Am Mittwoch gab US-Präsident Joe Biden bekannt, dass die amerikanische Militärintervention in Afghanistan zum 11. September 2021 beendet werden soll. Wenige Wochen vor dem 20. Jahrestag der amerikanischen Invasion soll der letzte amerikanische Soldat das Land verlassen.
Biden ist der dritte amerikanische Präsident, der verspricht, den Krieg in Afghanistan zu beenden. Aber selbst wenn die letzten etwa 3.500 amerikanischen Soldaten abziehen, werden Tausende von CIA-Agenten, Söldnern und Fallschirmjägern im Land verbleiben, um die Marionettenregierung von Präsident Aschraf Ghani zu stützen. Das Pentagon wird weiterhin Bomben abwerfen und willkürlich Raketen auf alles abfeuern, was den USA als „terroristisches“ Ziel gilt. Auch ein erneuter Einsatz von Kampftruppen, wie im Irak, ist nicht ausgeschlossen.
Bidens Ankündigung bietet Anlass, eine Bilanz des längsten Kriegs in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu ziehen – eines Kriegs, der unermessliches Leid über die afghanische Bevölkerung gebracht hat, in dem enorme Ressourcen verschleudert wurden und der zur Verrohung der amerikanischen Gesellschaft beigetragen hat.
Nach offiziellen Angaben sind in diesem Krieg mehr als 100.000 Afghanen getötet worden. Die wirkliche Zahl liegt zweifellos weitaus höher. Die USA wandten die Methoden der „Aufstandsbekämpfung“, d. h. des Terrors an: Bombardierung von Hochzeitsgesellschaften und Krankenhäusern, Drohnenmorde, Entführungen und Folter. Eine der schlimmsten Gräueltaten ereignete sich 2015. US-Bomber flogen einen halbstündigen Angriff auf ein Krankenhaus von „Ärzte ohne Grenzen“ in Kundus. Dabei wurden 42 Menschen getötet.
In seiner kurzen Ankündigung erwähnte Biden mit keiner Silbe die schlimmen Zustände im Land, für die der amerikanische Imperialismus die Hauptverantwortung trägt.
Am Anfang des Kriegs stand eine bewusste Vertuschung der eigentlichen Ziele der USA. Er wurde der amerikanischen Bevölkerung als Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001 verkauft, die nie ernsthaft aufgeklärt wurden. In Wirklichkeit handelte es sich um einen illegalen Angriffskrieg, der darauf abzielte, eine historisch unterdrückte Bevölkerung zu unterjochen, um die räuberischen Interessen des US-Imperialismus zu befriedigen.
Niemand wurde für die Verbrechen der US-Armee in Afghanistan zur Rechenschaft gezogen – weder die Vertreter der Bush-Administration, die den Krieg begonnen hatten, noch die der Obama-Administration, die ihn fortsetzten. George W. Bush wird neuerdings als Staatsmann gepriesen, weil er nicht so offen grob und diktatorisch gewesen sei wie Donald Trump.
Barack Obama wird von den Medien hochgehalten, obwohl er der einzige amerikanische Präsident ist, der an jedem Tag seiner Amtszeit Krieg geführt hat. Hochrangige Beteiligte, von Donald Rumsfeld bis Hillary Clinton, beziehen heute Staatspensionen in Millionenhöhe. Obamas Vizepräsident sitzt jetzt im Weißen Haus. Dieser verbrecherische Krieg wurde von allen Teilen des politischen Establishments der USA unterstützt, Republikanern wie Demokraten. Auch Senator Bernie Sanders gab seine Stimme dafür.
Die World Socialist Web Site ist von Anfang gegen die imperialistische Intervention in Afghanistan aufgetreten. Ihre Opposition reicht zurück bis zur anfänglichen Invasion nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In ihrer ersten Stellungnahme zur US-Invasion am 9. Oktober 2001 erklärte die Redaktion der WSWS: „Weshalb wir gegen den Krieg in Afghanistan sind“. Darin hieß es:
Der Charakter dieses Krieges bemisst sich wie bei jedem Krieg nicht nach den unmittelbaren Ereignissen, die ihm vorausgingen. Ob er progressiv oder reaktionär ist, entscheidet sich vielmehr an der Klassenstruktur, den ökonomischen Grundlagen und der weltpolitischen Rolle der beteiligten Staaten. Unter diesen ausschlaggebenden Aspekten handelt es sich bei dem gegenwärtigen Vorgehen der Vereinigten Staaten um einen imperialistischen Krieg.
Die US-Regierung verfolgt mit diesem Krieg weit gefasste weltpolitische Interessen der amerikanischen herrschenden Klasse. Sein Hauptzweck ergibt sich aus folgenden Zusammenhängen: Der Zusammenbruch der Sowjetunion vor zehn Jahren hat in Zentralasien ein Vakuum hinterlassen. Dieses Gebiet beherbergt die zweitgrößten nachgewiesenen Vorkommen an Erdöl und Erdgas weltweit.
Die Region um das Kaspische Meer, zu der Afghanistan einen strategischen Zugang eröffnet, enthält schätzungsweise 270 Milliarden Barrel Öl, was rund 20 Prozent der weltweit bekannten Reserven entspricht. Außerdem lagern dort etwa ein Achtel der weltweiten Erdgasvorkommen.
Die amerikanische Intervention in Afghanistan begann nicht 2001, sondern im Juli 1979. Damals beschloss die Carter-Regierung, Verbände zu unterstützen, die gegen die von der Sowjetunion unterstützte Regierung kämpften. Auf diese Weise wollte sie, wie es der nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski ausdrückte, „der UdSSR ihren Vietnamkrieg bescheren“. Nach der sowjetischen Invasion im Dezember 1979 arbeitete die CIA mit Pakistan und Saudi-Arabien zusammen, um islamische Fundamentalisten zu rekrutieren, die nach Afghanistan gehen und einen Guerillakrieg führen sollten. Diese Operation brachte Osama bin Laden nach Afghanistan und führte zur Gründung von al-Qaida.
Auch die Taliban verdankten ihre Entstehung Waffen und Ausbildern aus Pakistan, Geld aus Saudi-Arabien und politischer Rückendeckung aus den USA. Diese fundamentalistische Gruppe entstand zunächst in den Flüchtlingslagern in Pakistan als eine Art „Klerikalfaschismus“ – ein Nebenprodukt von jahrzehntelangem Krieg und Unterdrückung. Doch 1995/96 entschied die Clinton-Administration, sie als besten Garanten für die Wiederherstellung der „Stabilität“ zu adoptieren.
Von 1996 bis 2001 drehten sich die Beziehungen der USA zu Afghanistan um den Bau von Pipelines, die unter Umgehung von Russland, Iran und China Öl und Gas aus dem Kaspischen Becken abtransportieren sollten. Sowohl Zalmay Khalilzad, der ständige US-Gesandte in der Region, als auch Hamid Karzai, der erste von den USA unterstützte Präsident Afghanistans, arbeiteten für den Ölriesen Unocal.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Bush-Regierung drohte 2001 mehrfach mit militärischen Maßnahmen gegen die Taliban. Entgegen der offiziellen Darstellung waren die Terroranschläge vom 11. September 2001 keineswegs Ereignisse, die „alles veränderten“. In Wirklichkeit dienten sie als Anlass, um einen lange geplanten Angriff in Gang zu setzen. Es deutet einiges darauf hin, dass die US-Geheimdienste die Anschläge vom 11. September zugelassen haben, um den nötigen Vorwand zu liefern.
Die WSWS schätzte die schnelle Eroberung Afghanistans und den Zusammenbruch des Taliban-Regimes als ein Ereignis ein, das die Grausamkeit des amerikanischen Imperialismus offenbarte. Tausende wurden bei US-Bombenangriffen getötet und von den durch die USA unterstützten Milizen abgeschlachtet. Das Regime, das sie in Kabul installierten, war eine brüchige Allianz aus ehemaligen Taliban-Funktionären wie Hamid Karzai, Oberhaupt eines paschtunischen Stammes, und der Nordallianz, die sich auf die Minderheiten der Tadschiken, Usbeken und Hazara stützte.
Nicht minder destabilisierend wirkte sich die US-Invasion auf die Geopolitik aus. Alle Nachbarstaaten, darunter Iran, Russland, China und Pakistan, betrachteten das riesige amerikanische Expeditionskorps, das sowohl unter der Bush- als auch unter Obama-Regierung zeitweise auf 100.000 Mann anwuchs, als permanente Bedrohung. Mit der Invasion des Irak im Jahr 2003 vollzog die Bush-Regierung einen noch blutigeren Akt imperialistischer Barbarei. Er schuf die Voraussetzungen für eine umfassendere Destabilisierung des gesamten Nahen Ostens, der mittlerweile von Bürgerkriegen und imperialistischen Interventionen in Syrien, Libyen und Jemen heimgesucht wurde.
Die Regierungen unter Bush und Obama kombinierten riesige Militärbudgets mit polizeistaatlichen Maßnahmen im Inland. Sie bauten den Überwachungsapparat des Staates aus, und ihre Wirtschaftspolitik bestand aus Haushaltskürzungen, Lohnkürzungen und der Verschlechterung des Lebensstandards für die Mehrheit der arbeitenden Menschen.
Wie die WSWS erklärte, war der Krieg in Afghanistan Teil eines Ausbruchs des US-Imperialismus, der mit dem Golfkrieg 1991 begann und darauf abzielte, den wirtschaftlichen Niedergang der Vereinigten Staaten mit militärischen Mitteln aufzuhalten. David North schrieb 2016 dazu im Vorwort zu Dreißig Jahre Krieg: „Die Kriege, die im letzten Vierteljahrhundert von den USA angezettelt wurden, müssen als Kette zusammenhängender Ereignisse aufgefasst werden. Die strategische Logik des Weltmachtstrebens der USA geht über neokoloniale Operationen im Nahen Osten und Afrika hinaus. Die laufenden regionalen Kriege sind zusammengehörige Elemente einer rasch eskalierenden Konfrontation der USA mit Russland und China.“
Diese Prognose hat sich bestätigt. Hinter dem Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan steht u. a. die Absicht, die Ressourcen des US-Militärs auf den eskalierenden Konflikt mit Russland und vor allem China zu konzentrieren. In den letzten Wochen hat Biden eine Reihe von zunehmend provokativen Aktionen in Ostasien angeordnet, und das US-Militär hat in seiner offiziellen Doktrin die Vorbereitung auf einen „Großmachtkonflikt“ festgeschrieben.
Eine wirkliche Abrechnung mit zwei Jahrzehnten blutiger Verbrechen in Afghanistan und die Entwicklung einer Bewegung gegen die imperialistische Barbarei erfordert den Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung in der Arbeiterklasse. Dieser Aufgabe haben sich die WSWS und das Internationale Komitee der Vierten Internationale verschrieben.
Mehr lesen
- Politische Reaktion und intellektueller Bluff: Akademiker in den USA stellen sich öffentlich hinter den Krieg
- Ein Vierteljahrhundert Krieg. Amerikas Griff nach der Weltherrschaft 1990–2016
- Weshalb wir gegen den Krieg in Afghanistan sind
- Die Taliban, die Vereinigten Staaten und die Ressourcen Zentralasiens
- Der Krieg in Afghanistan wurde lange vor dem 11. September geplant
- Hunderte Kriegsgefangene in Masar-i-Scharif abgeschlachtet