Indien: Experten rechnen mit mehr als einer Million Toten durch Covid-19

In Indien leiden weiterhin Millionen Menschen an Covid-19, Tausende sterben jeden Tag, und die Zahl der Infizierten steigt jeden Tag weiter an. Am 9. Mai erreichte das Land einen weiteren grauenhaften Meilenstein: Die Zahl der Fälle stieg innerhalb von 24 Stunden um 403.738 auf fast 22,3 Millionen, die Zahl der offiziell gemeldeten Toten um 4.092 auf 242.362.

In den letzten vier Monaten gab es in Indien zehn Millionen Neuinfektionen. Mittlerweile entfallen auf das Land 20,24 Prozent aller weltweit aktiven Fälle und 7,12 Prozent aller Todesfälle.

Diese Zahlen äußern sich konkret in den schrecklichen Nachrichten über verzweifelte Szenen in den Krankenhäusern, überfüllte Krematorien und rund um die Uhr brennende Scheiterhaufen in einer Stadt nach der anderen überall im Land – einschließlich der Hauptstadt Delhi.

Kolkata, Indien, 21. Juli 2020: Fahrgäste mit Gesichtsmasken drängeln sich vor einem Bus. (AP Photo/Bikas Das)

Die medizinische Fachzeitschrift Lancet veröffentlichte am 8. Mai einen Leitartikel, in der sie unter Berufung auf Statistiken des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) zu der Prognose kommt, dass in Indien bis zum 1. August eine Million Menschen an Covid-19 gestorben sein werden.

Doch laut Dr. Murad Banaji, einem langjährigen Mathematikdozenten an der Universität Middlesex wurde dieser katastrophale Wert bereits erreicht.

Im Gespräch mit dem Journalisten Karan Thapar vom Magazin The Wire erklärte Banaji am 8. Mai: „80 Prozent der Toten [in Indien] wurden nicht erfasst ... [und] nur ein Fünftel aller Todesfälle wurde registriert.“ Mit anderen Worten, erklärte er: „In Indien sind bereits mehr als eine Million Menschen [an Covid-19] gestorben.“

Banaji äußerte sich auch zu den Prognosen, die Zahl der Todesopfer könne in den nächsten zwei Wochen auf 6.800 pro Tag ansteigen. Er erklärte, diese Zahl könnte sogar noch höher steigen, da „die Zahl der Infizierten viel höher ist als der tägliche Anstieg der Fallzahlen ... die meisten Infektionen werden (wegen der unzureichenden Tests) nicht entdeckt.“

Thapar wies darauf hin, dass laut der indischen Regierung zwar 86 Prozent aller Todesfälle registriert werden, aber „nur bei 22 Prozent tatsächlich ärztliche Sterbeurkunden vorliegen.“ Als Beispiel nannte er die Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar, in denen bei nur fünf, bzw. 2,4 Prozent aller Todesfälle durch Covid-19 Sterbeurkunden vorliegen.

Banaji erklärte, viele Todesopfer durch Covid-19 würden nicht mit dieser Todesursache erfasst, weil sie zuvor keinen Kontakt zu Ärzten hatten oder nicht getestet wurden.

Die Washington Post schilderte am 6. Mai Beispiele dafür, wie extrem die Zahl der tatsächlichen Todesfälle durch Covid-19 von den offiziellen Zahlen abweicht. In Bhopal, einer Großstadt im Zentrum des Landes, stieg die offizielle Zahl an Covid-19-Toten zwischen dem 11. und dem 24. April nicht über zehn pro Tag. Doch die Aufzeichnungen des Krematoriums Bhadhada haben „wenig mit der offiziellen Zählung gemein“, wie die Zeitung schrieb.

Die Times of India erklärte am 9. Mai in einer Analyse von Daten des Gesundheitsministeriums, dass in 40 Prozent, bzw. 301 der 741 Distrikte Indiens die Rate der positiven Tests zwischen dem 1. und dem 7. Mai bei mindestens 20 Prozent lag. Betroffen sind vor allem ländliche Gebiete. In etwa 15 Prozent aller Distrikte waren im gleichen Zeitraum 50 Prozent oder mehr aller durchgeführten Tests positiv.

Die Modi-Regierung und die herrschende Elite Indiens trägt die direkte Verantwortung für diese katastrophalen Zahlen. Sie haben in krimineller Weise den Rat von medizinischen Fachleuten ignoriert, ihre tödliche Politik der „Herdenimmunität“ durchgesetzt und damit die Profitinteressen des Großkapitals über Menschenleben gestellt.

Premierminister Modi hatte Anfang April behauptet, seine Regierung würde den Kampf gegen Covid-19 gewinnen. Diese betrügerische Äußerung hat zu einer nationalen Katastrophe von entsetzlichem Ausmaß geführt.

Obwohl sich die Lage immer weiter verschlimmert, weigert sich die Regierung weiterhin, einen nationalen Lockdown zu verhängen oder die notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen, um das unterfinanzierte und überlastete öffentliche Gesundheitssystem auszuweiten und zu modernisieren.

Modi verbreitet weiterhin die Falschbehauptung, das Impfprogramm seiner Regierung werde die Pandemie eindämmen. Letzten Dezember hatte die Regierung erklärt, sie werde bis Juli 2021 300 Millionen ihrer am stärksten gefährdeten Bürger impfen, darunter die Beschäftigten im Gesundheitswesen und Arbeiter mit direktem Personenkontakt.

Der Indian Express schrieb am Sonntag: „Weniger als drei Monate vor Ablauf der Frist im Juli hat Indien nur etwa 155 Millionen Impfstoffdosen verabreicht und die Zielvorgabe damit erst zu einem Viertel erreicht.“ Ein vollständiger Impfschutz erfordert zwei Impfungen, sodass 600 Millionen Dosen verabreicht werden müssten, um das Ziel von 300 Millionen zu erreichen.

Die Zeitung schrieb auch, dass die Zahl der täglichen Impfungen wegen Impfstoffknappheit zurückgegangen ist. In der ersten Aprilwoche waren es 3,5 Millionen Injektionen pro Tag, in der letzten Aprilwoche 2,1 Millionen und Anfang Mai nur noch 1,6 Millionen.

Laut der New York Times haben nur 9,7 Prozent der Bevölkerung ihre erste Dosis erhalten und nur 2,4 Prozent die zweite.

Während die breite Masse versucht, mit der schrecklichen Situation zurechtzukommen, haben sich die indischen Milliardäre noch weiter bereichert. Ihr Gesamtvermögen verdoppelte sich in den letzten zwölf Monaten auf umgerechnet fast 596 Milliarden US-Dollar.

Neben dem Tsunami an Neuinfektionen sind die indischen Arbeiter und die arme Landbevölkerung auch mit Arbeitslosigkeit, Lohnsenkungen und Inflation konfrontiert.

Als die Modi-Regierung im April 2020 mit weniger als vier Stunden Vorlaufzeit und ohne irgendeine soziale Unterstützung einen kurzfristigen Lockdown verhängte, kam es zu Massenentlassungen. Millionen Menschen wurden in Armut gestürzt.

Die Arbeitslosenquote stieg im April von 6,5 Prozent auf fast acht Prozent und damit auf den höchsten Wert seit vier Monaten. Allein im April gingen mehr als sieben Millionen Arbeitsplätze verloren.

Laut dem Centre for Monitoring Indian Economy (CMIE) ist die Zahl der Angestellten von 398,1 Millionen im März auf 390,8 Millionen im April gefallen und damit seit drei Monaten in Folge zurückgegangen. Im Januar lag die Zahl der Angestellten in Indien bei 400,70 Millionen.

Die Arbeiter im so genannten informellen Sektor waren am stärksten von dem Wirtschaftsabschwung betroffen. Eine landesweite Umfrage der Action Aid Association unter 16.900 Beschäftigten im informellen Sektor in 400 Distrikten und 23 Bundesstaaten, die in der so genannten Öffnungsphase zwischen August und September letzten Jahres durchgeführt wurde, verdeutlicht die verheerenden Auswirkungen.

„Ohne angemessene staatliche Unterstützung und sichere Lebensgrundlage wurden die Menschen sehr stark von Schulden abhängig. Nachdem sie ihr Netzwerk an Familien und Freunden erschöpft hatten, mussten sie sich an Geldleiher wenden. ... Sie waren auch dazu gezwungen, immer prekärere Beschäftigungsverhältnisse anzunehmen. Zudem deuten mehrere Berichte darauf hin, dass sich die Kinderarbeit rapide ausbreitet.“

Die Umfrage fand heraus, dass fast die Hälfte der Befragten arbeitslos war, und ein Viertel hatte keinerlei Einkommen. „Etwa 42 Prozent derjenigen, die nach eigenen Angaben wegen des Lockdowns während der ersten Runde der Umfrage im Mai letzten Jahres arbeitslos wurden, waren auch vier Monate später, im September, arbeitslos. Die Erholung von der Arbeitslosigkeit war viel langsamer als erwartet, vor allem in den städtischen Gebieten. Sowohl im formellen als auch im informellen Sektor sind die Löhne stark gesunken.“

Zudem waren die Löhne in der „Öffnungsphase“ äußerst niedrig. Fast die Hälfte der Befragten erhielten weniger als 5.000 Rupien (68 US-Dollar) pro Monat, nur acht Prozent verdienten mehr als 10.000 Rupien im Monat.

Die Reaktion der Modi-Regierung auf diese ausufernde Wirtschaftskrise unterscheidet sich nicht von ihrer mörderischen Politik der „Herdenimmunität“ gegen die Pandemie: Sie verschärft ihren kapitalistischen, Arbeitsplätze vernichtenden Kurs und bürdet der Arbeiterklasse sämtliche Lasten auf.

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