Deckten AfD-nahe Staatsanwälte rechtsextremistische Anschläge in Berlin Neukölln?

NSU 2.0 in der Polizei, Neonazi-Netzwerke im Kommando Spezialkräfte (KSK) und der Bundeswehr, Verstrickung des Verfassungsschutzes in rechtsradikale Anschläge – keiner kann mehr die Augen davor verschließen, dass der rechte Terror in Deutschland aus dem Staatsapparat kommt und dort gedeiht.

Wie eng die Verbindungen und Komplizenschaft zwischen Neonazis, AfD, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sind, zeigen auch die jüngsten Ereignisse in Berlin.

Am vergangenen Mittwoch sah sich die Generalstaatsanwältin Berlins, Margarete Koppers, gezwungen, die Ermittlungen zur rechtsextremistischen Anschlagsserie im Bezirk Neukölln an sich zu ziehen. Wie es in einer Pressemitteilung heißt, seien Umstände aufgetreten, „die die Befangenheit eines Staatsanwalts als möglich erscheinen lassen“.

Demonstration gegen Nazi-Anschläge am 26. Juni 2020 in Neukölln

Seit 2013 erschütterten mindestens 72 rechtsextreme Taten, davon 23 Brandstiftungen, den Arbeiterbezirk im Süden Berlins. Opfer waren vor allem Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren oder einen Migrationshintergrund haben.

Neue Fakten legen nahe, dass Rechtsextreme im Justizapparat gezielt die Aufklärung verschleppt und verhindert haben. In den Ermittlungen treten immer mehr Details ans Tageslicht, die auf eine Vernetzung zwischen den staatlichen Behörden und der Neonazi-Szene hinweisen.

Laut Medienberichten betreffen die Vorwürfe nicht nur den unmittelbar ermittelnden Berliner Staatsanwalt S., sondern auch den Leiter der Staatsschutzabteilung der Staatsanwaltschaft, Matthias Fenner, der für politisch motivierte Straftaten zuständig ist. Beide wurden jetzt versetzt.

Fenner soll sich in einer Vernehmung des rechtsextremen Tatverdächtigen und ehemaligen AfD-Politikers Tilo P. selbst als AfD-Wähler und Gleichgesinnter zu erkennen gegeben haben. Er versicherte P. demnach, dass er vonseiten der Justiz nichts zu befürchten habe. Das geht aus dem Protokoll einer Chatüberwachung vom März 2017 hervor, in dem Tilo P. dem zweiten Hauptverdächtigen Sebastian T., einem vorbestraften Nazi-Schläger und NPD-Lokalpolitiker, über das Verhör berichtete. Laut Generalstaatsanwältin Koppers soll P. zu T. gesagt haben, man könne sich „gut aufgehoben fühlen bei der Staatsanwaltschaft wegen dieser Äußerung“.

Der Legal Tribune Online (LTO) zufolge ist die Passage bereits in einem Auswertebericht des Berliner Landeskriminalamts (LKA) vom September 2019 aufgefallen. Die Opferanwältin Franziska Nedelmann, die diesen Bericht einsehen konnte, forderte die originalen Überwachungsprotokolle. Nachdem ihr diese verweigert wurden, reichte sie am 10. Juli eine Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft ein und brachte damit den Stein ins Rollen.

2018 – Anschlag auf Ferat Kocak

Was in den letzten Jahren vom Berliner Senat und den Behörden immer wieder als „Pannen“ und „Fehler“ in den Ermittlungen zur Neuköllner Anschlagsserie bezeichnet wurde, hatte offenbar System. Der Fall Kocak ist hier besonders aufschlussreich. In der Nacht zum 1. Februar 2018 wurde der Neuköllner Linken-Politiker Ferat Kocak Opfer eines gefährlichen Brandanschlags auf sein Auto. Er und seine Familie, die im Wohnhaus nebenan schliefen, konnten sich nur um Haaresbreite vor dem Tod retten.

In derselben Nacht ging auch das Auto des Buchhändlers Heinz Ostermann in Flammen auf – bereits der dritte Anschlag auf den Inhaber der linken Neuköllner Buchhandlung „Leporello“. Von Brandanschlägen waren 2017 u. a. auch die Neuköllner SPD-Politikerin Mirjam Blumenthal und der IG-Metall-Aktivist Detlef Fendt betroffen.

Erst auf Druck der Anwälte und der Öffentlichkeit sickerte nach und nach durch, dass der Anschlag auf Kocak (und möglicherweise auch die anderen Attentate) unter den Augen und vielleicht sogar unter Mithilfe der Behörden vorbereitet wurde.

Januar 2018: Anschlagsplanung. Das LKA und der Verfassungsschutz waren aus einem abgehörten Gespräch der Hauptverdächtigen P. und T. am 15. Januar 2018 über die Planung eines möglichen Anschlags auf Kocak informiert, warnten diesen aber nicht. Den Behörden war bekannt, dass die Tatverdächtigen die Wohnung des Opfers ausspähten. Der Verfassungsschutz stellte dem LKA deshalb am 30. Januar 2018 – also zwei Tage vor dem Brandanschlag gegen Kocak – ein Behördenzeugnis aus, das weitere Ermittlungen ermöglichen sollte.

Der Vizechef des LKA, Oliver Stepien, gab diesen Vorfall erst im November 2019 im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses zu. Die Polizei behauptete, sie hätte Kocak nicht gewarnt, weil er nicht als gefährdet galt – und dass, obwohl Kocak für sein öffentliches Auftreten gegen rechts bekannt ist. Dann verwies man auf den „Quellenschutz“ – ein typisches Argument der Geheimdienste, um die schützende Hand über Rechtsradikale zu halten.

Februar 2018: Hausdurchsuchung, aber keine Verhaftung. Laut einem Bericht der taz ordnete die Polizei noch am Abend des 1. Februar, also nur einen Tag nach dem Anschlag, Haft- und Durchsuchungsbefehle gegen P. und T. an und bezog sich dabei ausführlich auf Erkenntnisse des Verfassungsschutzes. P. und T. sollten sowohl für den Anschlag auf Kocak, als auch auf den Buchhändler Ostermann verantwortlich sein. Das Amtsgericht Tiergarten erlaubte daraufhin die Durchsuchung, hielt jedoch die Haftbefehle für nicht ausreichend begründet. Bei den Hausdurchsuchungen vom 2. Februar 2018 wurde dann reichlich Beweismaterial beschlagnahmt, doch die Auswertungsergebnisse blieben geheim. P. und T. sind unterdessen auf freiem Fuß und können weiter Anschläge verüben.

März 2018: LKA-Mann trifft Neonazis. Am 16. März 2018 beobachteten Verfassungsschützer, wie ein Berliner LKA-Beamter namens W. sich erst mit dem Hauptverdächtigen Sebastian T. und drei weiteren Neonazis in einer Kneipe in Neukölln-Rudow traf und anschließend zusammen mit T. in seinem Auto wegfuhr. Das ergaben Recherchen des ARD-Magazins Kontraste und des rbb im April 2019.

Die Opferberatungsstelle „Reachout“ stellte daraufhin Anzeige, weil der Verdacht bestehe, dass der LKA-Mitarbeiter bei diesem und möglicherweise weiteren Treffen geheime Informationen an Rechtsextreme weitergegeben und damit Beihilfe zu Straftaten geleistet habe. Doch das Verfahren wurde eingestellt.

Schon vor 2013 – Feindeslisten mit 500 Personendaten

Im Mai 2019 beauftragte der Berliner Innensenator Andreas Geisel dann eine 30-köpfige Sonderkommission namens „Fokus“, um die Neuköllner Anschlagsserie noch einmal zu prüfen. Im Februar dieses Jahres gab diese Ermittlergruppe einige wenige Zwischenergebnisse preis.

Zum einen korrigierte sie die vermutete Zahl der Opfer von 30 auf 72. Zum anderen fand sie bei der Auswertung der Rechner, die 2018 bei den Hauptverdächtigen beschlagnahmt worden waren, über 500 personenbezogene Datensätze aus den Jahren vor 2013. Angeblich habe man diese Feindeslisten, sortiert in Ordnern nach Themen wie Antifa, Politiker, Journalisten und Polizisten, erst im Herbst 2019 auslesen können. Im Innenausschuss erklärte LKA-Chef André Rauhut dreist, aus den Listen gingen „keine konkreten Gefährdungen“ hervor; man habe bisher nur 30 Personen informiert.

Die Ermittlergruppe gab außerdem an, dass neben dem AfD-Mann Tilo P. und dem NPD-Mann Sebastian T. auch Julian B. als Hauptverdächtiger gilt. Der vorbestrafte Neonazi soll mit T. mögliche Anschlagsziele ausgespäht haben. Schon 2017 war seine Wohnung durchsucht worden, weil er als Betreiber der rechtsradikalen Facebook-Gruppe „Freie Kräfte Neukölln“ der Volksverhetzung gegen jüdische Einrichtungen verdächtigt wurde. Doch das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt; auch Julian B. ist auf freiem Fuß.

2016 – Polizist im Austausch mit AfD und Tilo P.

Nicht nur im Fall Kocak, sondern auch bei den Anschlägen auf die Leporello-Buchhandlung wird deutlich, dass Polizei, AfD und Neonazis in Neukölln auf Tuchfühlung sind.

Laut Recherchen von Kontraste und NDR ermittelt die Staatsanwaltschaft aktuell gegen den Berliner Polizeihauptkommissar Detlef M., weil er 2016 Polizei-Interna über den Anschlag auf dem Breitscheidplatz in einer Telegram-Chatgruppe der AfD weitergeleitet haben soll. Zu dieser Chatgruppe gehörten auch zahlreiche Neuköllner AfD-Mitglieder, darunter der mutmaßliche Rechtsterrorist Tilo P.

Der besagte Polizist stand bereits im Herbst 2016 mit Bezirksvorstandsmitgliedern der Neuköllner AfD und Tilo P. im Austausch. Das berichtete im Juni die taz, der ein entsprechender E-Mail-Verkehr vorliegt. Demnach wurde über den Vorschlag Tilo P.s diskutiert, eine antifaschistische Veranstaltung der Leporello-Buchhandlung am 2. Dezember 2016 zu besuchen. Einige AfD-Mitglieder sprachen sich dagegen aus. Zehn Tage nach der Veranstaltung wurden bei der Buchhandlung die Scheiben eingeworfen und ein Brandsatz in einem Neuköllner Café deponiert.

Die rechtsextremen Angriffe in Neukölln gingen auch in diesem Jahr ungemindert weiter. Ende Juni demonstrierten rund 1000 Menschen gegen rechte Gewalt. Zuvor waren SS-Runen auf die Fassade der syrischen Bäckerei „Damaskus“ auf der Sonnenallee geschmiert und ein Lieferwagen, der vor dem Laden parkte, in Brand gesetzt worden. Gegenüber dem RBB erklärte ein Bäckerei-Mitarbeiter, dass das bereits der siebte Anschlag auf die „Damaskus“ sei.

Die Rolle des rot-rot-grünen Senats

Die bislang bekannten Fakten sind mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs. Informationen, die das wirkliche Ausmaß des rechtsextremen Terrors und der Komplizenschaft der Behörden offenbaren könnten, bleiben weiter unter Verschluss. Der 50-seitige Zwischenbericht der Soko vom Februar wurde als geheim eingestuft, was Innensenator Geisel mit den Worten rechtfertigte: „Wir müssen die laufenden Ermittlungen schützen.“

Vor dem Hintergrund der jüngsten Enthüllungen ist klar: Der rot-rot-grüne Senat will gezielt verhindern, dass Beweise über die rechtsextreme Durchsetzung der Behörden an die Öffentlichkeit gelangen. Den Ernst der Lage beweist die Tatsache, dass jetzt die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernommen hat. Es ist offensichtlich, dass es dabei nicht um Aufklärung, sondern um Vertuschung der rechtsextremen Strukturen geht.

Koppers war von 2010 bis 2018, als sie zur Generalstaatsanwältin berufen wurde, Vizepräsidentin der Berliner Polizei ­– also in einem Zeitraum, in dem ausländerfeindliche und antisemitische Straftaten massiv zunahmen, Neonazis unter den Augen der Polizei ihr Unwesen treiben konnten und die Polizeiaufrüstung in Berlin vorangetrieben wurde.

Die beiden versetzten Staatsanwälte sind zudem kein Einzelfall. Der Einfluss der AfD in der Justiz offenbarte sich schon vor Jahren bei der Personalie Roman Reusch. Das Vorstandsmitglied der AfD Brandenburg wurde 2016 zum Leitenden Oberstaatsanwalt in Berlin ernannt. Seit dem 1. Februar 2018 ist er gewähltes Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags, das die Geheimdienste überwachen soll. Damit hat der rechtsextreme Jurist Zugang zu geheimen Informationen und Interna des Bundesnachrichtendiensts, des Verfassungsschutzes und des Militärischen Abschirmdienstes.

Wenn jetzt der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen, der Innensenator Geisel von der SPD und mehrere Vertreter der Linkspartei Empörung heucheln und nach einem Untersuchungsausschuss oder Sonderermittler im Neukölln-Komplex rufen, dann wollen sie damit in erster Linie von ihrer eigenen Verantwortung ablenken und eine wirkliche Aufklärung verhindern.

Die rot-rot-grüne Landesregierung fördert seit Jahren den Rechtsextremismus und betreibt in den zentralen Fragen AfD-Politik. Sie lässt inmitten der Pandemie Flüchtlinge abschieben und hat erst im Juli ein verschärftes Polizeigesetz beschlossen. Linkspartei-, Grünen- und SPD-Politiker schreien ständig nach einer Stärkung der Polizei. Die Berliner Polizei geht regelmäßig mit brutaler Gewalt gegen linke Demonstranten vor – etwa bei den Protesten nach dem Mord an George Floyd oder am vergangenen Freitag bei der Räumung der linken Neuköllner Kneipe „Syndikat“. Der Berliner Verfassungsschutz, der linke Organisationen kriminalisiert, hat im letzten Jahr auch die Klimabewegung „Ende Gelände“ unter Beobachtung gestellt.

Nirgendwo wird diese rechte Politik offener betrieben als an der Berliner Humboldt-Universität. Hier paktieren Senat und Universitätsleitung unter der SPD-Politikerin Sabine Kunst mit der AfD und den Rechtsextremen. Mit Jörg Baberowski wurde ein rechtsradikaler Ideologe aufgebaut, der die Naziverbrechen relativiert und linke Studierende verbal und tätlich attackiert. Auf Geheiß der AfD verklagte die Unipräsidentin 2018 den RefRat (gesetzl. AStA), damit er der rechtsextremen Partei Namenslisten von Studierendenvertretern der letzten zehn Jahren zur Verfügung stellt. Die Anweisung zur Klage kam direkt von Staatssekretär Steffen Krach (SPD).

Was die herrschende Klasse und ihre Ideologen treibt, ist die Furcht vor wachsenden Protesten gegen die soziale Ungleichheit, den Rechtsruck und den Militarismus. Deshalb rüstet sie den Staatsapparat auf und ermutigt rechtsradikale Kräfte, die im Zweifelsfall als Rammbock gegen die Arbeiterklasse dienen.

Der rechte Terror lässt sich deshalb nicht mit Appellen an die etablierten Parteien und dem Ruf nach einem Untersuchungsausschuss bannen. Das würde heißen, den Bock zum Gärtner zu machen. Notwendig ist, die gesellschaftlichen Ursachen des Rechtsrucks zu beseitigen: das bankrotte kapitalistische System, das Krieg und Faschismus gebiert.

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