Australien: Ehemaliger Premierminister warnt vor einem neuen August 1914 in Asien

Vergangene Woche veröffentlichte das angesehene US-amerikanische Politikjournal Foreign Affairs den Essay „Hütet euch vor dem August 1914: Wie verhindert werden kann, dass die amerikanisch-chinesischen Spannungen einen Krieg in Asien auslösen“. Autor ist der ehemalige australische Premierminister Kevin Rudd, der mit dem Titel des Aufsatzes Bezug auf das Buch „August 1914“ von Barbara Tuchman (Originaltitel: „The Guns of August“) über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nimmt. Rudd warnt, die Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen den USA und China sei höher als in den 1950er Jahren und erinnert an die geopolitischen Spannungen jenes Sommers von 1914, die die Welt in einen katastrophalen Krieg stürzten.

Rudd warnt keineswegs vor einer Gefahr in der fernen Zukunft. Er geht vielmehr auf den massiven politischen Druck ein, unter dem die Führungen in Washington und Peking stehen. Mit Blick auf aktuelle Krisenherde schreibt er: „In den entscheidenden Monaten bis zur US-Präsidentschaftswahl im November ist das Risiko besonders hoch.“

Der ehemalige Premierminister und Präsident des Asia Society Policy Institute in New York ist gut vernetzt in den politischen Kreisen der USA. Rudd erklärt, dass er mit seinen Befürchtungen über die wachsenden Spannungen zwischen den beiden Atommächten nicht allein sei.

Kevin Rudd (links) als Moderator einer Diskussion auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, 20. Januar 2016. (Quelle: WORLD ECONOMIC FORUM/swiss-image.ch/Photo Jolanda Flubacher)

Weiter heißt es: „In den Hauptstädten auf der ganzen Welt stellt man sich jetzt leise, aber ängstlich die Frage: Wo wird das enden? Die einst unvorstellbare Tatsache – ein bewaffneter Konflikt zwischen den USA und China – scheint erstmals seit dem Ende des Koreakriegs möglich. Mit anderen Worten: Uns könnte nicht nur ein neuer Kalter Krieg bevorstehen, sondern auch ein heißer.“

Als uneingeschränkter Unterstützer des australisch-amerikanischen Militärbündnisses verheimlicht Rudd, dass der US-Imperialismus in den letzten zehn Jahren die Spannungen mit China vorsätzlich verschärft hat. Und das, obwohl Rudd selbst Opfer der sich abkühlenden Beziehungen war. Er wurde 2010 durch einen innerparteilichen Putsch gestürzt, der auf „geschützte Quellen“ aus der amerikanischen Botschaft in Canberra zurückzuführen ist. Rudd wurde abgesetzt, weil er sich nicht vollständig hinter die aggressive Politik des „Pivot to Asia“ stellte, mit der die Obama-Regierung ihren geopolitischen Fokus auf den asiatisch-pazifischen Raum verlagert hat, um China wirtschaftlich und strategisch zu schwächen.

Rudd argumentiert in seinem Essay, der chinesische Präsident Xi habe versucht, den historischen Niedergang der USA durch eine „selbstbewusstere außenpolitische Strategie in der Region und der Welt“ auszunutzen. Darauf habe Washington mit „gesteigerter Aggression“ reagiert. In Wirklichkeit diente Obamas provokante Verlagerung der geopolitischen Perspektive nach Asien einer massiven militärischen Aufrüstung des Indopazifiks und der wirtschaftlichen Isolierung Chinas. Peking ergriff entsprechende Gegenmaßnahmen. Der „Pivot to Asia“ beruhte auf der Erkenntnis Washingtons, dass angesichts des historischen Niedergangs der globalen Vormachtstellung der USA die größte Gefahr von China ausgeht.

Was die Obama-Regierung begann, hat Trump mit seinem Handels- und Wirtschaftskrieg, den provokanten Marineoperationen im Südchinesischen Meer, den verstärkten Waffenverkäufen an Taiwan und der Aufrüstung in Asien verschärft. Angesichts der dramatischen politischen Krise in den USA, ausgelöst durch Trumps kriminelle Reaktion auf die Corona-Pandemie, ist der US-Präsident in den letzten sechs Monaten auf Konfrontationskurs gegen China gegangen. Trump gibt China die Schuld an dem „China-Virus“ und wirft der Regierung Spionage und Diebstahl geistigen Eigentums sowie „Menschenrechtsverletzungen“ in Hongkong und Xinjiang vor.

Rudd erwähnt, dass die USA „deutlich gemacht haben, dass 35 Jahre strategischer Einbindung vorbei sind“. Mit anderen Worten: An die Stelle der Annäherung zwischen den beiden Ländern, die mit dem Besuch von US-Präsident Richard Nixon in Peking 1972 begann, tritt eine „Ära der strategischen Konkurrenz“. Er gibt außerdem zu, dass Trumps „chaotische“ Präsidentschaft der amerikanisch-chinesischen Beziehung die „politische, wirtschaftliche und diplomatische Dämmung“ genommen habe, „die während des letzten Jahrhunderts sorgfältig aufgebaut wurde“. Er habe das Verhältnis „auf ihre roheste Form reduziert: einen uneingeschränkten Kampf um die bilaterale, regionale und globale Vorherrschaft“.

Der ehemalige Premierminister weist darauf hin, dass sowohl die Demokraten als auch die Republikaner die aggressive Kampagne gegen China unterstützen: „Gleichzeitig will Trumps Gegner, der ehemalige Vizepräsident Joe Biden, beim Thema China nicht hinter dem Präsidenten zurückstehen. Dies sorgt für eine explosive politische Atmosphäre.“

Rudd, der fließend Mandarin spricht und sich als aufmerksamen Beobachter der chinesischen Politik betrachtet, nennt auch die Herausforderungen, vor denen Chinas Präsident Xi steht.

„In China ist Xis Führung durch die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die anhaltenden Auswirkungen des Handelskriegs und die Corona-Krise unter einen großen, bisher nicht dagewesenen Druck geraten“, so Rudd. Durch seine „brutale Kampagne gegen Korruption, den massiven Umbau des Militärs und große personelle Änderungen... in den Geheimdienst-, Sicherheits- und Militärhierarchien der Partei“ hat er sich Feinde auf ganz hoher Ebene gemacht.

Rudd schlussfolgert, dass Xi durch eine im Juli begonnene „Kampagne für die Korrektur der Partei“ mit seinen innerparteilichen Feinden und Rivalen aufräumen will. Allerdings beschäftigt er sich nicht mit den akuten sozialen Spannungen in China aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen und der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich, die mit der Pandemie weiter zugenommen hat.

Während die Trump-Regierung versucht, innenpolitische Spannungen nach außen zu leiten und China zum Sündenbock für die Krise in den USA zu machen, greift das Regime der Kommunistischen Partei Chinas ebenfalls auf eine nationalistische Demagogie zurück, um von den inneren Spannungen abzulenken. Peking ­– von Washington in die Enge getrieben – wird gezwungen sein zu reagieren.

Rudd schreibt dazu: „Das alles ergibt eine politisch und strategisch gefährliche Mischung: ein geschwächter Trump, ein kompromissloser Biden und Xi, der bereit ist, die Nationalismus-Karte auszuspielen.“ Dies sind jedoch noch lange nicht die einzigen potenziellen Auslöser für einen bewaffneten Konflikt. Er identifiziert drei besonders gefährliche Krisenherde: Hongkong, Taiwan und das Südchinesische Meer.

Beim Thema Hongkong kommt Rudd zu dem Schluss, dass die derzeitige Konfrontation zwischen den USA und China wegen dessen neuem nationalen Sicherheitsgesetz „wahrscheinlich keine umfassende Krise auslösen wird“. Seine Argumentation ist allerdings schwach und beruht auf der Tatsache, dass nicht die USA, sondern Großbritannien „die äußere Vertragsmacht“ ist, die Hongkong 1997 an China zurückgegeben hat, und „es keine internationale juristische Basis für eine US-Intervention in irgendeiner Form gibt“. Trump hat seine völlige Verachtung des Völkerrechts und internationaler Organisationen allerdings immer wieder deutlich gemacht.

In der Frage Taiwans, einem „Kernanliegen“ Chinas, hat Trump die „Ein-China-Politik“, d.h. die Anerkennung Pekings als legitime Regierung von ganz China einschließlich Taiwans, zunehmend in Frage gestellt. Rudd deutet an, dass eine Krise wegen Taiwan, ausgelöst durch einen Vorstoß des chinesischen Militärs, „vermutlich Ende der 2020er kommen wird. Nämlich dann, wenn Peking glaubt, das militärische Gleichgewicht habe sich noch mehr zu seinen Gunsten verschoben“.

Rudd schließt jedoch nicht aus, was in der näheren Zukunft wahrscheinlicher ist: eine Provokation der USA. Er schreibt: „In der derzeitigen politischen Atmosphäre könnte sich die Trump-Regierung zu einer Eskalation des Konflikts entschließen, beispielsweise könnte die amerikanische Marine in einen taiwanesischen Hafen einlaufen. Für die chinesische Führung ist es politisch unmöglich, einen derart provokanten Schritt zu ignorieren.“

Die Eskalation der militärischen Spannungen im Südchinesischen Meer betrachtet Rudd als den gefährlichsten potenziellen Krisenherd. Die Trump-Regierung hat ihre aggressive Stationierung von Marinekräften in dem Gebiet bewusst erhöht und US-Kriegsschiffe vorsätzlich in Gewässer vordringen lassen, die China für sich beansprucht. Letzen Monat inszenierte die US Navy ein Marinemanöver mit zwei Flugzeugträgerkampfgruppen als gezielt provokante Machtdemonstration im Südchinesischen Meer und in der Nähe von Marinestützpunkten in Südchina. Beide Gebiete gelten für China als strategisch sehr bedeutend.

Rudd schreibt: „Das Südchinesische Meer hat sich so zu einem spannungsgeladenen, instabilen und potenziell explosiven Gebiet entwickelt, während die bilaterale politische Beziehung durch die aufgestauten Probleme so schlecht ist wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Das schiere Ausmaß der Marine- und Luftstreitkräfte, die beide Seiten dort stationiert haben, macht einen unbeabsichtigten (oder sogar beabsichtigten) Zusammenstoß immer wahrscheinlicher.“

Bei der Überlegung, was passieren würde, falls eine Seite ein gegnerisches Flugzeug abschießen oder ein Kriegsschiff versenken würde, kommt Rudd zu dem Schluss, dass die Gefahr einer Eskalation hin zu einem offenen Krieg besteht.

Er erklärt: „Die derzeitigen innenpolitischen Umstände in Peking und Washington könnten beide Seiten leicht zu einer Eskalation verleiten. Politische Berater könnten argumentieren, dass eine lokale militärische Eskalation in klar definierten Parametern ‚eingedämmt‘ werden kann. Angesichts der aufgeladenen Stimmung in beiden Ländern und den hohen politischen Einsätzen, um die es für die Führer dieser Länder geht, gibt es wenig Grund, sich zu viel Hoffnung auf eine mögliche Zurückhaltung zu machen.“

Rudd schildert in seinem Essay detailliert die Gefahr eines Kriegs zwischen zwei Atommächten, in den unweigerlich der Rest der Welt hineingezogen würde und der nicht in den nächsten Jahren, sondern bereits in den nächsten drei Monaten ausbrechen könnte. Bemerkenswert banal sind seine Vorschläge, um den Konflikt zu vermeiden. Er ruft die Regierungen der USA und Chinas auf, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, als ein „relativ geringfügiger Vorfall“ – die Ermordung des österreichischen Erzherzogs im Juni 1914 – die Welt nur wenige Wochen später in einen Krieg gestürzt hat. Zum Schluss seines Essays richtet er einen erbärmlichen Appell an die Staatsoberhäupter beider Seiten, in den nächsten Monaten nicht in einen Konflikt zu stolpern.

Dass die herrschenden Eliten keine schlüssige Antwort auf den Kriegskurs haben, ist eine scharfe Warnung an die Arbeiterklasse und Jugend, die unweigerlich die Last des Kriegs tragen werden. Rudd deutet an, dass sich ein Krieg nur verhindern lässt, wenn sich die Regierungen daran erinnern, dass „nationalistischer Hurrapatriotismus langsam verstummt, wenn die Waffen sprechen“. Oder deutlicher ausgedrückt: Der Erste Weltkrieg hat den revolutionären Widerstand der Arbeiterklasse hervorgerufen, die die nationalistisch-chauvinistischen Rechtfertigungen für den Krieg zurückgewiesen hat. Seinen höchsten Ausdruck fand dies in der Russischen Revolution von 1917.

Heute steht die internationale Arbeiterklasse in den USA, China und der ganzen Welt vor derselben Herausforderung. Sie muss eine vereinte Antikriegsbewegung auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive aufbauen, um die Ursache der Kriege zu beseitigen: den Weltkapitalismus und sein veraltetes und bankrottes Nationalstaatensystem.

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