„Es ist wichtig, die Streikenden zu unterstützen und nicht den Apparat!“

Lokführer fordern Ausweitung des Streiks

Am Freitag sprachen WSWS-Reporter mit streikenden Lokführern im Fernverkehr der Deutschen Bahn (DB) und bei der Berliner S-Bahn. Während die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) bereits von früheren Forderungen abgerückt ist und eine breitere Mobilisierung verhindern will, fordern Arbeiter an der Basis genau eine solche Ausweitung des politischen Kampfes.

Der Streik der Lokführer findet inmitten von Warnstreiks im Verkehrssektor, einem internationalen Aufstand der Landwirte und den Massenprotesten gegen Faschismus und Krieg statt. Die Missstände, gegen die er sich richtet – Reallohnsenkungen, Arbeitsplatzvernichtung, unerträgliche Arbeitsbedingungen und Sozialabbau – betreffen alle Arbeiter. Die WSWS ruft deshalb alle Arbeiterinnen und Arbeiter dazu auf, den Streik zu unterstützen und Aktionskomitees aufzubauen, um ihn auf ihre Betriebe auszuweiten.

Mehrere Lokführer schilderten den WSWS-Reportern ihre Arbeitsbedingungen, und einige riefen ausdrücklich zu einer breiten Mobilisierung gegen die rechte Politik der Ampel-Regierung auf.

Pierre (links) mit Kollegen

„Wir brauchen kürzere Arbeitszeiten“, sagt Pierre, der seine Ausbildung bei DB vor drei Jahren abgeschlossen hat. „Ich habe normalerweise eine Fünf- oder Sechs-Tage-Woche mit Schichten von bis zu zehn Stunden, bei Tagdienst auch zwölf Stunden. Manchmal hat man auf der einen Seite der Stadt Feierabend und muss zusehen, wie man mitten in der Nacht auf die andere Seite der Stadt kommt. Das alles kostet zusätzliche Zeit und ist eine enorme Belastung.

Man muss seinen Schlafrhythmus an den Schichtplan anpassen“, fährt er fort. „Zu Zeiten, an denen alle anderen frei haben, muss man entweder schlafen oder arbeiten. Die Arbeitszeiten sind bei uns im Personenverkehr genauso anstrengend wie im Güterverkehr. Wir bräuchten bestimmt 20 Prozent mehr Personal, damit die Uhrzeiten so geplant werden können, wie es nötig ist, und die Kollegen, die es brauchen, in den Urlaub gehen können.“

Pierre erklärt, dass die Bahnmisere mit der Absicht der Regierung vor 25 Jahren, die Bahn an die Börse zu bringen, zusammenhängt. Er sagt: „Das war eine politische Entscheidung. Die Folgen für Personal, Fahrgäste und Infrastruktur sehen wir heute, das ist für uns krachend gescheitert. Die Infrastruktur gehört in Staatshand und sollte auch von ihr verwaltet werden.“ Der Vorstand habe kein Verständnis für die Beschäftigten: „Im Vorstand müssten eigentlich Leute sitzen, die selbst in diesem System jahrelang gearbeitet haben und verstehen, was die Belegschaft draußen – Zugbegleiter, Lokführer, Bordgastronomen, Leute in der Werkstatt – leistet und braucht. Die heutige Führungsriege ist für uns da unten aber gar nicht erreichbar.“

Von der einseitigen Berichterstattung der Medien ist Pierre abgestoßen: „Wenn wir streiken, heißt es in den Medien: Wir nehmen die Leute in Geiselhaft.“ Er fordert: „Wir sind auf die Solidarität in der Gesellschaft angewiesen. Alle Arbeiter und ‚Mittelständler‘ sollten zusammenhalten. Politische Generalstreiks sind leider in Deutschland nicht erlaubt. Sonst wäre das mit uns, der BVG, den Spediteuren und den Bauernprotesten schon möglich. Dann würde das Land für einige Tage zum Stillstand kommen, und das wäre auch das richtige Zeichen, das man eigentlich setzen muss. Wenn es nicht verboten wäre, würden noch ganz andere Branchen mit einsteigen. Man kann sich das Leben wegen der Inflation und der hohen Steuern nicht mehr leisten, wie es vor ein paar Jahren noch war.“

Gruppenfoto junger Eisenbahner im Streik, Berliner Ostbahnhof, 26. Januar 2024

Michael (40) sagt: „Ich habe laut Vertrag eine 39-Stunden-Woche, aber teilweise arbeite ich 60 bis 65 Stunden in der Woche. An dem einen freien Tag, den du hast, schläfst du dich aus, wäschst deine Wäsche, und dann geht die neue Woche los. Die Politik spricht von Verkehrswende, aber der Nachwuchs wird knapp, und wir fahren auf Schienen aus der Kaiserzeit. Wenn solche ‚Basics‘ nicht stimmen, kann man die Verkehrswende vergessen. Man baut doch auch kein Haus auf Treibsand. Verkehrswende 2100 wäre realistisch. Was die Bahn uns eventuell als Lohnerhöhung gibt, frisst die Inflation wieder auf.“

Michael verweist auf eklatante politische Widersprüche: „Der Bund ist Eigentümer der Bahn. Aber offenbar ist es politisch nicht gewollt, dass Transport vom Auto auf die Schiene verlagert wird. Es werden keine Trassen gebaut, und wir haben schlechtere Arbeitsbedingungen als früher. Kühlungsausfälle, Keime im Wassertank, keine Techniker mehr an Bord. Die Strecke Hamburg-Berlin wurde früher einmal mit der Dampflok in 90 Minuten zurückgelegt. Heute brauchen wir für die Strecke über zwei Stunden. Vor knapp sieben Jahren wurde der ICE-4, das ‚Flaggschiff der deutschen Bahn‘, auf die Schiene gebracht, und heute schon sind die ersten kaputt.“

Eine Zugbegleiterin ergänzt, wie sie die Misere miterlebt: „Wenn Fahrgäste ihre Zigaretten nicht richtig ausdrücken, können Brände entstehen. Manchmal gibt es Messerstechereien. Früher waren wir zu viert, heute müssen zum Teil ein Zugchef und ein Zugbegleiter auf 14 Wagen aufpassen. Das geht nicht, die Sicherheit ist nicht vorhanden. Ich bin drei Monate lang in keiner Woche auf die 39 Stunden heruntergekommen. 55 oder 52 Wochenstunden sind völlig normal. Es geht nicht einfach nur um mehr Geld, sondern um unsere Arbeitsbedingungen. Viele haben Familie und Kinder, wir sind aber zwei bis drei Nächte in der Woche nicht zuhause.“

Michael fügt hinzu: „Im Winter fahren wir zwar weniger, aber am Ende des Jahres kommt man trotzdem schnell auf 300 Überstunden. Die Work-Life-Balance, mit der die Bahn wirbt, haben wir nicht. Ich hatte in den letzten sieben Jahren kein Privatleben.“

Uwe (Mitte links) mit Kollegen vor dem Streiklokal

Uwe ist Lokführer bei der Berliner S-Bahn, hat zwei Kinder und ist Mitglied der GDL. Er unterstützt den Vorschlag der WSWS, die Arbeiterklasse zur Unterstützung der Lokführer zu mobilisieren und die Spaltung entlang der Gewerkschaftszugehörigkeit zu durchbrechen. Uwe sagt:

„Es ist wichtig, die Streikenden zu unterstützen und nicht den Apparat. Die Leute hier nehmen aus unterschiedlichen Gründen am Streik teil. Es ist nicht unbedingt die angebliche ‚35-Stunden-Woche‘ der GDL (die mit zwölf Tagen Urlaub erkauft wird), sondern es sind die Arbeitsbedingungen, die Schichtfolgen und Schichtinhalte. Solche Dinge drücken mehr als manche Forderungen, die die GDL auf die Tagesordnung setzt.

Eine Pause von 48 Stunden nach fünf Schichten [wie die GDL fordert] ist nicht dasselbe wie ein freies Wochenende von Freitagabend bis Montagmorgen. Aber für uns Lokführer wäre selbst dies sehr wichtig. Jede Ruhephase ist enorm wichtig. Heute sind sogar die Aufsichten auf den Bahnhöfen weggefallen, und die Zugabfertigung und Schadensmeldungen macht heute der Lokführer. Viele Steh- und Ruhezeiten wurden gestrichen, da bleibt uns nicht einmal mehr Zeit für eine Zigarette. Viele Quereinsteiger – wir haben ehemalige Ingenieure, Piloten, Friseure – halten den Arbeitsdruck nicht aus und flüchten wieder aus dem Beruf. Die ‚Alten‘ halten den Druck aus, weil er schleichend gestiegen ist. Aber das geht auf die Gesundheit.

Solche Themen wären eigentlich Aufgabe der Gewerkschaft. Deshalb unterscheide ich zwischen Streikenden und dem Apparat. Heute hat mir ein Kollege ein Foto gezeigt, auf dem sich Klaus Weselsky freundlich mit dem verkehrspolitischen Sprecher der AfD unterhält. Das passt, und man könnte sogar sagen: Die GDL ist die AfD unter den Gewerkschaften. Sie spricht von Solidarität, aber solidarisiert sich nicht mit den EVGlern. Sie spricht von Solidarität, solidarisiert sich aber auch nicht mit streikenden Pflegekräften. Sie spricht von Solidarität, aber meint damit letztendlich nur sich selbst und den dbb [Deutscher Beamtenbund], der die Streikgelder bereitstellt. In den Streiklokalen findet auch keine Diskussion über Streikentscheidungen und Strategie statt.

Die GDL spricht populistisch gegen den Bahnvorstand, stellt aber das System und die Ursachen dahinter nicht in Frage. Weselsky bezeichnet die Privatisierung der Bahn nicht als gescheitert. Mit ‚Fairtrain‘ hat die GDL genau die Auffanggesellschaft geschaffen, mit der die Bahn den Güterverkehr aufgeben und privatisieren kann. Ein solcher Schritt muss doch vorher demokratisch diskutiert werden.“

Uwe hat bereits ein Netzwerk von Bahn-Kollegen gebildet, das die Spaltung der Arbeiter entlang ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit durchbrechen soll. Er fährt fort:

„Warum finden keine Solidaritätsstreiks der GDL zusammen mit anderen privatisierten Verkehrsunternehmen statt? Viele EVGler solidarisieren sich mit uns, nicht jedoch der Vorstand der EVG. Als Arbeiter verstehe ich diese Spaltung nicht. Wir müssen das kritisieren und Perspektiven schaffen, wie das funktionieren kann. Wir müssen die Gewerkschaftszugehörigkeit zurückstellen: Als Allererstes sind wir Lohnabhängige. Wir müssen die Situation für uns als Arbeiter allgemein verbessern. Das betrifft auch die Leute in den DB-Büros.“

Uwe weist auch auf die Notwendigkeit hin, dass Arbeiter sich politisch engagieren und den Kampf gegen die Kriegspolitik der Regierung aufnehmen:

„Wir haben in unserer Ortsgruppe letztes Jahr den Beschluss gefasst, dass alle Eisenbahner das tarifliche Recht haben, Militär- und Munitionstransporte zu verweigern. Die Beschäftigten wollen keine Kriege unterstützen, mit denen Kapitalinteressen verfolgt werden. Es wird auch Kämpfe geben, die sich gegen Kapitalinteressen richten, aber die jetzigen Kriege sind Kriege des Kapitals. Warum wird das hier nicht thematisiert?

Deswegen solidarisiere ich mich mit den Streikenden und nicht mit dem Apparat. Ich möchte keine ‚sozialpartnerschaftliche‘ Gewerkschaft haben, denn da kann es keine Partnerschaft geben. Die Interessen der Arbeiter sind nun einmal andere. Wenn es eine Partnerschaft mit dem Unternehmen gibt, dann gibt es keine Vertretung der Arbeitnehmer und ihrer Rechte – das schließt sich gegenseitig aus.

Jeder hat Gründe, am Streik teilzunehmen, aber die Identifikation mit dem Apparat schwindet immer mehr. Das ist auch in anderen Branchen so. Es müssen Perspektiven geschaffen werden, wie wir als Beschäftigte es schaffen, zusammenzukommen, unsere Forderungen aufzustellen und zu streiken.“

Die Gewerkschaftsbürokratien versuchen, eine breitere Diskussion über die Kampfperspektiven zu verhindern, und schrecken dabei auch vor Zensur nicht zurück. So versuchte die GDL am Donnerstag in Nürnberg, die Flyer der World Socialist Web Site mit dem Aufruf: „Unterstützt den Streik der Lokführer“ zu verbieten oder zu beschlagnahmen.

Das nächste Online-Treffen des Bahn-Aktionskomitees findet am Dienstag, den 30. Januar um 19 Uhr statt. Nehmt daran teil und ladet eure Freunde und Kollegen ein! Meldet Euch bei uns, um den Aufbau eines Aktionskomitees anzugehen. Schreibt dazu eine Whatsapp-Nachricht an +491633378340 oder registriert Euch unterhalb dieses Artikel.

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