Merkel: Minsk-Abkommen diente dazu, Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen

Laut Angela Merkel diente das Abkommen von Minsk dazu, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine aufzurüsten. „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben,“ sagte die frühere deutsche Bundekanzlerin der Wochenzeitung Die Zeit. „Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“

Bundeskanzlerin Merkel und der ukrainische Präsident Selenskyj am 22. August 2021 in Kiew [Photo by www.president.gov.ua / CC BY-ND 4.0]

Merkel (CDU) hat sich kaum öffentlich geäußert, seit sie vor einem Jahr nach sechzehnjähriger Amtszeit von Olaf Scholz (SPD) als Bundeskanzlerin abgelöst wurde. Das ausführliche Interview, das Die Zeit am 7. Dezember veröffentlichte, bildete eine seltene Ausnahme.

Hinter den Kulissen ist Merkel aber weiterhin politisch aktiv. In ihrem Büro, das ihr als ehemalige Bundeskanzlerin zusteht, beschäftigt sie neun Mitarbeiter, vier mehr als zugelassen – einen Büroleiter, einen stellvertretenden Leiter, zwei Referentinnen, drei Sachbearbeiter und zwei Fahrer. Mit Olaf Scholz hält sie, wie dieser selbst berichtete, regelmäßigen Kontakt. Sie hatte bereits ein gutes Verhältnis zu ihm gepflegt, als er noch Finanzminister in ihrer Regierung war.

Umso bemerkenswerter ist ihr Eingeständnis, dass das Minsk-Abkommen dazu diente, Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen. „Es war uns allen klar, dass das ein eingefrorener Konflikt war, dass das Problem nicht gelöst war, aber genau das hat der Ukraine wertvolle Zeit gegeben,“ sagte Merkel der Zeit.

Bisher war das Minsk-Abkommen, das Merkel gemeinsam mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande, dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vereinbart hatte, als Bemühen um Frieden dargestellt worden, das der russische Präsident angeblich später durchkreuzt habe.

Nun bestätigt Merkel, dass die Nato von Anfang an Krieg wollte, aber Zeit für die militärische Vorbereitung brauchte – eine Einschätzung, die die WSWS seit langem vertritt.

Die USA verfolgen seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 das Ziel, „einzige Weltmacht“ zu bleiben. Sie haben dafür zahlreiche verbrecherische Kriege geführt und die Nato nach Osteuropa ausgedehnt. Nun wollen sie auch die Ukraine, Georgien und andere ehemalige Sowjetrepubliken in die Nato integrieren und Russland unterwerfen, um seine Ressourcen zu plündern und China zu isolieren.

Die deutsche Regierung nutzt den Ukrainekrieg, um ihren Anspruch durchzusetzen, europäische Führungsmacht und militärische Großmacht zu werden. Merkels dritte Regierung, eine Große Koalition von CDU/CSU und SPD, hatte 2013 dieses Ziel ins Zentrum ihres Regierungsprogramms gestellt. Sie knüpfte damit außenpolitisch an die Großmachtpläne des Kaiserreichs und des Nazi-Regimes an.

„Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen,“ hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), der heutige Bundespräsident, damals auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt. Deutschland sei „zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“.

Nur zwei Monate nach dem Antritt der Regierung Merkel III organisierten die USA und Deutschland im Februar 2014 einen Putsch in der Ukraine, der mithilfe faschistischer Milizen einem Pro-Nato-Regime an die Macht verhalf. Washington und Berlin hatten allerdings ein Problem. Die dominierende Rolle, die rechte Nationalisten, Verehrer des Nazi-Kollaborateurs Bandera und faschistische Milizen im neuen Regime spielten, spaltete das Land. Vor allem im mehrheitlich russischsprachigen Osten stieß die Aussicht, von ukrainischen Ultranationalisten regiert zu werden, auf Entsetzen.

Russland, das um den Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte in Sewastopol fürchtete, annektierte mithilfe einer Volksabstimmung die Krim. Im ostukrainischen Donezk und Luhansk riefen von Russland unterstützte Separatisten selbständige Republiken aus.

Die neuen Machthaber in Kiew konnten das nicht verhindern. Die ukrainische Armee war auseinandergebrochen. Soldaten, die nicht bereit waren, sich für das neue Regime aufzuopfern, waren massenhaft desertiert.

Unter diesen Umständen organisierten Merkel und Hollande das Abkommen von Minsk, um – wie Merkel nun zugibt – den Konflikt einzufrieren und Zeit zu gewinnen. Das Abkommen umfasste einen Waffenstillstand, den Abzug schwerer Waffen und die Einrichtung einer Sicherheitszone, überwacht von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Die ukrainische Regierung verpflichtete sich, die Verfassung zu ändern, um einen Sonderstatus für Donezk und Luhansk zu ermöglichen und ihnen mehr Selbständigkeit zu gewähren.

Kaum etwas davon wurde jemals umgesetzt. Vor allem die ukrainische Seite boykottierte alle Vereinbarungen. Sie wollte keine Verhandlungslösung. Mangels kampfbereiter Soldaten mobilisierte der neue Präsident Petro Poroschenko das Asow-Bataillon und andere faschistische Milizen, die der milliardenschwere Oligarch teilweise aus eigenem Vermögen finanzierte. Sie wurden in die Streitkräfte integriert und in die abtrünnigen Regionen geschickt, um die lokale Bevölkerung zu terrorisieren und den Konflikt in Gang zu halten.

Das Regime in Kiew – sei es unter Poroschenko oder seinem Nachfolger Selenskyj – und seine Hintermänner in Berlin und Washington waren nie an einer friedlichen Lösung interessiert. Ihnen ging es darum, Zeit zu gewinnen, um den Krieg zu eskalieren – auch wenn das für die Bevölkerung der betroffenen Gebiete katastrophale Folgen hatte.

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die der deutschen Regierung nahesteht und keinerlei Sympathien für Russland hegt, veröffentlichte im Februar 2019 – also drei Jahre vor Ausbruch des jetzigen Kriegs – ein Papier „Der Donbas-Konflikt“. Es zeichnet ein verheerendes Bild. Es macht deutlich, dass es dem Regime in Kiew beim Donbas-Konflikt stets um geopolitische Ziele ging – die Anbindung an die Nato, die Isolation Russlands – und dass es das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung rücksichtslos diesen Zielen opfert.

„Der Kyiwer Diskurs über den Donbas-Krieg konzentriert sich fast ausschließlich auf die geopolitische Ebene und das Verhältnis zu Russland,“ heißt es in dem Papier. Das Fehlen einer „lokalen Konfliktebene“ in dieser Sichtweise habe „schwerwiegende Folgen für die Wahrnehmung der betroffenen Zivilbevölkerung“, die in Kiew „als rückwärtsgewandt, sowjetisch geprägt, un­produktiv und autoritär wahrgenommen“ werde. In den Augen der meisten Gesprächspartner „könne es im Donbas nicht um ‚Versöhnung‘ (reconciliation) zwischen einzelnen ethnischen oder gesellschaftlichen Gruppierungen gehen“. Friedensbildung sei „aus Sicht Kyiws erst möglich, wenn die Gebiete befreit, also wieder voll­stän­dig unter ukrainischer Kontrolle“ seien.

Das SWP-Papier gibt auch unumwunden zu, dass faschistische Kräfte in der ukrainischen Politik eine zentrale Rolle spielen: „Auch wenn rechte und rechts­extreme Parteien bei den Wahlen seit 2014 keine nennens­werten Erfolge erzielen konnten, hat natio­nalistisches Gedankengut in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den Konflikt im Osten (wie auch bei anderen Themen) erheblichen Einfluss. Es gelingt nationalistischen Akteuren immer wieder, die poli­tische Führung zur Anpassung ihrer Politik zu zwingen.“

Das SWP-Papier geht auch auf die verheerenden humanen und sozialen Kosten des Kriegs in der Ostukraine ein. So lag der „Anteil der Menschen ohne Zugang zu ausgewogener Ernährung“ 2017 in den Volksrepubliken bei 86 und in den von Kiew kontrollierten Gebieten bei 55 Prozent. Seit 2014 wurden mehrere Zehntausend Wohnhäuser beschädigt und zerstört. Laut OSZE beschossen beide Seiten – insbesondere die Ukrainischen Streitkräfte – gezielt zivile Objekte.

Dem Regime in Kiew sei dies egal. „Nicht wenige Politikerinnen und Politiker in Kyiw betrachten den Donbas als unnötige wirtschaftliche Belastung und seine Bevölkerung als rückwärtsgewandt und politisch unzuverlässig. Entsprechend gering ist ihre Bereitschaft, sich dafür einzusetzen, dass die humanitäre Not in den vom Konflikt betroffenen Gebieten gelindert wird,“ heißt es im SWP-Papier.

Die „wertvolle Zeit“ (Merkel), die durch diesen Terror gewonnen wurde, nutzte die Nato, um die Ukrainischen Streitkräfte neu aufzubauen, bis an die Zähne zu bewaffnen und auszubilden. So hat die britische Armee laut einem Bericht des Unterhauses seit 2014 ukrainische Soldaten trainiert und ausgerüstet. Die Ukraine wurde zwar nicht formell, aber praktisch Teil der Nato.

Die Entscheidung Russlands, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen, war die voraussehbare – und gewollte – Reaktion auf diese Offensive der Nato. Das macht sie nicht weniger reaktionär. Das Putin-Regime vertritt die Interessen der russischen Oligarchen, die das gesellschaftliche Eigentum der Sowjetunion geplündert haben und auf Kriegsfuß mit der russischen Arbeiterklasse stehen.

Doch die Behauptung, der Krieg sei von Russland ausgelöst worden, das in den Garten Eden der westlichen Demokratie eingebrochen sei, ist eine Lüge. Die Hauptverantwortung tragen die Nato-Mächte, die den Krieg gewollt und gezielt provoziert haben.

Seit Beginn des Kriegs überfluten sie die Ukraine mit modernsten Waffen. Sie leisten logistische Unterstützung, legen Angriffsziele fest, lenken die Kampfhandlungen und operieren heimlich mit eigenen Elitetruppen in der Ukraine. Jeden Ansatz zu einer Verhandlungslösung ersticken sie im Keim. In Wirklichkeit führt die Nato längst einen Krieg gegen die Atommacht Russland und riskiert damit die nukleare Vernichtung der Menschheit.

Diese Gefahr kann nur eine internationale Bewegung der internationalen Arbeiterklasse verhindern, die den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursache, den Kapitalismus verbindet. Die Sozialistische Gleichheitspartei und das Internationale Komitee der Vierten Internationale bauen eine solche Bewegung auf und bewaffnen sie mit einer sozialistischen Perspektive.

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