erhielt Zugang zu wichtigen politischen Führern und durfte im amerikanischen Kongress sprechen.

Die offene Hinwendung zu Washington und London spielt dem KPCh-Regime direkt in die Hände. Dieses hat von Anfang an versucht, die Proteste als das Werk einer Handvoll pro-imperialistischer Agitatoren im Auftrag Washingtons zu verteufeln. Zweifellos wird Peking die Vorwürfe, die Proteste in Hongkong gingen auf ausländische Intervention zurück, benutzen, um die Unterdrückung durch das Militär zu rechtfertigen und gleichzeitig die öffentliche Meinung auf dem Festland gegen die Proteste in Hongkong zu mobilisieren. Die Millionen, die sich an den Protesten beteiligten, wurden zwar nicht durch pro-amerikanisches Fahnenschwenken mobilisiert, doch ohne eine klare politische Alternative besteht die Gefahr, dass die Protestbewegung in diese Richtung gesteuert wird.

Der US-Imperialismus interessiert sich nicht im Geringsten für die demokratischen Rechte in Hongkong oder sonst irgendwo auf der Welt. Er benutzt die „Menschenrechte“ seit Langem selektiv als Vorwand für Regimewechsel-Operationen und neokoloniale Kriege, um seine eigenen räuberischen wirtschaftlichen und strategischen Interessen durchzusetzen. Washingtons heuchlerische Kampagne gegen die Unterdrückung der Uiguren in der westchinesischen Provinz Xinjiang ist Teil einer Strategie mit dem Ziel, China zu schwächen und zu unterwerfen, da es das Land als größte Bedrohung für die globale Vormachtstellung der USA betrachtet.

Teile der US-Politik und des amerikanischen Geheimdienstl- und Sicherheitsapparats versuchen offensichtlich, das Thema „Menschenrechte“ in Hongkong auszunutzen. Der amerikanische Kongress verabschiedete diese Woche ein Gesetz, das eine jährliche Bewertung der Hongkonger Autonomie vorsieht. Dabei soll festgestellt werden, ob Hongkong weiterhin besondere Handelsbeziehungen genießen sollte; außerdem sollen Personen sanktioniert werden, die für die Folterung von Aktivisten verantwortlich sind. Während Trump noch letzten Monat die Reaktion Chinas auf die Proteste in Hongkong lobte, äußerte sich Außenminister Mike Pompeo diese Woche ganz anders. Er rief die Hongkonger Verwaltung auf, auf die Anliegen der Protestbewegung einzugehen.

Appelle an den Imperialismus, demokratische Rechte zu verteidigen, sind nicht nur zwecklos, sondern auch eine gefährliche Falle. Wenn der Kampf für demokratische Rechte in Hongkong nicht mit einer Niederlage oder einer Katastrophe enden soll, müssen Jugendliche und Arbeiter auf die Arbeiterklasse zugehen, nicht auf Washington und London, sondern in erster Linie auf die Arbeiterklasse in ganz China. Die Arbeiter und Jugendliche auf dem chinesischen Festland sind ebenso mit dem Niedergang ihres Lebensstandards, repressiven Arbeitsbedingungen und fehlenden demokratischen Grundrechten konfrontiert wie diejenigen in Hongkong.

Angesichts des Wiederauflebens des Klassenkampfs sollte die Protestbewegung einen Appell um Unterstützung an die Arbeiter im Rest der Welt richten, u.a. an die streikenden Autoarbeiter in den USA, die Gelbwestenbewegung in Frankreich und die Protestbewegungen in Chile, Ecuador und dem Libanon. Notwendig ist ein gemeinsamer Kampf auf der Grundlage einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive gegen das kapitalistische System und alle seine Verteidiger in Peking, Washington, London und der ganzen Welt.

Um die Arbeiter zu vereinen, ist es von entscheidender Bedeutung, alle Formen von Nationalismus und Chauvinismus zurückzuweisen – sowohl den reaktionären chinesischen Patriotismus als auch den ebenso reaktionären Hongkonger „Lokalpatriotismus“ und Provinzialismus, der die „Festländer“ für die soziale Krise verantwortlich macht, die der Kapitalismus geschaffen hat.

Der Kampf für den Sozialismus erfordert eine politische Klärung in Hinblick auf die Rolle des Stalinismus und des Maoismus. Die chinesische Revolution von 1949 war ein bedeutsames historisches Ereignis, das die imperialistische Herrschaft über China beendete und den Lebensstandard der Massen verbesserte. Allerdings wurde sie von Anfang an vom Regime der Kommunistischen Partei Chinas unter Mao Zedong deformiert. Die nationalistische Perspektive des Maoismus erwies sich als Katastrophe für den deformierten Arbeiterstaat, doch die KPCh zog daraus die Schlussfolgerung, ab 1978 den Kapitalismus wieder einzuführen. Nach der brutalen Unterdrückung der Arbeiter und Studenten beim Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 forcierte sie diesen Kurs.

Die Vereinigung der Arbeiter und Jugendlichen in ganz China, einschließlich Hongkong, im Kampf für den Sozialismus erfordert den Aufbau einer revolutionären Führung, die sich die Lehren aus den strategischen Erfahrungen der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert aneignet. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale – die trotzkistische Weltbewegung – ist die einzige Partei, die einen konsequenten Kampf gegen den Stalinismus und alle Formen des Opportunismus geführt hat. Wir rufen Arbeiter, Studenten und Schüler in Hongkong und auf dem chinesischen Festland auf, sich mit uns in Verbindung zu setzen und eine Diskussion über diese entscheidenden politischen Fragen zu beginnen sowie sich am Aufbau einer Sektion des IKVI in China zu beteiligen.

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