Schulöffnungen als Brandbeschleuniger der Pandemie

Die Zahl der Covid-19-Infizierten steigt in Deutschland rapide an. Nur fünf der fast 300 Landkreise melden zurzeit keine Neuinfektionen. Seit der uneingeschränkten Öffnung aller Schulen und der gesamten Wirtschaft sind vor allem die Infektionen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen stark angestiegen.

Am Samstag gab es mit fast 2300 neuen Infektionen den höchsten Wert seit April, und am gestrigen Dienstag wurden erneut 1821 Neuinfektionen registriert. Laut RKI sind seit März mindestens 9396 Menschen an Sars-CoV-2 gestorben.

Stark betroffen sind die bayrischen Städte München und Würzburg, die den kritischen Sieben-Tages-Wert von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner überschritten haben. Das gleiche gilt für die NRW-Städte Remscheid und Hamm. Andere Großstädte wie Gelsenkirchen und Köln oder der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nähern sich diesem Wert bedrohlich. Berlin ist insgesamt stark betroffen und belegt als Bundesland mit einer 7-Tages-Inzidenz von 22,8 den Spitzenplatz vor Bayern (20,2) und NRW (15,8).

In Bad Königshofen (Unterfranken) sind am gestrigen Dienstag alle Schulen und Kitas geschlossen worden. Dort waren die Infektionszahlen nach einer Hochzeitsfeier rapide angestiegen: Auf der Feier selbst hatten sich 17 von 78 Gästen infiziert, die ihrerseits 400 Kontaktpersonen angesteckt haben könnten. Am Dienstagvormittag lagen bereits zwölf weitere positive Testergebnisse (von 270 Tests) der Kontaktpersonen vor.

Seit der uneingeschränkten Öffnung der Betriebe und vor allem der Schulen und Kitas steigen besonders die Infektionen unter jungen Menschen, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 14 und 35 Jahren. In Bayern fällt jeder zweite neu Infizierte in diese Altersgruppe.

Dass Corona auch für diese Gruppe höchst gefährlich ist, das hat vor Kurzem eine Studie aus Boston nachgewiesen. Die Studie, über welche die Süddeutsche Zeitung berichtete, analysierte die Krankheitsverläufe von 3222 jungen Erwachsenen, die mit Covid-19 in ein Klinikum in den USA eingewiesen wurden. Erstellt wurde sie von Ärzten und Wissenschaftlern an dem großen Lehrkrankenhaus, das zur Harvard University gehört.

Wie die Studie zeigte, mussten 21 Prozent der 3222 stationären Patienten auf eine Intensivstation verlegt werden, bei zehn Prozent war eine Beatmung notwendig, 2,7 Prozent starben. Ein Teil der Betroffenen hatte bestimmte Vorerkrankungen wie Fettleibigkeit oder Bluthochdruck. Das traf aber längst nicht auf alle zu.

Weltweit nähert sich die Zahl der Corona-Todesopfer einer Million, und viele weitere Millionen Menschen werden durch Covid-19 langfristig, vielleicht ihr Leben lang, mit Gesundheitsproblemen zu kämpfen haben. In den USA sind mittlerweile 200.000 Menschen gestorben, und auch in Europa steigen die Zahlen alarmierend wieder an. Einen Rekordanstieg gibt es in Spanien und Frankreich, aber auch in Tschechien und ganz Osteuropa.

Nach den Zahlen der WHO, die auch Russland als eines von 53 europäischen Ländern führt, wurden bisher in Europa fünf Millionen Sars-CoV-2-Fälle registriert. 228.000 Corona-Patienten sind gestorben. Täglich werden der WHO zufolge 40–50.000 neue Ansteckungen in Europa festgestellt, das ist durchaus mit den USA vergleichbar, wo sich am letzten Donnerstag 45.000 Menschen neu ansteckten.

Dennoch bestehen alle Regierungen weltweit gnadenlos darauf, im Interesse der Wirtschaft alle Schulen wieder offen zu halten. Dies treibt auch in Deutschland die Pandemie stark an. So steigt gerade wieder die Gefahr einer exponentiellen Ausbreitung, wie an der Reproduktionszahl zu sehen ist. Seit Anfang September liegt der R-Wert konstant wieder über 1 mit steigender Tendenz.

Dies war zuletzt im Juni über mehrere Wochen der Fall, als sich Ausbrüche unter den Werksvertragsarbeitern in den Schlachthöfen und in der Landwirtschaft häuften. Bei Tönnies hatten sich damals mehr als 2000 Schlachterei-Arbeiter mit Covid-19 infiziert. 40 von ihnen mussten mit schweren Verläufen ins Krankenhaus eingewiesen werden, und einige sind bis heute nicht wieder gesund.

An den Schulen dagegen, so wurde damals lauthals verkündet, könnten solche Ausbruchsgeschehen oder „Superspreading-Events“ wie bei Tönnies niemals vorkommen. Die Kinder seien angeblich „Bremsklötze der Pandemie“, wie der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) im Juli behauptete.

Daran wagt heute keiner mehr zu erinnern. Tatsächlich erweisen sich die uneingeschränkten Schulöffnungen gerade als treibender Faktor der Pandemie. Aufgrund von Ausbrüchen an Schulen sind zurzeit allein in den drei Bundesländern Bayern, NRW und Hessen über 20.000 Schüler und mehrere tausend Lehrer in Quarantäne.

In Nordrhein-Westfalen befinden sich 7000 Schüler und 580 Lehrer in Quarantäne, wie das nordrhein-westfälische Schulministerium mitteilte. Davon sind 238 Schüler und 46 Lehrer positiv getestet worden. In Bayern sind es sogar 8800 Schüler und 771 Lehrer, die zu Hause bleiben müssen. 383 Kinder und Jugendliche sowie 48 Lehrer wurden bis Sonntag als infiziert gemeldet. Und in Hessen meldete das Kultusministerium in Wiesbaden Ende letzter Woche, dass über 4.700 Schüler und 480 Lehrer in Quarantäne seien.

Wegen eines Covid-19-Ausbruchs ist auch ein Gymnasium im Saarland zurzeit geschlossen. Das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Lebach, Landkreis Saarlouis, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die Ansteckungen innerhalb der Schulen stark ausbreiten. Wie das Lehrerportal news4teachers mitteilt, wurden dort Anfang September zwei Lehrer und ein Schüler positiv getestet. Daraufhin wurden bisher mindestens 18 Corona-Infektionen an der Schule festgestellt. Nun müssen 900 Schüler, Lehrer und Beschäftigte und ihre Familien noch bis zum 25. September in Quarantäne bleiben.

Hundertwasserschule Rostock, nach Covid-19-Ausbruch geschlossen

Auch in Gießen und Rostock und davor schon in Hamburg-Winterhude haben sich größere Covid-19-Ausbrüche innerhalb einer Schule ereignet. Im hessischen Gießen ist die Liebigschule mit 14 Infektionen betroffen; der Ausbruch hat auch auf eine benachbarte Kita übergegriffen. Davor hatten sich in Hamburg schon 33 Schüler und drei Schulbeschäftigte mit Covid-19 infiziert, ohne dass allerdings die Schule geschlossen wurde.

In Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) wurde die Hundertwasser-Gesamtschule am 17. September komplett geschlossen, und 800 Schüler und 80 Lehrer wurden in Quarantäne geschickt. Nach dem positiven Test einer kranken Lehrerin war das Virus zunächst bei neun Schülern und drei weiteren Lehrern festgestellt worden. Weitere Reihentests dauern noch an.

Rostocks Schulsenator, der Linken-Politiker Steffen Bockhahn, drohte allen mit Bußgeldern, die sein Ordnungsdienst während der Quarantäne nicht zuhause antrifft. Den Eltern empfahl er, sie sollten ihre Kinder „in ihrem Zimmer alleine lassen, Essen hereinreichen und ansonsten den Kontakt auf das Nötigste beschränken ... In aller Deutlichkeit: Die Wohnung wird nicht verlassen durch die betroffenen Kinder.“

Der Senator von der Linkspartei ist ein sprechendes Beispiel für den barschen Ton, mit dem die Schulpolitiker aller Parteien jetzt die betroffenen Kinder und ihre Eltern herumkommandieren. Noch vor wenigen Wochen hatten dieselben Politiker im Brustton der Überzeugung verkündet, dass es ungefährlich sei, die Schulen zu öffnen, dass sie keine Hotspots sein könnten, und dass Kinder höchst selten an Corona erkrankten.

Auch jetzt noch, wo die Ausbrüche an den Schulen dies klar widerlegen, wird weiter beschwichtigt. Gestützt darauf, dass die Zahl der Todesfälle bisher (noch) nicht wieder sprunghaft angestiegen sei, winken sie ab: Kein Grund zur Beunruhigung. Vor allem darf es keinen neuen Lockdown geben.

Das war auch die Aussage der jüngsten Schulkonferenz, zu der Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und SPD-Chefin Saskia Esken die Kultusminister der Bundesländer einluden. „Wir alle im Land können doch nicht wollen, dass die Kinder wieder über Wochen daheimbleiben müssen“, versuchte die oberste Schulchefin Karliczek diese Politik schönzureden.

Die Konferenz versprach den Schulleitern und Lehrern eine Milliarde Euro für die digitale Aufrüstung der Schulen. Allerdings hat die Große Koalition dies schon seit Wochen versprochen. Im August wurde bereits ein 500-Millionen-Euro-Programm zur Anschaffung von Leihgeräten für bedürftige Schüler angekündigt. Nun sollen weitere 500 Millionen Euro hinzukommen, um Lehrer mit Dienstlaptops auszustatten und die Schulen mit IT-Administratoren auszurüsten.

Dies ist höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein. Mit solchen Versprechen versuchen die Politiker vor allem, von ihrer eigenen Verantwortung für die Katastrophe abzulenken, die sich an den Schulen gerade anbahnt. Während sie die Bundeswehr mit Milliardenbeträgen aus dem Corona-Topf digital aufgerüstet haben, ließen sie die Sommerferien ungenutzt verstreichen. Schüler und Lehrer mussten bei Schulbeginn unvorbereitet in dieselben maroden, schon vor der Pandemie vernachlässigten Schulen zurückkehren.

Obwohl es sehr gut möglich gewesen wäre, wurden die Schulen nicht für einen sicheren Betrieb ausgerüstet. Die nötige Anschaffung von Lufttauschgeräten, CO2-Messern und Filteranlagen in den Klassenzimmern wurde als „zu teuer“ (NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer) bezeichnet. Themen wie die Einrichtung kleiner, feststehender Lerngruppen, Ausweitung der Schulräume, Abstandsregeln und Masken im Unterricht fielen wie das flächendeckende Testen unter den Tisch.

„Wir werden Probleme kriegen mit der unbeschränkten Schulöffnung, wie sie inzwischen stattgefunden hat“ – so die Einschätzung des Charité-Virologen Christian Drosten, der sich endlich auch klar gegen die ungeschützten Schulöffnungen geäußert hat.

Im Interview mit dem Tagesspiegel sprach Drosten die vielfältigen bestehenden Möglichkeiten an, wie etwa das Anmieten von Hallen oder Festzelten, um für mehr Abstand zu sorgen, oder die Fragen, „ob der Arbeitsschutz ständige Zugluft zulässt, und was Ventilatoren kosten würden“. Viel Zeit sei verschwendet worden, konstatierte er bitter. „Mai, Juni, Juli, August – vier Monate hätte man Zeit gehabt.“

Seine Kollegin Isabella Eckerle, Virologin und Leiterin des Zentrums für Viruserkrankungen an der Universität Genf, ging noch weiter, als sie dem Tagesspiegel am 21. September sagte, es sei „nur eine Frage der Zeit, bis in den Krankenhäusern die Zahlen ansteigen“. Corona sei nach wie vor gefährlich, warnte Eckerle: „Das Virus hat sich nicht verändert. Die allermeisten von uns hatten es noch nicht und sind nicht immun.“

Im Gegensatz zu allen etablierten Parteien und Medien ruft die Sozialistische Gleichheitspartei schon seit Ende der Sommerferien Lehrer, Schüler und Arbeiter in allen Bereichen dazu auf, unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um einen Generalstreik gegen die Schulöffnungen und die Politik der herrschenden Klasse vorzubereiten. Wie es in ihrem Aufruf heißt, müssen „die hunderte Milliarden Euro, die an die Banken und Konzerne gingen und in Rüstung und Krieg fließen, für Bildung, Gesundheitsversorgung und Lohnfortzahlung eingesetzt werden“. Lehrer, Eltern und Schüler haben bereits damit begonnen, diese Aufforderung in die Tat umzusetzen.

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