WSWS-Chronologie

Das Jahr im Rückblick: 2000

Menschen in aller Welt begrüßten den Naujahrstag 2000 in der Hoffnung, dass das neue Millennium eine bessere Welt bringen werde. Eine Welt mit weniger Gewalt und Armut. Die herrschenden Klassen hingegen verkündeten, dass soziale Aufstände und Revolutionen der Vergangenheit angehörten und dass in der nächsten Periode der Kapitalismus triumphieren werde.

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Die gestohlene Wahl in Amerika

Die World Socialist Web Site wies auf die wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Spaltungen innerhalb des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten und der Welt hin. Wir betonten, dass durch die weltweite finanzielle Instabilität und die wachsenden Konflikte zwischen rivalisierenden Nationalstaaten eine neue Periode der Kriege und der politischen Unruhen begonnen habe.

Im Laufe des Jahres bestätigte sich diese Einschätzung: Zuerst mit dem Platzen der Dotcom-Blase auf dem Aktienmarkt, danach mit der größten politischen Krise in Amerika seit mehr als einem Jahrhundert – der Präsidentschaftswahl 2000. Das Ergebnis der Wahl war auch mehr als einen Monat nach Stimmabgabe noch unklar, zuletzt schritt der Oberste Gerichtshof ein, um die Auszählung der Stimmen in Florida anzuhalten und den Wahlsieg in diesem Bundesstaat, und damit die Präsidentschaft, George W. Bush zuzusprechen.

Die WSWS stellte sich zwar unnachgiebig gegen die Demokraten und gegen die Republikaner, die beiden Parteien des Großkapitals, erklärte aber, dass der erbitterte Kampf in Florida eine entscheidende Bedeutung für die Arbeiterklasse habe, da sich an ihm der Bruch aller Teile der herrschenden Klasse Amerikas mit demokratischen Normen zeige.

Die WSWS hatte ihre Aufmerksamkeit schon mit Beginn des Wahlkampfes auf die wachsende soziale Ungleichheit und die riesige Kluft zwischen der arbeitenden Bevölkerung und den Politikern beider Parteien konzentriert.

Der demokratische Kandidat Al Gore, Clintons Vizepräsident, hatte sich geweigert, an die Feindschaft der Bevölkerung gegen die rechte Verschwörung zu appellieren, die versucht hatte, Clinton abzusetzen. Er ging sogar so weit, Clintons stärksten öffentlichen Kritiker aus der Demokratischen Partei, Senator Joseph Lieberman aus Connecticut, zum Vizepräsidentschaftskandidaten zu machen.

Während rivalisierende Fraktionen der Wirtschaftselite entweder Gore oder seinen republikanischen Gegner George W. Bush, Gouverneur von Texas und Sohn des ehemaligen Präsidenten, unterstützten, waren die Arbeiter weitgehend vom Wahlprozess ausgeschlossen und entfremdet. Gore versuchte erst in letzter Minute einen populistischen Appell, als klar wurde, dass er sonst gegen Bush verlieren würde, der sich als gemäßigter und „mitfühlender Konservativer“ inszenierte. Damit konnte er seinen Rückstand in den Umfragen aufholen und einen knappen Sieg erzielen. [Eine wichtige Analyse von Gores Wahlkampf erklärte ihn vor dem Hintergrund der historischen Krise des amerikanischen Liberalismus.]

Die Socialist Equality Party veröffentlichte vom 3. bis zum 5. Oktober eine dreiteilige Stellungnahme, in der sie die politischen Fragen analysierte, vor denen die Arbeiterklasse stand. Die SEP rief die Arbeiter auf, beide Kandidaten und auch Ralph Nader, den Kandidaten der Grünen, abzulehnen und sich am Kampf für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiterpartei mit einem sozialistischen Programm zu beteiligen.

Die Stellungnahme analysierte konkret die wachsenden Klassenwidersprüche in der amerikanischen Gesellschaft und erklärte: „Bei den US-Wahlen 2000 fällt besonders auf, dass die demokratische und die republikanische Partei offenbar zu ihrer eigenen Überraschung erkannt haben, dass die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung aus Arbeitern und Angestellten besteht, die wenig oder keinen Vorteil aus dem Börsenboom der letzten zehn Jahre gezogen haben.“

Einen Monat bevor die Krise nach der Wahl ausbrach, kam die Stellungnahme der SEP zu diesem weitsichtigen Schluss: „Ein Wahlkampf, der bereits viele Drehungen und Wendungen erlebt hat, mag leicht noch weitere Erschütterungen mit sich bringen. Aber wie er auch immer enden wird, der wichtigste Punkt lautet: keiner der bürgerlichen Kandidaten und keine der Parteien hat eine Lösung für die immer tiefere soziale Krise.“

Am Wahlabend, dem 7. November, wurde klar, dass Gore mehr Stimmen erhalten und vermutlich auch im Electoral College die Mehrheit haben werde, vorausgesetzt sein Vorsprung in Florida würde erhalten bleiben. Bushs Wahlkampfteam, die republikanisch dominierte Bundesstaatsregierung von Florida unter Bushs Bruder Jeb und der rechte Nachrichtensender Fox News, bei dem Bushs Cousin John Ellis für die Wahlkampfberichterstattung verantwortlich war, preschten entschlossen vor und erklärten, Bush habe in Florida gewonnen.

Damit begannen fünf Wochen beispielloser politischer Erschütterungen, während denen nicht klar war, wer Staatsoberhaupt der mächtigsten imperialistischen Nation wird. Die WSWS war durch ihre vorherige Analyse des Amtsenthebungsverfahrens gegen Clinton und der rechten Wahlkämpfe der Demokraten wie der Republikaner darauf vorbereitet, die Ereignisse zu analysieren und zu erklären.

Ein Leitartikel am 9. November mit dem Titel „Zum Ergebnis der US-Wahlen: Die Verfassungskrise wird tiefer“ gab den Ton vor:

„Die außergewöhnlichen Ereignisse der Wahlnacht haben das politische Leben der Vereinigten Staaten grundlegend und unwiderruflich verändert. Zum ersten Mal seit über 125 Jahren hat eine nationale Wahl zu einem umstrittenen Ergebnis geführt. Es besteht nicht nur eine Diskrepanz zwischen der Anzahl der Stimmen und der Anzahl der Wahlmänner für die jeweiligen Kandidaten. Über den Wahlbezirken Floridas, von denen der Sieg von Gouverneur George W. Bush abhängt, schwebt auch der Gestank des Wahlbetrugs.“

Die WSWS widmete ihre besondere Aufmerksamkeit von Anfang an dem verdächtigen Charakter der Ergebnisse in Florida. Reporter der WSWS reisten nach Florida und veröffentlichten vor Ort Berichte und Interviews mit Arbeitern, während sich die Krise entwickelte. Es wurde klar, dass die Republikaner eine Betrugs- und Einschüchterungskampagne gegen die Wähler geführt hatten. Unter anderem hatten sie am Wahltag in vorwiegend von Schwarzen bewohnten Gebieten Checkpoints und Straßensperren aufgestellt. Während der wichtigen Neuauszählung der Stimmen in Florida versuchten sie, die Auszählung gewaltsam zu stören.

Ein außergewöhnliches Ereignis folgte auf das nächste. Während in mehreren Verwaltungsbezirken noch Stimmen gezählt wurden, versuchte die republikanische Innenministerin von Florida, Katherine Harris, Bush zum Gewinner der Wahl zu erklären, allerdings hinderte sie das Oberste Bundesstaatsgericht von Florida daran, indem es zu Recht feststellte, dass dieses Vorgehen das grundlegendste Recht in einer Demokratie verletzen würde – das Recht zu wählen und jede Stimme zählen zu lassen.

Die Legislative des Bundesstaates, in der die Republikaner die Mehrheit hatten, erwog, die Wahl ganz für nichtig zu erklären und Bush durch Parlamentsbeschluss zum Gewinner zu erklären. Ermutigt wurden sie dabei von Äußerungen rechter Richter des Obersten Gerichtshofes, die erklärten, es gäbe in einer Präsidentschaftswahl kein Wahlrecht für das amerikanische Volk und die Bundesstaaten könnten handeln, wie sie wollen.

Das Ergebnis wurde schließlich durch das berüchtigte Urteil Bush vs. Gore des Obersten Gerichtshofes entschieden, in dem eine Mehrheit von fünf zu vier Richtern das Ende der Auszählung in Florida anordnete und erklärte, ihr Urteil könne nicht als Präzedenzfall für künftige Fälle genutzt werden. Das Gericht hatte eine Rechtstheorie zusammengezimmert, nur um das erwünschte Ergebnis zu erreichen: Bush ins Weiße Haus zu bringen.

Wenige Tage vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes hielt der internationale Chefredakteur der WSWS, David North, auf einem Treffen im australischen Sydney eine Rede über die weitreichende Bedeutung der Ereignisse in den Vereinigten Staaten:

„Die Entscheidung dieses Gerichts wird zeigen, wie weit die amerikanische herrschende Klasse bereit ist, mit traditionellen, bürgerlich demokratischen und verfassungsmäßigen Normen zu brechen. Ist sie bereit, Wahlfälschung zu sanktionieren, Stimmen zu unterdrücken und einen Kandidaten ins Weiße Haus zu bringen, der das Amt durch offensichtlich illegale und antidemokratische Methoden errungen hat?

Ein beträchtlicher Teil der Bourgeoisie und vielleicht sogar die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs ist bereit, genau das zu tun. Die Unterstützung für die traditionellen Formen bürgerlicher Demokratie in den Vereinigten Staaten hat in der herrschenden Elite einen dramatischen Erosionsprozess erlitten.“

Nach der Entscheidung des Gerichtshofes erschien eine Stellungnahme der WSWS-Redaktion. Sie erklärte, dass die Entscheidung, Florida das Wahlergebnis festlegen zu lassen, ohne dass die nachgezählten Stimmen berücksichtigt werden, einen „fundamentalen und nicht wiedergutzumachenden Bruch mit der Demokratie und den traditionellen Formen des bürgerlichen Rechtsstaates darstellt“.

„Indem sich der Oberste Gerichtshof in Misskredit gebracht hat, hat der Ruf aller Institutionen des bürgerlichen Staates Schaden genommen... Die Krise der Wahl im Jahr 2000 stellt einen neuen Scheidepunkt im Leben in Amerika und der Weltlage dar. Die sozialen Beziehungen der politischen Bedingungen werden nie mehr so sein wie vor dem 7. November.“

Wir verurteilten die Kapitulation von Gore und den Demokraten sowie dem ganzen liberalen Establishment vor der Intervention des Obersten Gerichtshofes. Barry Grey schrieb in einem Artikel mit dem Titel „Ein wichtiger Unterschied – George W. Bush: ein gewählter, oder ein ausgewählter Präsident“:

„Die ungebührliche Eile, mit der das ganze politische Establishment dabei ist, die Wahlkrise hinter sich zu bringen, zeigt, wie brüchig das politische System und wie tief die Krise der amerikanischen Gesellschaft ist. Letzten Endes hat die Sackgasse gezeigt, dass es innerhalb der herrschenden Elite keinen Rückhalt für einen demokratischen Ablauf der Präsidentschaftswahl gibt. Die Verteidigung demokratischer Rechte wird in Amerika zunehmend zu einer Frage der Massen werden. Sie ist die Aufgabe der Millionen von arbeitenden Menschen, die schon lange aus dem politischen Prozess ausgeschlossen sind, der von den beiden Parteien monopolisiert wurde, die von der Wirtschafts- und Finanzoligarchie kontrolliert werden.“

George W. Bush leistet den Amtseid
Offizieller Stimmzettel der Präsidentschaftswahl 2000 in Florida
Die weltweite Wirtschaftskrise verschärft sich

Im Lauf des Jahres 2000 entwickelte die WSWS angesichts der zunehmenden weltweiten Wirtschaftskrise ihre Arbeit zur politischen Ökonomie des Marxismus weiter. Das Platzen der Aktienblase in den Vereinigten Staaten, dessen Ursache die starke Überbewertung von Aktien aus dem Bereich der Internetwirtschaft war, gehörte zu den spektakulärsten Manifestationen der Krise, aber die Instabilität nahm insgesamt und weltweit zu.

Abgesehen vom explosiven Anwachsen des amerikanischen Handelsdefizits und der internationalen Verschuldung, gab es die Rezession in Japan, einen Wertverlust des Euro, die Schuldenkrise in Argentinien und wachsende internationale ökonomische Ungleichgewichte, die die zerstrittenen Führer der imperialistischen Großmächte weder lindern noch bewältigen konnten.

Diese Analyse wurde in Abgrenzung von den kleinbürgerlichen Linken entwickelt. In „Marxistischer Internationalismus gegen die Perspektive des radikalen Protestes“ befasste sich Nick Beams, der nationale Sekretär der australischen SEP, mit den Fragen, die die globalisierungskritischen Proteste in Seattle im Dezember 1999 aufgeworfen hatten, wo Zehntausende bei einem Treffen der Welthandelsorganisation demonstriert hatten. Im Juni veröffentlichte die WSWS Beams‘ Vortrag „Globalisierung: die sozialistische Perspektive“, der im gleichen Monat an mehreren australischen Universitäten gehalten wurde.

Eine Stellungnahme der Redaktion mit dem Titel „Die wichtigsten politischen Fragen im Kampf gegen den weltweiten Kapitalismus,“ die am 11. September an tausende Demonstranten gegen einen Gipfel des Weltwirtschaftsforums in Melbourne verteilt wurde, stellte eine wichtige Zusammenfassung der sozialistischen und internationalistischen Perspektive des IKVI dar:

„Die Globalisierung der Produktion auf Grundlage großer Fortschritte in Computertechnologie, Wissenschaft und Kommunikation ist eine historisch progressive Entwicklung mit dem Potenzial, ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit zu öffnen... Die zerstörerischen Folgen für die Gesellschaft, die bisher aufgetreten sind, haben ihre Ursache weder in der Globalisierung noch in der Technologie. Sie sind das Ergebnis der Unterordnung der Weltwirtschaft unter die kapitalistische Ordnung und ein veraltetes System rivalisierender kapitalistischer Nationalstaaten.“

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise ging einher mit einer gestiegenen Streikaktivität, vor allem in den Vereinigten Staaten, wo es zu großen und langen Streiks von Arbeitern des Museum of Modern Art in New York City, von Film- und Fernsehschauspielern, Telefonarbeitern von Verizon und städtischen Bediensteten und Verkehrsbeschäftigten in Los Angeles kam.

In Europa hatte eine Welle von Streiks und Blockaden von LKW-Fahrern und anderen Arbeitern und Kleinunternehmern, die von den Kraftstoffsteuern und den steigenden Benzin- und Dieselpreisen betroffen waren, große Auswirkungen, vor allem in Großbritannien und Frankreich.

Der Nasdaq während und nach der Dot.com Blase
Das Ende der „sozialen Marktwirtschaft“

In Deutschland führte die weltweite kapitalistische Krise zu ökonomischen Veränderungen und Angriffen auf die arbeitende Bevölkerung, wie sie beispiellos in der 55-jährigen Nachkriegsgeschichte des Landes waren.

Im Juli 2000 verabschiedete die Bundesregierung aus SPD und Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ihre zentrale Steuerreform. Der Spitzensteuersatz wurde massiv abgesenkt, die Körperschaftssteuer für Kapitalgesellschaften fast halbiert und auf einen Schlag die sogenannte Steuer auf Beteiligungsgewinne abgeschafft. Das Ergebnis war eine massive Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, die später mit der Agenda 2010 fortgeschrieben wurde. Gleichzeitig befeuerte die Deregulierung der Finanzmärkte die Entwicklung der Finanzspekulation und -manipulation, die weltweit ablief und im Jahre 2008 in dem Ausbruch der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise gipfelte.

Die WSWS machte es sich zur Aufgabe, die historische und gesellschaftliche Tragweite der Reform zu analysieren und betonte, dass die Politik von SPD und Grünen das Scheitern des Modells der sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck bringt und gleichzeitig eine tief greifende politische Zäsur einleitet. In einer Analyse hieß es:

„Vergleichbar mit historischen Wendepunkten wie dem Godesberger Parteitag, auf dem die SPD vor über vierzig Jahren ihre letzen Verbindungen zur Arbeiterbewegung kappte [...], oder der Zustimmung zum Kosovokrieg im vergangenen Jahr, der ersten deutschen Teilnahme an einem Angriffskriegs seit 1945, leitet die rot-grüne Steuerreform ein qualitativ neues Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung ein. Es handelt sich um nichts weniger als den endgültigen Abschied von der sozialen Marktwirtschaft.“

Die sozialen und politischen Erschütterungen blieben nicht auf Deutschland beschränkt. In ganz Europa schürten die herrschenden Eliten und ihre Parteien als Reaktion auf die Krise rassistische Vorurteile gegen Ausländer und mobilisierten die rückständigsten Schichten der Gesellschaft. In Österreich führte dies dazu, dass die ultrarechte Freiheitliche Partei (FPÖ) von Jörg Haider in eine Koalitionsregierung aufgenommen wurde. Damit kam zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine Partei an die Macht, die mit dem Nationalsozialismus in Verbindung stand.

Weltweite politische Verschiebungen

Zwar war die politische Krise in Amerika das wichtigste politische Ereignis, aber es gab im Jahr 2000 noch andere politische Umwälzungen: vor allem den Ausbruch der zweiten Intifada im israelisch besetzten Palästina und wichtige Veränderungen in der bürgerlichen Politik in Russland, Mexiko, Spanien, Österreich und Serbien und einen Militärputsch auf den Fidschi-Inseln.

Am Scheitern der Verhandlungen in Camp David zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation zeigte sich die Sackgasse des bürgerlichen Nationalismus: Die sieben Jahre langen Verhandlungen, die 1993 begonnen hatten, offenbarten den Bankrott der Perspektive der PLO. Sie hatte unter Vermittlung der Vereinigten Staaten versucht, der zionistischen Elite in Israel Zugeständnisse abzuhandeln.

Nach dem Scheitern der Gespräche inszenierte Ariel Scharon, der Vorsitzende der rechten Likud Partei, die damals in der Opposition gegen die Regierung von Ehud Barak stand, einen provokanten Besuch des Tempelberges, bei dem er schwer bewacht wurde. In den Palästinensergebieten im Westjordanland und im Gazastreifen brachen Unruhen aus, gegen die das israelische Militär mit seiner Übermacht vorging. Die Zahl der zivilen und der militärischen Toten wurde auf über 4000 geschätzt.

Eine Analyse der WSWS wies auf die unterschwelligen sozialen Spannungen in der palästinensischen Bevölkerung und auf das Versagen der Palästinensischen Autonomiebehörde hin, die von der PLO unter Arafat gegründeten worden und unfähig war, die Lage der Palästinenser nennenswert zu verbessern.

Die Verträge von Oslo und die darauffolgenden „Land für Frieden“- Abkommen mit Israel, haben der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung mitnichten Frieden und eine Verbesserung des Lebensstandards gebracht, sondern ihr Elend verschärft. 

Die Wirtschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde war immer noch völlig unter der Kontrolle Israels, der Lebensstandard war gesunken und die Arbeitslosigkeit war im Gaza-Streifen bei über 50 Prozent. Die Bedingungen, die nach Scharons Besuch herrschten und an Bürgerkriegszustände grenzten, konnten nicht ewig andauern. Die sozialen und politischen Spannungen hatten einen Durchbruchspunkt erreicht, und das zu einer Zeit in der die Position von Arafat und Barak stark beschädigt war.

Die WSWS konzentrierte einen bedeutenden Teil ihrer Aufmerksamkeit auf Russland und den Machtwechsel von Jelzin zu Putin Anfang 2000. Putin war erstmals in den turbulenten Jahren 1990-91, als Anhänger der radikalkapitalistischen „Marktreformer“ politisch aufgetreten. Die WSWS sagte voraus, dass Putin zu einem autoritären Herrscher werden und die Bürokratie der Geheimpolizei mit der aufstrebenden Finanzoligarchie kombinieren werde.

In Spanien gewann im März die rechte Volkspartei (PP) von Jose Maria Aznar eine absolute Mehrheit bei den Wahlen, die weit über die Prognosen vor der Wahl hinausging. Die PP bildete ihre erste Mehrheitsregierung seit dem Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1976.

In Serbien wurde der langjährige Präsident Slobodan Milosevic gestürzt, nachdem die imperialistischen Mächte seit dem Nato-Krieg gegen den Kosovo und Serbien im Jahr 1999 eine Kampagne gegen ihn geführt hatten.

In Mexiko endete die 71-jährige Herrschaft der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) mit dem Sieg von Vicente Fox, von der Partei der Nationalen Aktion (PAN), über den Kandidaten der PRI, Francisco Labastida. Die PAN wurde von der Wall Street unterstützt, da sie versprochen hatte, die mexikanische Wirtschaft zu deregulieren, die bereits durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen stark mit dem Rest von Nordamerika integriert war. Die WSWS erklärte in einer Analyse der Wahl, dass das Ende der Einparteienherrschaft der PRI den Zusammenbruch ihrer bürgerlich-nationalistischen Perspektive einer isolierten nationalen Entwicklung, und der Unterdrückung der akuten sozialen Widersprüche in Mexiko bedeutete.

Die weltweite Wirtschaftskrise verursachte politische Schocks, die noch in den entferntesten Pazifikinseln spürbar waren. Auf den Fidschi-Inseln wurde die Labour-Regierung von Premierminister Mahendra Chaudry durch einen Putsch gestürzt. Die australische Regierung unterstützte die Militärintervention, um ihre beträchtlichen wirtschaftlichen und strategischen Interessen in dem Pazifikstaat zu schützen. Die Gewerkschaften der Fidschi-Inseln, die die Labour-Regierung unterstützten, hinderten die Arbeiterklasse daran, Widerstand gegen den Militärputsch zu leisten.

Der israelische Ministerpräsident Ehud Barak, US-Präsident Clinton und PLO-Führer Jassir Arafat
Boris Jelzin hängt Präsident Wladimir Putin die Amtskette um
Kunst, Wissenschaft und Zensur

Im Laufe des Jahres 2000 führte die WSWS eine bedeutende Kampagne gegen die politische Zensur von Filmen und Kunst. Sie begann als Reaktion auf das Vorgehen fundamentalistischer Hindus in Indien, die im Februar die Kulissen des Films Water im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh am ersten Drehtag zerstörten. Der Film war der letzte Teil einer dreiteiligen Reihe der Filmemacherin Deepa Mehta und dramatisierte die Unterdrückung von Witwen im modernen Indien.

Die Bharatiya Janata Party, die größte in der Regierungskoalition National Democratic Alliance, führte eine chauvinistische Kampagne gegen Mehta. Sie wurde verleumdet und erhielt Morddrohungen, weil sie angeblich Indien beleidigt und den Hinduismus angegriffen hatte. Die Regierung von Uttar Pradesh stellte sich hinter die fundamentalistischen Gangster, untersagte die Dreharbeiten und wies Mehta und ihr Team aus dem Bundesstaat aus.

Die World Socialist Web Site organisierte eine internationale Kampagne zur Verteidigung von Mehta und ihres Rechtes, den Film produzieren zu können. Die Kampagne gewann starke Unterstützung von international anerkannten Regisseuren, darunter Ken Loach und Mohsen Makhmalbaf, Independent-Filmemachern, Filmtechnikern, Künstlern, Festivalveranstaltern, Schriftstellern, Akademikern und Studenten. Sie stellte eine wichtige Gegenoffensive gegen die eskalierenden Angriffe auf demokratische Rechte und die Freiheit der Kunst in Indien und der Welt dar.

In Sri Lanka ging es um direkte politische Zensur der Regierung. Die Regierung von Präsidentin Chandrika Kumaratunga benutzte Notstandsregeln, die sie wegen des Bürgerkriegs mit der tamilischen Separatistenbewegung LTTE einführen konnte, um einen Antikriegsfilm zu verbieten. Der Film, Tod an einem Vollmondtag, von Prasanna Vithanage war ein verheerendes Porträt der Folgen des Krieges für ein Dorf in Sri Lanka. Die WSWS machte in Sri Lanka und weltweit auf das Verbot des Films aufmerksam, womit er ein beträchtliches Publikum gewann, und führte ein Interview mit dem Regisseur.

In den Vereinigten Staaten beteiligte sich der Kunstredakteur der WSWS, David Walsh, an einer Kampagne gegen die Zensur des Künstlers Jef Bourgeau, dessen Ausstellung zeitgenössischer Kunst vom Direktor des Detroit Institute of the Arts, im November 1999 geschlossen worden war. Bourgeau diskutierte mit der WSWS im Januar 2000 über seine Erfahrung. Dies führte zu einer lebhaften Debatte über Zensur, die Rolle von Museen und die Bedeutung zeitgenössischer Kunst.

Das Jahr 2000 war auch eines der Schlechtesten - was die Filmproduktion in Hollywood anging. Aber die WSWS weitete ihre Zusammenarbeit im Bereich der internationalen Kunst aus und berichtete über Filmfestivals in San Francisco, Toronto, Vancouver, Berlin und Singapur, wo unsere Kritiker mehrere wichtige und bewegende Filme von internationalen Regisseuren entdeckten. Ein Highlight des Filmfestivals in San Francisco war ein Interview mit dem bekannten iranischen Regisseur Abbas Kiarostami.

Die WSWS erweiterte außerdem ihre Berichterstattung über Wissenschaft und Technologie und veröffentlichte im ganzen Jahr über 60 Artikel. Die wichtigste wissenschaftliche Entwicklung im Jahr 2000 war wohl die Fertigstellung eines „ersten Entwurfs“ des Humangenom-Projektes, das riesige Auswirkungen auf die Medizin und das Studium der Evolution hatte. Die Vermessung des menschlichen Genoms zeigte das enorme positive Potenzial wissenschaftlicher Entwicklung.

Allerdings gab es auch im Bereich der Wissenschaft einen Kampf gegen politische Zensur, die sich am deutlichsten in der Vertuschung der BSE-Krise in Großbritannien zeigte. Im Oktober 2000 veröffentlichte die Phillips-Kommission, die die Labour-Regierung im Jahr 1997 eingesetzt hatte, einen Bericht über die Epidemie, die durch profitorientierte Methoden bei der Fütterung von Nutztieren entstanden war.

Die Kommission fand keinen Schuldigen für eine Katastrophe, die zum Tod von 180.000 Kühen und mehr als 160 Menschen geführt hatte. Die Menschen waren an einer neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben, einer tödlichen Krankheit, die das Gehirn zerstört und vermutlich durch den Verzehr von verseuchtem Rindfleisch verursacht wird.

In Kanada fand eine ähnliche Vertuschungskampagne statt, nachdem durch einen Ausbruch von E-Coli, in dem ländlich geprägten Gebiet Walkerton, mehrere Menschen gestorben und tausende infiziert wurden. Die WSWS erklärte, dass diese Tragödie das unausweichliche Ergebnis der reaktionären Deregulierungspolitik der konservativen Harris-Regierung in Ontario war, die vorsätzlich Ausmaß und Ursachen der Katastrophe verheimlicht hatte.

Eine Szene aus Deepa Mehtas Wasser
Internationales Komitee der Vierten Internationale

Im April 2000 stürmten die Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) den strategisch wichtigen Militärstützpunkt am Elefantenpass und stießen schnell auf die Halbinsel Jaffna vor. Dabei kreisten sie an der Nordspitze bis zu 50.000 srilankische Truppen ein. Unter starkem internationalem Druck musste die LTTE ihre Offensive beenden, aber das militärische Debakel führte in Colombo zu einer tiefen politischen Krise.

Präsidentin Chandrika Kumaratunga versuchte verzweifelt, ihre Regierung zu stärken und lud alle Parteien zu Gesprächen ein. Sie machte den beispiellosen Schritt, die SEP erstmals als offizielle Partei anzuerkennen, nachdem ihr dieser Status seit Jahrzehnten verweigert worden war. SEP-Generalsekretär Wije Dias schrieb einen Brief an die Präsidentin, in dem er die Einladung ablehnte und das Treffen als „vollständigen Betrug“ bezeichnete, dessen wahres Ziel es sei, „die Entscheidungen abzusegnen, die die Regierung längst getroffen hat, ihrer Politik Glaubwürdigkeit zu verleihen und Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges zu gewinnen.“

Dias‘ Warnung sollte sich als berechtigt erweisen. Sechs Monate später sah sich Kumaratunga gezwungen, eine vorgezogene Wahl abzuhalten, während in der Arbeiterklasse der Widerstand wuchs. Die SEP stellte in Colombo mehrere Kandidaten auf, die ein sofortiges Ende des Krieges, den Abzug aller Truppen aus dem Norden und Osten und einen gemeinsamen Kampf der Arbeiter forderten, um ihre Arbeitsplätze, ihren Lebensstandard und ihre demokratischen Rechte zu verteidigen.

Am 1. Mai veröffentlichte die WSWS erstmals Beiträge auf Tamilisch und ermöglichte so den tamilischen Lesern – mehr als 80 Millionen Menschen in Indien, Sri Lanka, Malaysia und Singapur und in der tamilischen Diaspora auf der ganzen Welt - Zugang zu den politischen und theoretischen Analysen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Die tamilische Seite stärkte den politischen Kampf der SEP Sri Lankas, die südasiatische Arbeiterklasse zu vereinen und die kommunalistische Politik zu bekämpfen, die der Bürgerkrieg in Sri Lanka provoziert hatte. Die SEP lehnte nicht nur den singhalesischen Chauvinismus der Regierung in Colombo ab, die für den Krieg verantwortlich war, sondern warnte auch davor, dass der tamilische Separatismus der Befreiungstiger von Tamil Eelam für die tamilischen Arbeiter und die Dorfarmut eine Katastrophe hervorrufen würde. 

Die tamilische Seite der World Socialist Web Site