Trotz massiv steigender Corona-Infektionszahlen hat die Berlinale-Leitung entschieden, das diesjährige internationale Filmfestival vom 10. bis zum 20. Februar als Präsenzveranstaltung stattfinden zu lassen. Anders als beispielsweise beim Rotterdam Filmfestival oder dem Sundance Festival in den USA soll es keine Online-Möglichkeit für Publikum und Pressevertreter geben.
Diese Entscheidung ist ein klarer Bruch mit der bisherigen Orientierung der Berlinale auf das Breitenpublikum. Dieses wird nun aufgefordert, unter großer Gefahr für Gesundheit und Leben zu Hunderten in die Kino- und Veranstaltungssäle zu kommen. Die Berlinale-Leitung schließt sich so der Durchseuchungspolitik der Ampelkoalition und des rot-rot-grünen Berliner Senats an, der die komplette Öffnung von Schulen, Kitas, Bars und Restaurants verkündet hat, als die extrem ansteckende Omikron-Welle anrollte.
In der Begründung wird betont, man habe die Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen noch einmal überprüft und ein sicheres Konzept erarbeitet. Es ist dasselbe Konzept von 2G-plus, das auch die Regierung als Maßstab verordnet und das sich längst als unwirksam erwiesen hat.
Am 19. Januar, als die Festivalleitung ihr Programm präsentierte, stiegen die Ansteckungszahlen massiv an. Deutschlandweit erreichten sie über 110.000 und einen Tag später über 133.000. In Berlin liegen die Inzidenzen doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. In Berlin-Mitte, wo die meisten Berlinale-Kinos angesiedelt sind, lag am Tag der Präsentation die Sieben-Tage-Inzidenz bei 1.798 – die höchste in ganz Deutschland. Wissenschaftliche Prognosen gehen davon, dass die Omikron-Welle Mitte Februar, wenn die Berlinale stattfindet, ihren Höhepunkt erreichen wird.
Man habe auch die Platzkapazitäten auf die Hälfte reduziert, heißt es weiter zum Berlinale-Konzept. Tickets gebe es nur online, um die langen Schlangen an den Schaltern zu vermeiden, und Partys und Empfänge seien abgesagt. Für Filmteams werde es jedoch „nach wie vor in einem reduzierten Format die Auftritte auf dem Roten Teppich am Berlinale Palast in Anwesenheit der Presse oder in weiteren Premierenkinos geben, die einen Hauch traditioneller Festivalatmosphäre schaffen“.
Zudem habe man die eigentlichen Filmvorführungen mit anschließender Preisverleihung auf die Zeit vom 10. bis zum 16. Februar beschränkt und die restlichen vier Tage bis zum 20. Februar in „Publikumstage“ verwandelt, an denen die Berlinerinnen und Berliner zum Ticketpreis von 10 Euro Wiederholungsaufführungen in Kinos zu sehen bekämen.
Doch welche Familie mit Kindern soll sich noch ins Kino wagen, um einen der Filme der beliebten Sektionen „Generation Kplus“ oder „Generation 14plus“ anzusehen? In den Schulen und Kitas wütet derzeit Omikron, und nur einige ältere Kinder sind bisher geimpft. Eine Ausbreitung in den Aerosolen der Kinoräume ist vorprogrammiert.
Die Festivalleitung und einige andere prominente Kulturvertreter versuchen, ihr Vorhaben in rosiges Licht zu tauchen und als Geschenk an das Filmpublikum darzustellen. Die Kultur spiele „eine so elementare Rolle in der Gesellschaft“, dass man das „Gemeinschaftserlebnis Kino“ ermöglichen wollte, heißt es in der Pressemitteilung.
Bei der Ankündigung des Auftaktfilms von François Ozon Peter von Kant, eine Hommage an Rainer-Werner Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant, erklärte der künstlerische Leiter Carlo Chatrian, man wolle mit diesem Film „Leichtigkeit und Schwung in unseren trüben Alltag bringen“. In einem Interview mit dem amerikanischen Branchenmagazin Variety bezeichnete er die Präsenzentscheidung gar als „Widerstandsübung“ (exercise in resistance).
Schützenhilfe kommt unter anderem auch von der Präsidentin der Akademie der Künste Jeanine Meerapfel: „Filme brauchen das Kino und die Zuschauer die große Leinwand. Erst dann wird Film lebendig. Gemeinsames Erleben und ein achtsamer Umgang miteinander gehören zusammen – in der gegenwärtigen Zeit vielleicht mehr als je zuvor.“
Solch blumige Worte erinnern an das Gerede vom Kindeswohl, mit dem Bildungspolitiker Schulkinder zwingen, sich in schlecht gelüftete und enge Klassenräume zu pferchen. Wie „achtsam“ ist es, wenn Berlinale-Besucher nach dem „lebendigen“ gemeinsamen Filmerlebnis Corona-krank sind und in Quarantäne auf die eigenen vier Wände, auf die Wände eines Hotelzimmers oder gar auf ein Krankenhausbett starren müssen?
Politisch gewollt
Die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek betonte bei der Präsentation am 19. Januar, die Gesundheit und Sicherheit der Besucher, der Filmschaffenden und der Mitarbeiter habe zwar Vorrang. Doch habe man sich eng mit den Behörden absprechen müssen.
Damit bringt sie zum Ausdruck, dass sich die Festivalleitung dem Druck der Bundesregierung und deren Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sowie des rot-rot-grünen Berliner Senats und dessen Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) unterworfen hat.
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) erklärte laut BZ: „Es ist ein großer Wunsch auch seitens der Bundesregierung, dass das gelingt. Dass alles unternommen wird, dieses hier möglich zu machen.“ Und Giffey weiter: „Also insofern ist die Verabredung: Wir wollen, dass die Berlinale stattfindet.“
Kulturstaatsministerin Claudia Roth bejubelte die Entscheidung: „Wir wollen mit dem Festival ein Signal an die gesamte Filmbranche und die ganze Kultur setzen. Wir brauchen das Kino.“ Danach begab sich die Grünen-Politikerin in Quarantäne – sie hatte sich mit Corona angesteckt.
In Wahrheit geht es nicht um das Wohl der Besucher und Mitarbeiter, sondern um handfeste wirtschaftliche und finanzielle Interessen.
Die Kosten der Berlinale von rund 30 Millionen Euro wurden bisher mit 10 Millionen durch Bundeszuschüsse aus dem Deutschen Filmförderfonds (DFFF) gedeckt, der der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Filmproduktionsstandort für Kino- und TV-Filme dienen soll. Derzeit verkaufen amerikanische Produzenten ihre Filme auf dem europäischen Markt besser als deutsche und europäische Firmen.
Der Rest finanziert sich über Ticket-Verkauf sowie Sponsoren. Bei der 70. Berlinale 2020, die kurz vor Beginn der Corona-Pandemie stattgefunden hatte, wurden noch über 300.000 Tickets verkauft.
Im letzten Jahr lief die Berlinale in zwei Teilen. Im Frühjahr konnten Fachpublikum und Vertreter des Filmmarkts (EFM) sowie Journalisten online die Filme sichten. Ein Summer Special im Juni führte einen großen Teil der Filme für das Publikum im Freien vor, in Parks und auf Plätzen. Auch die feierliche Eröffnungsfeier, die offizielle Preisverleihung und die Verleihung der Publikumspreise fanden erst im Sommer statt, als die Corona-Zahlen niedrig waren.
Auf diese Weise schien die Berlinale an ihrer Tradition als eines der weltweit größten Besucherfestivals festzuhalten. Das Publikum soll der Star sein, lautete einst das Motto des 2019 abgetretenen Festivaldirektors Dieter Kosslick.
Doch Filmwirtschaft, Kinoverbände und Bundesregierung beklagten die Verluste durch verschobene Kino- und TV-Starts, verlängerte Verträge und verminderte Einnahmen. Mit einer Präsenzveranstaltung in diesem Jahr erhoffen sie sich mehr Einnahmen. Als Zuschuss hat die Kulturstaatsministerin einen „niedrigen zweistelligen Millionenbetrag“ zusätzlich in Aussicht gestellt, ein Almosen angesichts der Milliarden-Summen, die derzeit für die Bundeswehr-Aufrüstung im Gespräch sind oder zu Beginn der Pandemie an die Großkonzerne und Finanzeliten verteilt wurden. Ein Almosen, das vor allem die kleineren Produzenten und Kinos nicht retten wird.
Kommerz und Filmstandort Deutschland
Vor allem soll der Europäische Film Markt (EFM), der mit dem angeschlossenen „Co-Produktion-Market“ im Rahmen der Berlinale stattfindet, gefördert werden. Er gilt nach Cannes und dem American Film Market in Los Angeles als drittwichtigster Filmmarktplatz der Welt. Hier treffen sich nicht Schauspieler und Filmliebhaber, sondern Branchenprofis, Vertriebsleute, die Lizenzen verkaufen, Verleiher, die Rechte für ihre jeweiligen nationalen Märkte einkaufen, Vertreter von Banken, die die Zwischenfinanzierung von Filmen und Serien übernehmen.
Ein Hauptaugenmerk liegt inzwischen auf der Produktion von Serien in Deutschland, wo der Druck durch amerikanische Streaming-Anbieter wie Amazon, Sky und Netflix während der Corona-Pandemie gewachsen ist.
Die Entscheidung, die Berlinale im Februar in Präsenz durchzuführen, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die Festivalleitung hat sich entschieden, in Absprache mit Senat und Bundesregierung die kommerziellen Gesichtspunkte an erste Stelle zu setzen.
Daher beharrt sie auf dem Termin im Februar, damit die Branche über das ganze Jahr davon profitiert und einen zeitlichen Vorteil vor dem Markt in Cannes und in Los Angeles nutzen kann. Und zweitens sollen, anders als im vergangenen Jahr, auch Kinobesucher vor Ort sein, Corona hin oder her, damit das Verkaufs- und Verleihinteresse, zum Beispiel bei Weltpremieren, durch entsprechende Publikumsresonanz gesteigert wird.
Daher auch die Entscheidung, dem Publikum eine Online-Teilnahme zu verwehren, während die kommerziellen Vertreter ihre Verleih- und Verkaufsverhandlungen gefahrlos online abwickeln dürfen.
Abschied vom Publikumsfestival
Die Berlinale-Entscheidung hat viel Protest, Unverständnis und Enttäuschung in den sozialen Medien und Redaktionen hervorgerufen. Besonders fatale Auswirkungen hat die fehlende Online-Möglichkeit auf internationale Besucher und Redakteure, die inzwischen reihenweise ihre Teilnahme absagen. Aufgrund von Corona-Reisebeschränkungen und nationalen Unterschieden bei den Impfungen ist es Journalisten beispielsweise aus Osteuropa verwehrt, nach Berlin zu kommen. Somit wird das internationale Publikum regelrecht ausgesperrt.
Die Münchner Abendzeitung schrieb: „Präsenz unter strengen Bedingungen. Aber rettet das ein Publikumsfestival wie die Berlinale?“ Der Filmkritiker des RBB Fabian Wallmeier twitterte: „Es verblüfft mich wirklich, wie störrisch die Berlinale im Angesicht von Omikron an einem Präsenz-only-Festival festhält und Online-Screenings für Medienvertreter:innen jetzt sogar explizit ausschließt.“
Der taz-Blog Filmanzeiger schreibt mit bitterem Sarkasmus: „Die:der Letzte mit negativem Test darf alle Bärengewinner:innen exklusiv interviewen. Und falls vor Ende schon alle positiv sind, wird die Berichterstattung in Ermangelung digitaler Sichtungsmöglichkeiten eingestellt ...“
Auch zahlreiche Hörer des RBB empörten sich bei Bekanntgabe dieser Entscheidung im Kommentarblog. „Unverantwortlich bei den Inzidenzen in Berlin und völlig unsolidarisch mit allen Pflegekräften und allen, deren Operationen zur Zeit wegen Omikron abgesagt werden“, schrieb Kai am 12. Januar. „Leider entsolidarisiert sich die Gesellschaft immer mehr. Jeder sieht nur seinen Bereich und schaut nicht über den Tellerrand. Da hätte ich mir gerade von der Kultur mehr Verantwortung gewünscht.“
Und so geht es weiter: „Angesichts der explodierenden Zahlen momentan echt Wahnsinn! Ist das wirklich notwendig?“ – „Unfassbar, die hohen Zahlen sprechen doch eindeutig dagegen!!! Mir fehlen langsam echt die Worte, diese Absurditäten in dieser Pandemie sind mir völlig schleierhaft! Auch im Schulbetrieb sollte endlich gehandelt werden…“. – „Wahnsinn! Der Privatmensch darf nicht sich mit mehr als 10 Leuten treffen und die kriegen wieder ne Extrawurst? Ein Superinfektionsereignis wird das, ich sags euch. Macht lieber Lockdown für alle!“
Die Entscheidung der Berlinale richtet sich eindeutig gegen das Leben und die Kulturinteressen der Bevölkerung. Sie stellt den beginnenden Abschied vom Publikumsfestival dar und lässt die Berlinale zu einem bloßen Event für die Filmwirtschaft und das Glamour- und Feierbedürfnis der oberen Zehntausend verkommen.
Sie leistet damit auch für viele junge Filmschaffende einen Bärendienst, die die beunruhigende Gegenwart der kapitalistischen Welt mit all ihrer Zerstörung von Lebensperspektiven künstlerisch zu erfassen suchen und die die wachsende Wut in der Bevölkerung gegen die offizielle Politik der Superreichen reflektieren.
Nicht eine „Omikron-Berlinale“ (wie der Tagesspiegel titelte) mit Kranken und Toten wird eine junge, lebendige Filmkultur befördern, sondern die Solidarisierung der Filmschaffenden mit der breiten Bevölkerung durch eine gemeinsame Initiative für ein gefahrloses Online-Festival, an dem Millionen teilnehmen können.
Die WSWS berichtet seit vielen Jahren über die Berlinale, um gerade die nicht so bekannten Filmproduktionen einem breiteren Publikum von Arbeitern und Jugendlichen weltweit bekannt zu machen. Wir protestieren aufs Schärfste gegen die Entscheidung der Berlinale-Leitung, das Filmfestival in Präsenz abzuhalten, und fordern alle anderen Redaktionen auf, dasselbe zu tun.