Tönnies-Mitarbeiterin wegen kritischem Video gekündigt

Zahl der Corona-Infektionen in Deutschland steigt wieder an

Der Masseninfektion in der nordrhein-westfälischen Fleischfabrik Tönnies, wo sich über 1500 Arbeiter mit Covid-19 ansteckten, ist zum Symbol für die Rücksichtslosigkeit geworden, mit der Unternehmer und Politiker die Arbeiterklasse der Pandemiegefahr aussetzen.

Ein Video hatte schon früh publik gemacht, wie der Schutz vor Corona bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück missachtet wurde. Nun muss die Whistleblowerin, die das Video publiziert hatte, vor Gericht um ihren Arbeitsplatz kämpfen.

Szene aus dem Tönnies-Video

„Tausende von Menschen sitzen alle an einem Tisch. Das ist Tönnies. Wie soll man sich hier schützen?“ Das Video, das mit diesem Kommentar im Netz kursierte, fand auf der ganzen Welt Verbreitung. Es zeigte den Blick in eine Kantine, in der hunderte Mitarbeiter dicht an dicht an Tischen sitzen und essen: Abstandhalten – ein Ding der Unmöglichkeit.

Das Video hatte die Mitarbeiterin einer Catering-Firma aufgenommen, die bei Tönnies die Kantine führt. Die Arbeiterin hat mittlerweile Hausverbot in der Fabrik, sie wurde fristlos gekündigt und kämpft zurzeit vor dem Arbeitsgericht Bielefeld um ihren Arbeitsplatz.

Diese Behandlung einer mutigen Arbeiterin, die als Whistleblowerin eher einen Preis verdient hätte, passt zum Vorgehen von Unternehmern und Politikern aller Couleurs. Um die Wirtschaft in Gang zu halten und wieder Profit zu machen, sind sie zu allem bereit und vertuschen und verharmlosen das Ausmaß und die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in den Fabriken und Betrieben.

Dabei ist die Pandemie weltweit außer Kontrolle, und auch in Deutschland steigt die Zahl der Neuinfektionen wieder an. Hier nähert sich die Gesamtzahl der Corona-Infizierten der 200.000er Marke. Am Sonntag wurden offiziell 196.335 Covid-19-Fälle registriert, wobei die Dunkelziffer hoch ist, da nach wie vor wenig getestet wird.

Über 9000 Menschen sind bisher an dem Virus gestorben, 21 davon im Kreis Gütersloh, in dem Tönnies liegt. Fast 500 Personen sind in diesem Kreis noch immer krank, mit unabsehbaren Folgen für ihr ganzes Leben. Drei von ihnen werden in verschiedenen Krankenhäusern künstlich beatmet.

Auch immer mehr Kinder und junge Menschen erkranken an Covid-19. Zwar sind über achtzig Prozent derjenigen, die an Corona sterben, Senioren über 70, die nur zwanzig Prozent der Zahl der erkrankten Personen ausmachen. Aber seit Anfang Juni besteht ein Fünftel aller Erkrankten aus Kindern und Jugendlichen, die der Altersklasse von 0 bis 19 Jahren angehören. Das hängt offenbar damit zusammen, dass Schulen und Kitas unter unsicheren Bedingungen wieder geöffnet wurden.

In der vergangenen Woche stieg ihre Zahl der Neuinfektionen in Deutschland gegenüber der Vorwoche um fast vierzig Prozent an. Eine Analyse des britischen Guardian, die sich auf Daten der Oxford-Universität stützt, rechnet deshalb Deutschland zu den zehn Ländern, in denen eine zweite Welle befürchtet und erwartet werden müsse.

Vor allem Menschen, die in prekären Verhältnissen arbeiten und leben, sind davon betroffen. Davon zeugen die Corona-Ausbrüche der letzten Wochen in Hochhäusern in Göttingen, Magdeburg und mehreren Siedlungen in Berlin.

Politiker und Behörden reagieren darauf mit Wegsperren, Ausblenden und Verschweigen. In den täglichen Nachrichten wird kaum über solche Ausbrüche berichtet, dafür wird jede Lockerung von Schutzmaßnahmen und die Öffnung von Feriengebieten ausgiebig zelebriert.

Bezeichnend sind auch die jüngsten Aussagen von Armin Laschet (CDU), dem Ministerpräsidenten von NRW. Am 30. Juni räumte er auf der Landespressekonferenz ein, er habe auf das Prinzip der „Eigenverantwortung“ der Unternehmen gesetzt: Das heißt, er hatte es den Unternehmen überlassen, ob und wie sie ihre Mitarbeiter vor Covid-19 schützen.

Laschet wiederholte seine absurde Behauptung, dass die Aufhebung des Lockdowns und die Öffnung von Betrieben im Inland kein neues Infektionsgeschehen provoziere, sondern dass die Infektionen im Wesentlichen vom Ausland, meist durch heimkehrende Urlauber, eingeschleppt worden seien.

Im selben Gespräch betonte Laschet, die NRW-Regierung werde über die Wiederöffnung von Tönnies „nach ordnungsbehördlichem Verhalten entscheiden“. Die Zeit, in der man kooperiert habe, sei vorbei. „Hier wird jetzt streng nach Recht und Gesetz verfahren.“ Was im Umkehrschluss nahelegt, dass bisher nicht nach Recht und Gesetz verfahren wurde.

Der Tönnies-Skandal hat nicht allein die CDU bloßgestellt und die engen Bande zwischen der Landesregierung und dem Fleischbaron entlarvt, sondern auch die SPD. Der ehemalige SPD-Chef und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel stand von März bis Mai 2020 als Berater im Sold von Clemens Tönnies. Dafür soll er monatlich 10.000 Euro plus Tagessätze und Spesen kassiert haben.

In seiner Zeit als Wirtschaftsminister hatte Gabriel die berüchtigten Werksverträge – und besonders die Zustände bei Tönnies! – noch als „Schande für Deutschland“ bezeichnet. Inzwischen steht er im Verdacht, bereits damals seine schützende Hand über den Schlachthofgiganten gehalten zu haben.

Die Bild-Zeitung zitierte aus einem Brief von Robert Tönnies, dem Neffen von Firmenchef Clemens Tönnies und Miteigentümer der Firma. Er wirft Gabriel vor, das Fleischunternehmen als Minister vor einer Millionenstrafe des Bundeskartellamts bewahrt zu haben, das dem Wirtschaftsministerium untersteht. Robert Tönnies fragt in dem Schreiben, ob das Honorar für Gabriel als „nachträgliche Belohnung für Vorteile des Unternehmens in der Zeit der Regierungstätigkeit“ verstanden werden könne. Gabriel bestreitet den Vorwurf kategorisch.

In Ostwestfalen versuchen Tönnies und die Medien derweil, die Zustände, die zu den Massenerkrankungen geführt haben, in der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Das Video der Catering-Mitarbeiterin, heißt es, sei schon am 28. März und nicht erst im April, unter Bedingungen des allgemeinen Lockdowns, in Umlauf gewesen.

Ein armseliges Argument. Spätestens seit Ende Februar war bekannt, dass die hochansteckende Pandemie auch hierzulande wütet und sich rasend schnell verbreitet. Die Kurve der Infektionsfälle stieg auch in Deutschland exponentiell an. Die Horror-Bilder aus den überfüllten Krankenhäusern Norditaliens kursierten spätestens seit Mitte März, und am 22. März gab das Land NRW die Verordnung heraus, dass auch am Arbeitsplatz Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten sei.

Mehrere rumänische Arbeiter haben in einem Film von ntv.de bestätigt, dass sie bei Tönnies auch zu Corona-Zeiten nicht in der Lage waren, bei der Arbeit Abstand zu halten. Ein Arbeiter berichtete seiner Familie, dass er auch noch arbeiten musste, als er bereits krank war. Eine andere ehemalige Tönnies-Arbeiterin erzählte, wie eng es bis zuletzt im Werk zugegangen sei: „Auf nur zwei Metern standen wir zu viert am Band“, sagt sie.

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