Wachsende Streiks in ganz Europa gegen die Reaktion der Regierungen auf die Corona-Pandemie

In ganz Europa wächst die soziale Wut der Arbeiter über die Versuche der nationalen Regierungen, der Unternehmensverbände und der Gewerkschaftsbürokratien, sie trotz der ausufernden Coronavirus-Pandemie zur Weiterarbeit in nicht lebensnotwendigen Branchen zu zwingen. Diese Wut äußert sich auch in zunehmenden Streiks.

In Italien und Frankreich sind bereits seit über einer Woche Ausgangssperren in Kraft. Auch in Großbritannien, Spanien und einem Großteil von Deutschland wurden weitreichende Beschränkungen eingeführt. Die Zahl der Infizierten steigt jedoch weiter rapide an. Am Donnerstag wuchs die Zahl der weltweiten Fälle auf 529.137. Inzwischen sind rund 24.000 Menschen an den Folgen des Virus gestorben. In Europa verzeichnete Spanien 8.217 neue Fälle und 718 Tote; Italien 6.203 neue Fälle und 712 Tote; Deutschland 6.615 neue Fälle und 61 Tote; Frankreich 3.922 neue Fälle und 365 Tote; Großbritannien 2.129 neue Fälle und 115 Tote; die Schweiz 914 neue Fälle und 38 Tote.

In ganz Europa hat die breite Masse der Arbeiter keinen Zugang zu Tests und ärztlicher Behandlung im Krankenhaus. Stattdessen wird ihnen empfohlen, Schmerzmittel zu nehmen und zu Hause abzuwarten, ob sie eine schwere Lungenentzündung entwickeln. Das Ergebnis sind Tragödien wie der Tod der 36-jährigen dreifachen Mutter Kayla Williams im Süden Londons. Letzte Woche, am 20. März, erklärten ihr Rettungskräfte, sie könne nicht ins Krankenhaus aufgenommen werden, da sie kein „Prioritätsfall“ sei. Einen Tag später starb sie zuhause an COVID-19.

Das Kolosseum in Rom spiegelt sich in einer Wasserpfütze mit einer weggeworfenen Gesichtsmaske. Am 8. März wurde es im Rahmen der vorbeugenden Maßnahmen gegen öffentliche Versammlungen geschlossen. (Alfredo Falcone/LaPresse via AP)

Die Arbeiter sind zutiefst empört über das Verhalten der Konzerne, die trotz milliardenschwerer staatlicher Rettungspakete fordern, dass die Beschäftigten weiterhin Profite für die Investoren erarbeiten, deren aufgeblähte Vermögen von ständigen staatlichen Geldspritzen abhängig sind. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass so viele Arbeiter wie möglich – bei vollem Lohn – zu Hause bleiben, um die Ausbreitung der Krankheit zu beschränken. Da vermehrte soziale Kontakte am Arbeitsplatz unweigerlich zu weiteren Toten durch COVID-19 führen werden, stehen die Arbeiter vor der Frage: Wie viele von ihnen sind bereit, für die Profite der Superreichen zu sterben?

Am Mittwoch gingen die Metallarbeiter in den Regionen Mailand und Rom in einen eintägigen Streik, zu dem die Gewerkschaften aufgerufen hatten. Vor zwei Wochen hatten spontane Streiks in ganz Italien die Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte und die korrupten Gewerkschaften dazu gezwungen, eine landesweite Ausgangssperre zu vereinbaren. Im Vorfeld des Metallarbeiterstreiks war es wiederholt zu Streiks in Amazon-Betrieben gekommen, u.a. in dem riesigen Logistikzentrum in Torrazza Piemonte. Zudem hatten die Beschäftigten und Besitzer von Tankstellen mit Arbeitsniederlegungen gedroht.

Doch in Italien und ganz Europa sind große Teile der Arbeiter noch immer zum Arbeiten gezwungen, u.a. bei der Post, in Lebensmittelgeschäften und Banken. Auch sie diskutieren über Streiks und sind wütend darüber, dass sie oft nicht lebenswichtige Arbeiten leisten müssen und keine Masken oder Schutzausrüstung gegen das Coronavirus bekommen.

Ein Angestellter eines Lebensmittelgeschäfts, der in einem Arbeitervorort südlich von Madrid lebt, schilderte gegenüber der Presse seine Angst und Wut darüber, dass er unter unsicheren Bedingungen weiterarbeiten muss, obwohl bereits 12.000 Einwohner der Stadt infiziert, 1.500 gestorben und mehr als 1.000 Menschen in Intensivbehandlung sind: „Wir sind wie die Zwischendeck-Passagiere auf der Titanic“, sagte er. „Wir riskieren unser Leben für nichts. Man hat uns verraten.“

Im Amazon-Warenverteilzentrum im französischen Saran hatte sich letzte Woche ein Großteil der Arbeiter krankgemeldet. Mehrere Hundert von ihnen forderten bei einem Treffen mit Vertretern der Gewerkschaften und des Managements das Recht auf bezahlte Freistellung, wenn am Arbeitsplatz eine unmittelbare Gefahr für ihr Leben herrscht – die französischen Gesetze garantieren dieses Recht. Ein Arbeiter in Saran erklärte dazu: „Ein Paket wird oft zwanzigmal von verschiedenen Leuten angefasst. Wir kommen jeden Tag mit Angst in der Kehle zur Arbeit. So kann es nicht weitergehen.“

Während sie Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel und andere wichtige Schutzausrüstung in die ganze Welt verschicken, erhalten die Arbeiter in Saran selbst keine Schutzausrüstung. Zudem müssen sie oft so eng zusammenstehen, dass sie die vorgeschriebenen zwei Meter Sicherheitsabstand nicht einhalten können. Ein anderer Arbeiter kommentierte die Versuche des Managements, den Arbeitern diese lebensgefährlichen Zustände mit einer mickrigen Lohnerhöhung von zwei Euro brutto schmackhaft zu machen: „Das ist einfach beschämend.“ Er habe abgelehnt.

Gleichzeitig kam es zu Arbeitsniederlegungen in den PSA-Autowerken in Mulhouse und Trémery, dem Toyota-Werk in Onnaing, dem Renault-Werk in Sandouville, dem Bombardier-Werk in Crespin und der Schiffswerft Chantiers de l'Atlantique in Saint Nazaire. Die Beschäftigten in diesen Werken beriefen sich dabei alle auf ihr Recht, unmittelbare Bedrohungen für ihr Leben am Arbeitsplatz zu meiden.

Die Vertreter der herrschenden Klasse sind sich akut darüber bewusst, dass sie in der Frage, wer die Kontrolle über die Fabriken ausübt, von den Arbeitern herausgefordert werden. Bei ihnen geht die Angst um. Der Vizepräsident der französischen Unternehmervereinigung MEDEF, Patrick Martin, warnte: „In allen Branchen, auch in vielen, deren Aktivität nicht durch Gesundheitsmaßnahmen verboten wurde, gibt es einen extrem brutalen Umschwung in der Haltung der Arbeiter.“ Er tat die Reaktion der Arbeiter auf die tödliche Bedrohung durch COVID-19 als „Überreaktion“ ab und klagte, das Management könne „wegen des Drucks der Arbeiter die Produktion nicht mehr fortsetzen.“

Am Mittwoch legten in Nordirland die Arbeiter der Lebensmittelbetriebe ABP Meats in Lurgan und Moy Park in Seagoe, Portadown und Co Armagh die Arbeit nieder. Die Beschäftigten dort gelten als „unentbehrliche Arbeiter“, da ihre Arbeit eine große Rolle dabei spielt, die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Doch trotz ihrer angeblich kritischen Bedeutung setzt man die Arbeiter dort entsetzlichen, sogar lebensgefährlichen Bedingungen aus.

Die streikenden Arbeiter bei ABP, dessen Besitzer Larry Goodman laut Schätzungen ein Vermögen von 2,45 Milliarden Euro besitzt, forderten Maßnahmen zur sozialen Distanzierung am Arbeitsplatz und eine gründliche Reinigung der Arbeitsplätze von Kollegen, die positiv auf COVID-19 getestet wurden. Beschäftigte von Moy Park, einem britischen Unternehmen, das auch in Irland, Frankreich und den Niederlanden tätig ist, twitterten Bilder von Arbeitern, die gezwungen waren, in einer überfüllten Kantine zu essen und dabei gegen grundlegende Sicherheitsvorgaben zur Vermeidung von Infektionen zu verstoßen.

Wenn die Arbeiter erfolgreich gegen die Pandemie und die verantwortungslose Politik der Kapitalistenklasse kämpfen wollen, müssen sie ihre Kämpfe durch Aktionskomitees organisieren, die unabhängig von den Gewerkschaften agieren. Sie dürfen den Gewerkschaftsbürokratien keinerlei Vertrauen schenken, da diese von den gleichen Konzernen und Regierungen kontrolliert und finanziert werden, die versuchen, die Arbeiter wieder an ihre Arbeitsplätze zu zwingen. Schon jetzt hat die Pandemie gezeigt, dass die Arbeiter selbst die Kontrolle über Industriebetriebe übernehmen müssen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Doch die Krise zeigt zudem immer deutlicher, dass die Arbeiter auch die politische Macht übernehmen müssen.

Das ist die Lehre aus den Verhandlungen der Gewerkschaften mit Conte und dem italienischen Branchenverband Confindustria am Mittwoch während des eintägigen Streiks. Confindustria forderte die Einstellung aller Streiks, während Conte behauptete, das Land könne sich Streiks „nicht leisten“. Die Gewerkschaften gaben einem schmutzigen Deal ihren Segen, indem geregelt ist, dass die Unternehmen zusammen mit der Polizei Zertifkate ausstellen dürfen, die den Unternehmen bescheinigen, dass ihr Betrieb „unentbehrlich“ sei. Dadurch könnten sie die Arbeiter zur Weiterarbeit zwingen.

Die wohlhabenden Funktionäre der Gewerkschaftsbürokratie haben einen Deal unterzeichnet, der sich in bewusster Feindschaft gegen die Forderungen der Arbeiter richtet, zu Hause zu bleiben. In einer gemeinsamen Erklärung mit Confindustria erklärten die Gewerkschaften, Polizeipräfekten würden „territoriale Organisationen einbinden, um die Selbst-Zertifizierung von Unternehmen zu unterstützen. Dadurch kann bescheinigt werden, dass diese Unternehmen Aktivitäten durchführen, die entscheidend zur Aufrechterhaltung grundlegender Versorgungsketten beitragen.“

Die Behauptung, Italien oder Europa könnten sich keine Streiks leisten, ist eine politische Lüge. In Wahrheit kann sich Europa nicht leisten, dass eine massive Zahl von Arbeitern aufgrund einer Politik zu Tode kommt, die darauf ausgerichtet ist, die Finanzaristokratie noch reicher zu machen.

Die Konzerne und die milliardenschweren Investoren haben ein Hilfspaket in Höhe von 750 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank erhalten, ein Rettungspaket in Höhe von 1,1 Billionen Euro in Deutschland, und Subventionen in dreistelliger Milliardenhöhe von allen europäischen Staaten, deren Großteil an die großen Unternehmen fließt. Ein kleiner, aber nicht unbedeutender Teil dieser Gelder ist für die Gewerkschaftsbürokratie vorgesehen. Und da die Superreichen die COVID-19-Pandemie ausnutzen, um Billionen Euro zu kassieren, treffen sie Maßnahmen, die sicherstellen, dass die Pandemie weitergeht.

Zwischen den Arbeitern und der Finanzaristokratie bahnt sich eine entscheidende Konfrontation an.

Unter den Arbeitern in ganz Europa wächst die Wut über die Unfähigkeit der Regierungen, wirksam auf die Pandemie zu reagieren. In Frankreich glauben laut einer Umfrage von Odoxa 70 Prozent der Bevölkerung, dass ihnen die Regierung nicht die Wahrheit sagt. 79 Prozent glauben nicht, dass sie eine klare Politik hat, während 88 Prozent der Meinung sind, die Ausgangssperren hätten früher in Kraft treten müssen. Doch die zentrale Achse der französischen Pandemiepolitik ist die gleiche wie in ganz Europa: gegen den Rückzug der Bevölkerung nach Hause, Verachtung für Sicherheitsmaßnahmen und die Weigerung, ausreichend Tests und medizinische Versorgung für Erkrankte zur Verfügung zu stellen.

Der Weg vorwärts besteht in einem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse für die Beschlagnahmung der riesigen Summen von öffentlichen Geldern, die an die Superreichen verteilt werden, und der Einsatz dieser Mittel für ein sozialistisches Programm. Ein international koordinierter Kampf gegen die COVID-19-Pandemie ist ein wichtiger Bestandteil dieses Programms.

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