Während ein steiler Anstieg der Corona-Fälle zu den höchsten Inzidenzen seit Beginn der Pandemie führt und auch die Zahl der schweren Verläufe zunimmt, beendet die Bundesregierung alle Schutzmaßnahmen. Am heutigen Samstag läuft das bisherige Infektionsschutzgesetz aus, das die noch verbliebenen Schutzmaßnahmen regelt. Am Freitag wurde im Bundestag ein neues Infektionsschutzgesetz verabschiedet, das von Sonntag an bis zum 23. September gelten soll.
Das neue Gesetz sieht nur noch einen sogenannten „Basisschutz“ vor. Er beschränkt sich auf eine Maskenpflicht in Pflegeheimen, Kliniken, Öffentlichem Nah- und Fernverkehr, sowie eine Testpflicht in Kliniken, Pflegeheimen, Kitas und Schulen. Selbst in öffentlichen Geschäften gilt keine Maskenpflicht mehr. Eine Abschaffung der Isolationsregeln für Infizierte wurde zwar nicht beschlossen, ist jedoch weiter im Gespräch.
Schärfere Maßnahmen sind nur noch in sogenannten Hotspot-Gebieten möglich. Ab wann eine Region als Hotspot gilt, ist jedoch nicht von festen Werten abhängig, sondern muss vom entsprechenden Landesparlament bestimmt werden. Doch selbst in Hotspot-Gebieten sind in Folge der neuen Gesetzeslage keine tiefgreifenden Schutzmaßnahmen mehr erlaubt. Die möglichen Regelungen beschränken sich lediglich auf eine FFP2-Maskenpflicht in weiteren Bereichen, Abstandsgebote von 1,5 Metern in Innenräumen, sowie 3G- und 2G-Regelungen – alles völlig unzureichende Maßnahmen, die auch die aktuelle Welle nicht aufgehalten haben.
Den einzelnen Bundesländern ist es auch freigestellt, nach dem Auslaufen des Infektionsschutzgesetzes Übergangsregelungen bis zum 2. April zu beschließen. Doch auch diese dürfen sich lediglich auf Maskenpflicht, sowie 2G- und 3G-Regelungen beschränken, nicht aber Kontaktbeschränkungen oder Begrenzungen für die Teilnehmerzahl bei Großveranstaltungen.
Neben dem Infektionsschutzgesetz läuft am 19. April auch die Corona-Arbeitsschutzverordnung aus. Auch dort soll nur noch ein „Basisschutz“ gelten aus Abstand halten, Maske tragen und lüften. Damit entfällt die 3G-Regelung am Arbeitsplatz, die Bereitstellung von zwei kostenlosen Tests pro Woche für jeden Arbeiter und die Verpflichtung des Arbeitgebers, seinen Angestellten Home-Office Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Zahlreiche Regierungsvertreter begründeten das Ende der Schutzmaßnahmen mit dem angeblichen Ende der Pandemie. Die FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus bezeichnete es als „wichtigen Schritt in Richtung Normalität“. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte auf Twitter: „Bald [wird es] im Alltag so gut wie keine Einschränkungen mehr geben... Denn die Corona-Situation ist beherrschbar. Damit fällt die Begründung für viele schwerwiegende Maßnahmen weg.“
Besonders zynisch äußerte sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in der Debatte im Bundestag: „Als Epidemiologe hätte ich mir gewünscht, wir hätten mehr für diejenigen tun können, die jetzt im Risiko stehen. Aber wir müssen die rechtliche Lage beachten: Die rechtliche Lage ist die, wir können nicht weiter das gesamte Land unter Schutz stellen, um eine kleine Gruppe von Impfunwilligen und diejenigen, die nicht bereit sind, die Maßnahmen mitzutragen, zu schützen.“
Wen will Lauterbach für dumm verkaufen? Die „rechtliche Lage“ zur Beendigung der Maßnahmen hat die Ampel-Koalition selbst geschaffen. Bereits ihre erste Amtshandlung im November bestand darin, die „epidemische Notlage“ auslaufen zu lassen. Wenn Lauterbach und andere Regierungsvertreter jetzt das Ende der Maßnahmen mit der Begründung rechtfertigen, die Situation sei „beherrschbar“ und nur „eine kleine Gruppe von Impfunwilligen“ sei bedroht, ist das schlicht gelogen.
Auch die Zahl der Ungeimpften ist nicht „klein“, sondern umfasst beinahe 20 Millionen. Davon sind die meisten nicht „impfunwillig“, sondern wurden von der völlig unzureichenden Impfkampagne schlicht nicht erreicht. Unter den Ungeimpften sind auch Millionen Kinder unter fünf Jahren, für die es nach wie vor keine offizielle Impfmöglichkeit gibt.
Zudem ist bekannt, dass die Impfung – so wichtig sie ist – lediglich die Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs verringert, ihn aber nicht immer verhindert. Da das Virus jedoch nicht einzelne Menschen infiziert, sondern darauf ausgerichtet ist, Massen von Menschen zu infizieren, wird es auch bei einer verringerten Wahrscheinlichkeit noch sehr viele schwere Verläufe und Todesfälle geben.
Dem Virus freien Lauf zu lassen, führt zudem zur Entstehung Impfstoff-resistenter Mutanten, die den Impfschutz immer weiter umgehen. Das Auftreten der Omikron-Variante und ihrer Sublinie BA.2 zeigt dies. Die Regierung ist sich der mörderischen Folgen ihrer Politik absolut bewusst. Es werde „so sein, dass es an vielen Stellen zu genau dieser Überlastung [der Kliniken] kommen wird“, prognostizierte Lauterbach in seiner Rede im Bundestag.
Bereits jetzt erreichen die Infektionszahlen täglich neue Rekordwerte. Laut Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Freitag infizierten sich innerhalb eines Tages 297.845 Menschen neu mit dem Virus. Das sind 45.000 Fälle mehr als vor einer Woche. Die bundesweite Inzidenz stieg zum Vortag um 55 an und liegt jetzt bei 1706. Beides sind die höchsten Werte seit Pandemiebeginn. Allein seit Beginn der Woche wurden schon 1,1 Millionen neue Infektionen registriert.
Im ganzen Land ist das Pandemiegeschehen dramatisch. Insgesamt 390 von 411 Kreisen haben eine Inzidenz von über 1000. In 158 Kreisen liegt die Inzidenz über 2000 und in acht Landkreisen sogar über 3000. Da die Testkapazitäten und Gesundheitsämter jedoch vielerorts am Limit sind und Kontakte im Wesentlichen nicht mehr nachverfolgt werden, muss von einer hohen Zahl nicht erfasster Fälle ausgegangen werden.
Auch die Zahl der schweren Verläufe steigt stark an. Allein am Freitag wurden 2097 Menschen hospitalisiert. Die adjustierte Hospitalisierungsinzidenz liegt aktuell bei fast 15, was 12.000 Hospitalisierungen pro Woche entspricht. 294 Menschen mussten innerhalb eines Tages neu in die Intensivstation eingeliefert werden, womit aktuell rund 2300 Corona-Patienten auf der Intensivstation behandelt werden. Der Anteil freier Intensivbetten liegt im Bundesdurchschnitt bereits um die 10-Prozent-Marke, die als Grenzlinie für die Reaktionsfähigkeit der Kliniken gilt.
Besonders erschreckend ist die Zahl der Todesfälle. Jeden Tag sterben zwischen 200 und 300 Menschen. Allein am Donnerstag waren es 278, am Freitag 226. Entgegen dem Narrativ der Regierungen trifft es nicht nur alte Menschen. Seit Beginn der Pandemie sind 57 Kinder und Jugendliche zwischen 0 und 19 Jahren gestorben. Aktuell kommt jede Woche mindestens ein Kind hinzu. Genauere Angaben gibt das Robert-Koch-Institut (RKI) aus Datenschutzgründen dazu nicht bekannt.
Die Durchseuchung der Schulen befeuert die Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen immer weiter. Die Altersgruppen der 5- bis 14-Jährigen und 15- bis 35-Jährigen weisen mit 3004 und 2475 die mit Abstand höchsten Inzidenzen auf. Seit etwa Februar kommt es im Schnitt zu 220 Ausbrüchen an Kindergärten pro Woche. Für die letzten vier Wochen wurden 649 Ausbrüche übermittelt. Auch an Schulen kam es in den letzten vier Wochen zu 426 Ausbrüchen. Und in beiden Fällen stehen Nachmeldungen für die letzten beiden Wochen noch aus.
Besonders tödlich ist die hohe Zahl von Ausbrüchen in medizinischen Behandlungseinrichtungen und Alten- und Pflegeheimen. In Alten- und Pflegeheimen kam es in der vergangenen Woche zu 510 Ausbrüchen, in medizinischen Behandlungseinrichtungen zu 196 – das sind 23 mehr als in der Vorwoche. Die aktuell steigende Zahl der Hospitalisierungen, sowie die Ausbreitung der Omikron-Subvariante BA.2 – nach Studie die bislang gefährlichste Covid-Variante – werden die Todeszahlen weiter in die Höhe treiben. Insgesamt sind in Deutschland bereits mehr als 126.000 Menschen an Covid-19 gestorben.
Die große Mehrheit erachtet die Beendigung der Maßnahmen als schieren Wahnsinn und lehnt sie ab. Laut einer Civey-Umfrage für den Spiegel sind 65 Prozent der Bevölkerung für eine Verlängerung der Corona-Maßnahmen auch über den 20. März hinaus. 60 Prozent befürworten eine allgemeine Impfpflicht. Doch die herrschende Klasse treibt die Durchseuchungspolitik auf die Spitze. Dies hat objektive Gründe.
Der erste Faktor, der sich durch die gesamte Pandemiepolitik der herrschenden Klasse zieht, ist die Maxime „Profite vor Leben“. Gerade angesichts der wachsenden Wirtschaftskrise und der sich entwickelnden Opposition in der Arbeiterklasse darf nichts die Produktion – und damit die kapitalistische Profitmaximierung – unterbrechen. Die wissenschaftlich notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – allen voran die Schließung von Schulen und nicht lebensnotwendiger Betriebe – sind inakzeptabel.
Ein weiterer Faktor hinter der mörderischen Durchseuchungspolitik ist die Kriegspolitik. Den von der Nato systematisch provozierten Angriff Russlands auf die Ukraine nutzt die Bundesregierung, um ihre eigenen Aufrüstungs- und Kriegspläne voranzutreiben. Deutschland übernimmt zunehmend eine führende Rolle in der Nato-Kriegsoffensive gegen Russland und verlegt immer mehr Soldaten und Kriegsgerät nach Osteuropa. Am Mittwoch beschloss das Kabinett das „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden und damit die größte Aufrüstung seit Hitler.
Krieg und Aufrüstung gehen Hand in Hand mit der Kapitulation vor der Pandemie. Wolfgang Ischinger, der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, brachte dies in seiner Eröffnungsrede auf der diesjährigen Konferenz mit der Aussage auf den Punkt: „Wir können Weltpolitik nicht einfach verschieben. Sicherheitsanforderungen halten sich nicht an Abstandsregeln.“
Sowohl die Kriegsoffensive als auch die offizielle Pandemie-Politik werden die soziale und politische Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen weiter befeuern. Diese braucht eine klare antikapitalistische Perspektive. Der Kampf gegen die Pandemie erfordert genauso wie der Kampf gegen Krieg und Armut die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.
Mehr lesen
- China versucht mit aller Kraft die Verbreitung von BA.2 zu stoppen
- Zwei Jahre nach Einstufung von Covid als Pandemie: Omikron-Subvariante BA.2 lässt Fallzahlen erneut ansteigen
- Trotz BA.2-Welle: Bundesregierung beendet Corona-Maßnahmen
- Studien warnen: Omikron BA.2 ist die bislang gefährlichste Covid-Variante
- Omikron BA.2-Subvariante führt zu neuem Anstieg der Pandemie