Spontane Besetzung einer Mitsuba-Teilefabrik bei Istanbul

120 Beschäftigte von Mitsuba Otomotiv in Gebze (Kocaeli, östlich von Istanbul) haben am 11. Oktober die Produktion gestoppt und ihre Fabrik besetzt. Sie reagierten damit auf die Entlassung von neun Kollegen, die der Gewerkschaft Birleşik Metal-İş beigetreten waren.

Inmitten eines internationalen Aufschwungs des Klassenkampfs fordern die Mitsuba-Beschäftigten die Wiedereinstellung ihrer entlassenen Kollegen und die Anerkennung ihrer Gewerkschaft. Die Birleşik Metal-İş (die dem Gewerkschaftsverband DİSK angehört) ist den Arbeitern jedoch in den Rücken gefallen, indem sie noch am selben Tag eine Vereinbarung mit Mitsuba traf: Mitsuba wird sie als gewerkschaftliche Vertretung anerkennen und die gesetzlich vorgeschriebene Entschädigung zahlen, weigert sich jedoch weiterhin, die entlassenen Arbeiter wieder einzustellen.

Dieser wichtige Kampf von Arbeiterinnen und Arbeitern gegen Mitsuba, einen globalen Autozulieferer mit Hauptsitz in Japan, ist Ausdruck des wachsenden Widerstands der Arbeiterklasse gegen den sinkenden Lebensstandard während der Pandemie.

Mitsuba-Beschäftigte bei der spontanen Besetzung ihrer Fabrik, Montag, 11.Oktober 2021 (Foto: @birlesikmetal auf Twitter)

Die spontane Besetzungsaktion bei Mitsuba kommt mit dem Beginn der Tarifverhandlungen in der Metallindustrie für die Periode von September 2021–2023 zusammen. Der Vertrag betrifft rund 150.000 Beschäftigte in der Metallindustrie, einem der wichtigsten Sektoren der türkischen Wirtschaft. Am selben 11. Oktober, dem Beginn der Besetzung, traten der türkische Metall-Arbeitgeberverband (MESS) und die Gewerkschaft Türk Metal zusammen.

Die Tarifgespräche, die voraussichtlich zwei Monate dauern, finden im Schatten der Pandemie und der steigenden Lebenshaltungskosten statt. Arbeiter sind gezwungen, trotz Pandemiegefahr zur Arbeit zu gehen, um die Gewinne der Konzerne sicherzustellen.

An den Tarifverhandlungen sind globale Unternehmen und die größten türkischen Industriekonzerne beteiligt, darunter Fiat (Tofaş), Renault, Ford, Mercedes und MAN in der Automobilindustrie sowie Arçelik, Bosch und Siemens in der Haushaltsgeräte- und Elektronikindustrie. Während der Arbeitgeberverband MESS die Unternehmen vertritt, sitzen drei Gewerkschaften (Türk Metal, Birleşik Metal-İş und Özçelik-İş) mit am Verhandlungstisch.

Wie bei früheren Verträgen kann sich der MESS auf Regierung und Gewerkschaften stützen, die auf seiner Seite stehen. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seit Jahren alle größeren Streiks mit der Begründung verboten, sie würden die „nationale Sicherheit gefährden“, und die Gewerkschaften fürchten militante Kämpfe der Arbeiter und potentielle Streiks genau wie die Unternehmen.

Die Gewerkschaften haben ihre Lohnforderungen bekanntgegeben: Türk Metal fordert für die ersten sechs Monate des Jahres eine Erhöhung um 29,57 Prozent, Birleşik Metal-İş um 30,89 Prozent und Özçelik-İş um 31 Prozent. Für die nächsten sechs Monate fordern sie eine Erhöhung in Höhe der Inflationsrate plus 3 oder 4 Prozent.

Diese Sätze, die die Gewerkschaften als Ausgangspunkt für die Verhandlungen angeben, liegen weit unter den finanziellen Einbußen, die die Beschäftigten während der Pandemie hinnehmen mussten. Und wie jeder Arbeiter weiß, werden die Unternehmer diese Forderungen in den Verhandlungen noch weit herunterhandeln, und sollte die Regierung einen Streik verbieten, wird die offizielle Schlichtungsstelle sie einmal mehr zu Hungerlöhnen verurteilen.

Die offizielle Inflationsrate, die das staatliche türkische Statistikinstitut (TÜIK) berechnet hat, stellt eine grobe Unterschätzung dar. Sie beträgt für 2021 laut Angabe vom September 19,58 Prozent. Laut einer Studie der lag Die reale jährliche Inflationsrate liegt jedoch bei 44,7 Prozent, wie die unabhängige Agentur Inflation Research Group im September bekanntgab. Mit anderen Worten: Selbst die ersten Lohnforderungen der Gewerkschaften liegen weit unter dem realen Preisanstieg.

Gegenüber der Tageszeitung Evrensel äußerten sich die Arbeiter zu den Gewerkschaftsforderungen mit großer Wut. Ein Arbeiter von Kroman Çelik und Mitglied von Birleşik Metal-İş sagte: „Selbst wenn die von den Gewerkschaften heute geforderte Lohnerhöhung ohne Verhandlungen angenommen würde, bliebe der [Metaller-] Durchschnittslohn auch in den größten Eisen- und Stahlfabriken unter 7.000 Türkischen Lira“ (knapp 650 Euro).

Ein Arbeiter bei Dostel Makina sagte: „Auch wenn es heißt, dass die 'publizierten Inflationszahlen nicht der Realität entsprechen', ist es nicht richtig, die offizielle Inflation als Grundlage zu nehmen. Die Richtschnur könnte beispielsweise die Armutsgrenze sein. Außerdem übertrifft die reale Inflation die heute geforderte Lohnerhöhung bei weitem.“

Ein Ford-Autoarbeiter fragte: „Sind diese Tarifforderungen etwa geeignet, dem Boss, der die Gewinne in der Pandemie um 114 Prozent steigern konnte, wirksam entgegenzutreten?“ Wütend fuhr er fort: „Schämt euch einfach! Türk Metal hat wieder einmal gezeigt, dass sie eine Unternehmensgewerkschaft, eine gelbe Gewerkschaft ist! Wir Metaller werden diesen Entwurf nie und nimmer akzeptieren.“

Die an der Borsa Istanbul gehandelten Eisen- und Stahlunternehmen haben ihre Gewinne im ersten Quartal 2021 um 1.158 Prozent gesteigert. Bei den Autoherstellern waren es im gleichen Zeitraum 173 Prozent.

Sowohl die Unternehmen als auch die Gewerkschaftsvertreter sind sich bewusst, dass die Arbeiter im Falle eines Arbeitskampfs geschlossen streiken werden. Sie wissen, dass ein solcher Streik eine Explosion des Klassenkampfs auslösen wird, und setzen auf die Drohungen der Regierung mit Streikverbot.

Die Regierung befürchtet, dass ein möglicher Streik in der Metallindustrie, dem Rückgrat der türkischen Wirtschaft, eine explosive Wirkung haben könnte, da sie mit der wachsenden sozialen Opposition gegen die mörderische Pandemie-Politik zusammenkommt. Schon jetzt befindet sich die türkische Wirtschaft in einem tiefen Abschwung, und die Lebensbedingungen der Arbeiter haben sich stark verschlechtert.

Präsident Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2002 mindestens 17 Dekrete zur Verschiebung von Streiks erlassen. Damit wurden Streiks verschoben,, d. h. de facto verboten, an denen fast 200.000 Arbeiter beteiligt waren, darunter auch große Streiks in 2015 und 2018.

Die Gewerkschaften, auf die sich die Regierung und der MESS verlassen, um die Wut in den Fabriken einzudämmen, sind bei den Beschäftigten bereits diskreditiert. In den letzten Jahren haben die Gewerkschaften einen Vertrag nach dem anderen unterzeichnet, obwohl die Arbeiter bereit waren zu streiken.

Die Wut der Metallarbeiter auf die Gewerkschaften entlud sich 2015 in spontanen Streiks von mehr als 20.000 Beschäftigten, vor allem bei Renault, Tofaş (Fiat) und Ford. Sie rebellierten gegen Türk Metal, die größte Gewerkschaft des Sektors, und bildeten ihre eigenen Aktionsausschüsse. Während die Gewerkschaften zum Nachgeben rieten, hinderte Birleşik Metal-İş, eine dem Bund der revolutionären Gewerkschaften (DİSK) angeschlossene Gewerkschaft, die Beschäftigten daran, einen Solidaritätsstreik durchzuführen.

Die Gewerkschaften haben ihre Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung während der Pandemie intensiviert und sich als Industriepolizei gegen die Arbeiter erwiesen. Die Arbeiter, die anderthalb Jahre lang unter extrem gefährlichen Pandemiebedingungen arbeiten mussten, sind wütend darüber, dass sie und ihre Familien jeden Tag einem großen Risiko ausgesetzt sind. Obwohl es in Hunderten von Fabriken zu großflächigen Ausbrüchen kam, wurden sie bagatellisiert oder vertuscht.

Während der Pandemie versuchten die Gewerkschaften, den Widerstand der Arbeiter einzudämmen. Im März 2020, als die Pandemie begann, drohte der Gewerkschaftsverband DİSK zunächst damit, sich auf das in der Verfassung verankerte Recht zu berufen, nicht unter gefährlichen Bedingungen zu arbeiten, wenn die Regierung nicht innerhalb von 48 Stunden die erforderlichen Schutzmaßnahmen ergreifen würde. Trotz des Corona-Todes von Tausenden von Arbeitern und ihren Familienangehörigen rief die Gewerkschaft jedoch nicht zum Streik auf. Der Vorsitzende von Birleşik Metal-İş, Adnan Serdaroğlu, räumte im August persönlich ein, dass sich 20 Prozent der Mitglieder seiner Gewerkschaft mit Covid-19 infiziert hätten.

Nicht nur in der Türkei spielen die Gewerkschaften diese Rolle seit Jahrzehnten. Weltweit wachsen der Widerstand und die Militanz der Arbeiter gegen die Angriffe auf ihre Gesundheit, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen im Zug der Pandemie. Insbesondere die Autoarbeiter in den USA haben ihren Kampfeswillen bewiesen, indem sie wiederholt von den Gewerkschaften auferlegte wirtschaftsfreundliche Tarifabschlüsse ablehnten. Mit Unterstützung der World Socialist Web Site bauen Arbeiter bei Volvo, Dana und zuletzt John Deere ihre eigenen unabhängigen Aktionskomitees auf.

Die Metallarbeiter in der Türkei wehren sich in der Pandemie gegen die Arbeit in gefährlicher Umgebung, sowie gegen das Stufensystem, bei dem die neu eingestellten Arbeiter kaum den Mindestlohn erhalten. Sie sind bereit zu streiken, um angemessene Lohnerhöhungen und Sozialleistungen durchzusetzen.

Die Metallarbeiter müssen unabhängig von den Gewerkschaften Maßnahmen ergreifen, um eine Ausrottungsstrategie durchzusetzen, um die Pandemie zu stoppen und Leben zu retten, sowie die miserablen Lebensbedingungen zu verbessern. In jeder Fabrik und an jedem Arbeitsplatz müssen Arbeiter ihre eigenen Vertreter wählen und ihre eigenen Forderungen formulieren. Solche unabhängigen Aktionskomitees werden die Arbeiterinnen und Arbeiter mit echten Informationen versorgen, die Metallarbeiter aller Länder vereinen und die Grundlage für die Entwicklung eines echten Klassenkampfs bilden.

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