Öffentlicher Dienst: Arbeitgeber legen provokatives Angebot vor

Zwei Tage vor der dritten und wahrscheinlich letzten Runde in den Tarifverhandlungen für rund 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Bund und Gemeinden hat die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) am Dienstag erneut zu Warnstreiks aufgerufen.

Die Vereinzelung der Warnstreiks, die Verdi seit Wochen organisiert, hat die öffentlichen Arbeitgeber ermutigt, ein provokatives Angebot abzugeben. Gestern noch als Corona-Helden gefeiert, erhalten die Pfleger, Erzieher, Müllwerker, Busfahrer usw. von den politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen nun einen Tritt. Sie sollen sich mit 3,5 Prozent Lohnerhöhung verteilt auf die nächsten drei Jahre zufriedengeben.

Allein in Nordrhein-Westfalen beteiligten sich gestern nach Gewerkschaftsangaben 30.000 Beschäftigte von Bund und Kommunen an Warnstreiks in Kliniken, Kitas, bei der Müllabfuhr, Stadtwerken, Sparkassen, Jobcentern und Rentenversicherungen. In Rheinland-Pfalz und im Saarland zählte Verdi 10.000 Streikende, in Baden-Württemberg rund 5000, in Hamburg und Berlin jeweils rund 4000.

Die Betroffenen machen ihrem Unmut in den sozialen Netzwerken Luft. Insbesondere unter Pflegerinnen brodelt die Stimmung. „Nicht weil wir streiken sind die Menschen unterversorgt,“ schreibt Nicole, „sondern wir streiken, weil die Menschen tagtäglich unterversorgt sind.“

„Es ist an der Zeit zu streiken, auch zum Wohle der Patienten und Bewohner“, meint Tanja. „Erst gestern hatte wieder eine Kollegin bei der Arbeit geweint, weil sie vor lauter Stress nicht mehr weiterwusste, dann hat sie noch ein falsches Antibiotikum angehängt und musste wieder weinen.“

Heike schreibt: „Wir wurden an die Wand gefahren ... seit über 30 Jahren schon.“ „Von dem Geklatsche im Frühjahr kann ich mir nichts kaufen!“, berichtet Tanja. „Und dann kommt die Schule und will, dass meine Kinder einen Laptop haben. Leider sind wir nicht so bedürftig, dass wir ein Gerät von der Schule gestellt bekommen!“

Fiona meint, „dass wir noch viel zu wenig streiken! Diese mickrigen Warnstreiks da gerade bewirken doch nichts!“ Saskia ergänzt: „Es sollten endlich mal viel mehr Leute streiken und nicht nur jammern.“

Esra weist darauf hin, dass „jeden Tag Patienten unter Zeitdruck, Unterbesetzung, fehlender Versorgung leiden, zu lange warten und auch mal falsch versorgt werden, und alles aufgrund von fehlenden Kräften“. Sie meint daher, dass die Streiks ausgeweitet werden müssten.

Streikposten im Berliner Nahverkehr

Doch das möchte Verdi unter allen Umständen vermeiden. So wurde gestern in NRW außerdem im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gestreikt. Verdi fordert einen bundesweiten Rahmentarifvertrag für die rund 87.000 Beschäftigten im kommunalen Nahverkehr. In allen größeren Städten fuhren weder Busse, Straßenbahnen noch U-Bahnen.

Auch hier geht es angesichts der Corona-Gefahren für die Beschäftigten um mehr als um vereinheitlichte Arbeits- und Pausenzeiten. Die Fahrer werden tagtäglich der Infektionsgefahr ausgesetzt, kein kommunaler Verkehrsverbund sorgt für sichere und angemessene Arbeitsbedingungen, im Gegenteil.

Doch Verdi hat schon klar gemacht, dass sie unter allen Umständen vermeiden will, dass sich aus den beiden Tarifrunden ein gemeinsamer Kampf entwickelt. Der gestrige Warnstreik im ÖPNV bleibt bis Ende Oktober erst einmal der letzte.

Verdi biete der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) an, sich beim ÖPNV „über einen Prozess zur bundesweiten Vereinheitlichung elementarer Arbeitsbedingungen wie Urlaub, Überstunden und Zuschlagsregelungen zu verständigen“. Es sei denkbar, „diesem Verständigungsprozess nötigenfalls einen längeren zeitlichen Horizont einzuräumen“.

Es ist klar, dass die Gewerkschaft die Verhandlungen im öffentlichen Dienst noch in dieser Woche beenden will und warten möchte, bis sich der Rauch verzogen hat, bevor sie den nächsten Ausverkauf organisiert. Denn auch wenn Verdi-Chef Frank Werneke über das VKA-Angebot für den öffentlichen Dienst schimpft und beteuert, man läge noch weit auseinander, sieht alles danach aus, dass sich beide Seiten spätestens am Freitag einigen – zumindest ist das das beiderseitige Ziel.

VKA-Verhandlungsführer Ulrich Mädge (SPD) sagte der Stuttgarter Zeitung: „Wir wollen diese Woche durchkommen – möglichst in zwei Tagen.“ Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der die Verhandlungen für den Bund leitet, sei zuversichtlich, „dass es gelingen kann, am Verhandlungstisch einen Abschluss zu finden“.

Die Arbeitgeber sind so zuversichtlich, weil sie genau wissen, dass Verdi auf ihrer Seite steht. Der Verdi-Vorsitzende Werneke ist selbst langjähriges SPD-Mitglied und genauso wie alle Verdi-Funktionäre der Meinung, dass kein Geld verteilt werden könne, nachdem Milliarden in die Rettung der Banken und Konzerne geflossen sind.

Oder wie es Wernekes Parteifreund Mädge ausdrückt: „Das Angebot ist mehr als nur fair, gerade vor dem Hintergrund der über Jahre eingebrochenen Finanzen der Kommunen.“ Mädge erwartet, „dass wir auf der Basis dieses Angebots in der nächsten Verhandlungsrunde eine schnelle Einigung erzielen werden“.

Das ist das von Mädge so gelobte Angebot: Die Beschäftigten sollen bis zum März nächsten Jahres keine Lohnerhöhung erhalten, dann jeweils ab 1. März 2021 und 2022 eine Erhöhung von je 1 Prozent und zum März 2023 weitere 1,5 Prozent. Nachdem die zu Beginn der Pandemie versprochene 1500 Euro Corona-Sonderzahlung für Beschäftigte in der Kranken- und Altenpflege bei den meisten nicht angekommen ist, soll es jetzt für alle Beschäftigten eine Sonderzahlung in Höhe von 300 Euro „zur Abmilderung der Belastung durch die Corona-Krise“ geben. Die Wochenarbeitszeit in Ostdeutschland soll in zwei Schritten erst 2024 auf die im Westen vertraglichen 39 Stunden gesenkt werden.

Nachdem Verdi sie durch einen „Sondertisch Pflege“ von den anderen Beschäftigten abgespalten hat, bieten die Arbeitgeber den Beschäftigten im Bereich der Krankenhäuser sowie der Pflege- und Betreuungseinrichtungen eine monatliche „Pflegezulage“ von 50 Euro sowie eine Erhöhung der Zulage bei regelmäßigen Wechselschichten und der Intensivzulage an.

„Für Beschäftigte in der Intensivpflege, die alle drei Zulagen erhalten, ergibt sich allein daraus eine Entgelterhöhung um monatlich 150 Euro“, rechnet der VKA vor. „Zusammen mit der Erhöhung der Entgelte führt das zu einem Gehaltsplus von bis zu 8,5 Prozent.“ Diese Rechnung belegt vor allem, wie niedrig die Löhne sind, die selbst in der Intensivpflege gezahlt werden.

Sozialdemokrat Mädge meint, damit „zeigen wir mehr als deutlich, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Bereich der Daseinsvorsorge wertvolle und unverzichtbare Arbeit für die Gesellschaft leisten“. Das dürften die Betroffenen anders sehen.

Sie befinden sich nicht nur im Konflikt mit Bund und Gemeinden, sondern auch mit der Gewerkschaft. Zu Beginn sträubte sich Verdi, überhaupt in eine Tarifauseinandersetzung zu gehen, und schlug vor, die Tarifverhandlungen gegen eine Einmalzahlung zu verschieben.

Das lehnten die kommunalen Arbeitgeber aber ab. Sie wollen die Corona-Pandemie offensichtlich ausnutzen, um den Beschäftigten eine empfindliche Reallohnsenkung zu verordnen. Die rücksichtslose Corona-Politik der Regierenden in Bund, Ländern und Kommunen, die faktisch das Ziel der Herden-Immunität verfolgt und dafür Millionen Leben in Gefahr bringt, sorgt für eine extrem angespannte Lage. Die Schulen und Kitas werden aufgelassen, damit die Betriebe wieder Profit machen.

Offensichtlich erhofften sich die regierenden Parteien, dass sich unter diesen Bedingungen die Bevölkerung nicht mit den Beschäftigten im öffentlichen Dienst solidarisiert. Die Medien sind voll Hetzartikel, die den Beschäftigten „Verantwortungslosigkeit“ vorwerfen. Doch trotz der angespannten Lage fanden die Warnstreiks Rückhalt im Großteil der Bevölkerung.

Verdi ließ von Anfang an auf Sparflamme streiken und versucht nun, die Mobilisierung abzuwürgen und einen Ausverkauf zu vereinbaren. Sie bezog immer nur tageweise einzelne Städte und Bereiche in die Warnstreiks ein. Die Beschäftigten in ehemaligen kommunalen und inzwischen privatisierten Unternehmen wurden von vornherein außen vorgelassen. Diese Taktik der „kleinen Nadelstiche“ schmerzt niemandem, zermürbt aber die Streikenden, weil jeder genau weiß, dass die Folgen solcher Streiks sehr überschaubar sind.

Die Beschäftigten in Gesundheit, Pflege, Lebensmittelversorgung, Logistik, Transport und anderen lebensnotwendigen Bereichen sind wegen fehlenden oder nicht umsetzbaren Schutzmaßnahmen tagtäglich hohen Gefahren ausgesetzt. Doch Verdi hat keine einzige Forderung aufgestellt, um Gesundheit und Leben der Beschäftigten im öffentlichen Dienst vor den Folgen der Corona-Pandemie zu schützen.

Das Ziel Verdis ist klar: Die Tarifverhandlungen sollen schnell abgeschlossen werden, bevor sich ein wirklicher Arbeitskampf entwickelt, der der Kontrolle der Gewerkschaft entgleitet. Daher hat Werneke, noch bevor das Angebot der Arbeitgeber bekannt war, die ohnehin niedrigen Forderungen der Gewerkschaft fallengelassen: „Am Ende wird ein Kompromiss stehen.“

Die Sozialistische Gleichheitspartei ruft Arbeiter in allen Bereichen auf, unabhängig von den Gewerkschaften ein Netzwerk von Aktionskomitees aufzubauen, um einen Generalstreik gegen die Schulöffnungen und die gesamte Politik der herrschenden Klasse vorzubereiten. Nur so können sichere und angemessene Arbeitsbedingungen für alle in lebenswichtigen Bereichen Beschäftigten geschaffen werden und der tödlichen Pandemie Einhalt geboten werden.

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