Mutmaßlicher Lübcke-Mörder eines weiteren Mordanschlags verdächtigt

Der Neonazi Stephan Ernst, der wegen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Untersuchungshaft sitzt, wird eines weiteren Mordanschlags verdächtigt. Gleichzeitig sind am Wochenende neue Recherche-Ergebnisse veröffentlicht worden, die enge Verbindungen zwischen dem Lübcke-Mord und dem NSU-Mord an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel aufdecken.

Walter Lübcke war in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses aus nächster Nähe mit einem Schuss hingerichtet worden. Ernst gestand die Tat zunächst, widerrief sein Geständnis aber nach wenigen Tagen. Im Januar bezichtigte Ernst dann seinen Komplizen Markus Hartmann, den tödlichen Schuss abgegeben zu haben. Dieser sitzt wegen des Verdachts auf Beihilfe zum Mord im Gefängnis.

Seit November letzten Jahres ermittelt die Bundesanwaltschaft auch wegen des Tatverdachts in einem Fall von 2003 gegen Ernst. Damals war auf einen Lehrer in Kassel geschossen worden. Der damals 48-Jährige stand in seiner Küche, als ein Schuss Fenster und Rollladen durchschlug. Das Projektil flog unmittelbar am Kopf des Mannes vorbei.

Nach Informationen von NDR und Spiegel fanden Polizisten letztes Jahr auf einem Laptop von Ernst in einem verschlüsselten Ordner eine Datei mit dem Foto, dem Namen und der Adresse des damaligen Opfers sowie Notizen über dessen antifaschistische Aktivitäten. Die Datei soll 2002 angelegt worden sein.

Bereits zuvor hatte die Bundesanwaltschaft Ermittlungen gegen Ernst wegen eines Mordversuches aus dem Jahr 2016 aufgenommen. Damals war in Lohfelden bei Kassel, unweit des Wohnorts von Ernst, ein Asylbewerber aus dem Irak mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt worden.

Bei der nun von NDR und Spiegel genannten Datei dürfte es sich um die „Liste“ handeln, von der die antifaschistische Recherche-Website Exif am Wochenende berichtete. Sie sei zwischen 2001 und 2007 angelegt worden. Darin befänden sich Daten von über 60 Objekten und Personen im Raum Kassel, darunter auch die des Lehrers, auf den der Anschlag verübt worden war.

Die Exif-Website legt in ihrer ausführlichen Analyse Verbindungen, Parallelen und persönliche Kontinuitäten zwischen den Morden an Halit Yozgat und Walter Lübcke dar. Beide Morde ähneln sich sehr, die Opfer waren mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet worden.

Beim Mord am jungen Halit Yozgat in seinem Internet-Café war der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme anwesend. Temme, der in seinem Heimatdorf den Spitznamen „Klein-Adolf“ hatte, log mehrfach vor den Ermittlungsbehörden, verweigerte Aussagen vor Untersuchungsausschüssen bzw. vor Gericht und gab stets nur zu, was gar nicht mehr zu leugnen war.

Nach dem Mord an Halit Yozgat, dem neunten Opfer, endete die rassistische „Ceska“-Mordserie, die dem NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) zugeschrieben wird. Ein Jahr später, im April 2007, soll der NSU noch die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn getötet haben.

Temme wechselte nach dem Kasseler NSU-Mord seinen Arbeitsplatz. Er arbeitet seither im Regierungspräsidium von Kassel, der Behörde, der Walter Lübcke vorstand.

Nun verdichten sich die Hinweise, dass der Verfassungsschutzbeamte Temme nicht nur beim Kasseler NSU-Mord, sondern auch bei anderen Morden eine Rolle gespielt haben könnte. Zuletzt waren Hinweise aufgetaucht, die Temme mit den NSU-Morden an İsmail Yaşar in Nürnberg und Theodoros Boulgarides in München im Juni 2005 in Verbindung bringen.

Recherchen von Exif weisen darauf hin, dass es auch persönliche Verbindungen zwischen den Neonazi-Szenen in Kassel und Dortmund gab. In Dortmund war am 4. April 2006, nur zwei Tage vor Halit Yozgat in Kassel, Mehmet Kubaşık als achtes Opfer des NSU in seinem Kiosk erschossen worden.

Exif beschreibt ausführlich die Neonazi-Szene in Kassel und hat im Januar eines ihrer früheren Mitglieder, den ehemaligen Neonazi M.K., interviewt. Dieser hatte zum Zeitpunkt des Mordes zwei Häuser neben dem Internetcafé gewohnt, in dem Halit Yozgat erschossen wurde, und war damals als neonazistischer Gewalttäter bekannt, berichtet Exif. In dem Gespräch habe er betont, er sei niemals von einer Behörde auf den Mord an Halit Yozgat angesprochen worden, „obwohl ich genau nebenan gewohnt habe“.

Der 1979 geborene M. K. berichtete, er sei auch mit Stephan Ernst bekannt gewesen. Auch Ernst Komplizen Markus Hartmann muss er laut den Recherchen von Exif gekannt haben. Und sowohl M. K. als auch Ernst und Hartmann waren mit Benjamin Gärtner bekannt. Der Neonazi Gärtner wiederum war V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes, geführt von niemand anderem als Temme. Temme und Gärtner hatten kurz vor und nach dem Mord an Halit Yozgat miteinander telefoniert.

Hartmann, Ernst und M. K. kannten auch Stanley Röske, bis zuletzt einer der Führer der Gruppe „Combat 18 Deutschland“, die im Januar 2020 verboten wurde. Laut einem Bericht der Bild-Zeitung waren auf der Feier zum 30. Geburtstag Röskes, die 2006 – unmittelbar vor dem Mord an Halit Yozgat – im Kasseler Clubhaus des Rockerclubs „Bandidos“ stattfand, Stephan Ernst sowie die NSU-Mörder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und „wahrscheinlich auch Beate Zschäpe“ anwesend.

Mit Corryna Görtz, einer Neonazistin aus dem militanten Kern der Kasseler und der Thüringer Szene, aus der Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe stammen, ist gleichzeitig die Verbindung der Kasseler Neonazi-Szene nach Dortmund belegt.

Noch im Jahr 2006 war Görtz mit dem Dortmunder Neonazi Siegfried Borchardt, bekannt als „SS-Siggi“, liiert. Mehmet Kubaşık wurde in der Dortmunder Nordstadt ermordet, wenige hundert Meter vom Wohnort Borchardts entfernt. Und in der Zwickauer Wohnung des NSU, die Beate Zschäpe vor ihrer Flucht in Brand setzte, fanden sich Reste einer Schachtel der Munition, die in der NSU-Mordserie verwandt worden war. Auf die Schachtel war per Hand „Siggi“ geschrieben worden.

„Ob Borchardt mit dieser Schachtel etwas zu tun hatte, konnte nicht geklärt werden. Er wurde offiziell nie vernommen“, zitiert Exif den Journalisten Tobias Großekemper, der diese Geschichte recherchiert hat.

Es gibt Hinweise, dass Corryna Götz als Geheimdienstinformantin arbeitete. Laut dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss, schreibt Exif, hatte sie „in ihrer Zeit in Österreich 2000 bis 2003 für einen österreichischen Geheimdienst gespitzelt“. Im Oktober 2004 habe sie dann aus einem deutschen Gefängnis heraus an den hessischen Verfassungsschutz geschrieben und sich angeboten. Damals soll sie nach einem Aussteigerprogramm gefragt haben.

Ob sich Temme, der beim hessischen Verfassungsschutz V-Leute in der rechtsextremen Szene betreute, 2004 mit ihr in Verbindung setzte, ist unbekannt. Der Verfassungsschutz hat 2009 ihre Personalakte vernichtet. Auf jeden Fall ist sie bis heute aktive Rechtsextremistin geblieben – ob in den Diensten des Verfassungsschutzes, wie viele andere, die aussteigen wollten, ist unklar.

Am 15. September 2017 sagte Görtz vor dem hessischen Untersuchungsausschuss aus, sie kenne das Internetcafé von Halit Yozgat und habe es aufgesucht. Sie benannte dafür mehrere Gründe, von denen kein einziger plausibel war.

Heute ist Görtz eng mit Mike Sawallich befreundet, der sich in den vergangenen Monaten als Freund von Stephan Ernst zu erkennen gab.

Aber „aus all diesen Verbindungen und Verflechtungen sticht der Fall des Kasseler Neonazis Markus Hartmann heraus“, schreibt Exif. Hartmann kommt ursprünglich aus Rudolstadt, also derselben Gegend in Thüringen wie der NSU. Bereits dort war er in der rechtsextremen Szene aktiv, 2006 befand er sich dann bereits in Kassel.

Nach dem Mord an Halit Yozgat wurde er von der Polizei befragt. Die Ermittler hatten festgestellt, dass er auffallend häufig eine Internet-Seite angeklickt hatte, die über den Mordfall berichtete. „In knappen Sätzen erzählte Hartmann, dass ein Nachbar von ihm, mit dem er befreundet sei, ein enger Freund von Halit Yozgat gewesen sei und dass er über diesen Halit Yozgat auch einmal kurz kennengelernt habe.“ Der Beamte notierte daraufhin laut Exif auf dem Spurenblatt: „Nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen.“

Ob Hartmann schon damals auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes stand, ist ungewiss. Aber Exif berichtet über eine Sitzung des „Ausschusses für Inneres und Heimat“ am 15. Januar 2020, in der über den aktuellen Stand der Ermittlungen im Mordfall Walter Lübcke berichtet wurde. Darin antwortete Cornelia Zacharias von der Generalbundesanwaltschaft (GBA) auf die Frage, ob Markus Hartmann Informant einer Behörde gewesen sei, sie wisse es zwar, sei aber nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. „Zuvor jedoch hatte ein Vertreter der GBA auf die Frage, ob Stephan Ernst Spitzel gewesen sei, ohne Umschweife gesagt, dass man dies seitens seiner Behörde ausschließen könne. Dieses Statement blieb bei Markus Hartmann aus.“

Stephan Ernst, Markus Hartmann, Benjamin Gärtner, Stanley Röske, Corryna Görtz, Mike Sawallich und andere sind Teil einer Kasseler Neonaziszene, deren harter Kern aus nie mehr als 50 Personen bestand. Allein der hessische Verfassungsschutz – konkret: Temme, sein Vorgesetzter und eine Kollegin im Kasseler Büro – führten um das Jahr 2006 in dieser relativ kleinen Neonaziszene mindestens sieben V-Personen. Bis auf Benjamin Gärtner ist keiner von diesen namentlich bekannt, von den Kasseler Neonazis, die mit anderen Geheimdiensten zusammengearbeitet haben, ganz zu schweigen.

Es ist daher absolut unmöglich zu sagen, wo die Neonazi-Szene inklusive NSU aufhört und wo der Staat beginnt. Die NSU-Schlüsselfigur Temme wird nicht nur vom Verfassungsschutz, sondern auch von der Landesregierung aus CDU und Grünen unter Ministerpräsident Volker Bouffier gedeckt, der zur Zeit des Yozgat-Mordes Innenminister war.

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